Immer mehr niedersächsische Städte vervollständigen die Lehmstedt-Landkarte. Städte, mit denen man ein Stück deutscher Geschichte erleben kann, jener seltsamen Vor-Geschichte, als Deutschland aus lauter kleinen und kleinsten Fürstentümern bestand. Und auch Celle war einmal Residenzstadt des Fürstentums Lüneburg. Zumindest bis 1705. Das Schloss erzählt davon bis heute in seiner Pracht.
Das Schloss ist gleich Station Nummer 3 auf Florian Friedrichs Rundgang durch die Stadt an der Aller, die noch heute berühmt ist für ihren dichten Bestand an Fachwerkhäusern. Was im Fachwerkland Niedersachsen schon etwas heißen will. Und auch etwas heißt. Denn Fachwerk galt tatsächlich lange Zeit als armseliges Baumaterial. Da überstrich man sogar die bunten Giebel mit Tünche, um es zu verstecken. Aber: Das war einmal.
Heute beeindrucken die liebevoll restaurierten Häuser wieder. Und nur wer hart im Nehmen ist, verzweifelt nicht beim Anblick des Klotzes des Karstadt Kaufhauses. Relikt einer Zeit, in der westdeutsche Städteplaner das Alte oft genug verachteten und glaubten, mit modernen Klötzern unbedingt Zeichen setzen zu müssen.
Aber fährt man denn nicht auch wegen Klötzern nach Celle? Ja, das tut man. Aber nicht wegen dieses Kaufhaus-Ungetüms, sondern wegen eines Mannes, der zu den markantesten Architekten der Bauhaus-Zeit gehört: Otto Haesler, der in Celle eindrucksvoll demonstrieren konnte, dass die Grundsätze des Bauhauses zu beeindruckenden Ergebnissen führen können. Auf der Route, die Friedrich ausgewählt hat, liegen gleich mehrere von Haeslers Projekten: das ehemalige Warenhaus Freidberg (das freilich noch von Haeslers Anfangszeit in Celle erzählt, Nr. 10), die Siedlung Italienischer Garten (Nr. 22), die Altstädter Schule (Nr. 25), das Rektorenhaus (Nr. 26), das Direktorenhaus (Nr. 29), das Trüller-Haus (Nr. 31), die Haesler-Siedlung Georgsgarten (Nr. 38) und die Haesler-Siedlung Blumläger Feld (Nr. 39).
Man kann den Aufenthalt in Celle also ganz problemlos auch als Bauhaus-Rundgang gestalten und unter Nr. 39 (Blumläger Feld) sogar noch ein richtiges Haesler-Museum besuchen. Freilich kann man sich dort auch mit den Sorgen der Wohnungsgenossenschaft beschäftigen, die versucht, diese Kleinode der Baugeschichte nicht nur zu retten (auch an Bauhaus nagt der Zahn der Zeit), sondern auch nutzbar und bezahlbar zu halten für die Mieter. Was im Jahr 2019 deutlich schwerer ist als im Jahr 1927, als Haesler die Siedlung plante und dabei lauter pfiffige Ideen entwickelte, die Baukosten zu senken.
Im eigentlichen alten Celle hat man es dafür mit einer 400 Jahre älteren Baukultur zu tun, die in den wichtigsten Straßen nicht grundlos auch nach Reichtum aussieht. Die Stadt kontrollierte jahrhundertelang den Getreidehandel auf der Aller, der erst in dem Moment nicht mehr lukrativ war, als die Elbe zwischen Magdeburg und Hamburg zur direkten Konkurrentin wurde. Und in diesem alten Celle waren – wie könnte es anders sein – natürlich auch ein paar Leute zumindest zeitweise zu Hause, die heute noch einen berühmten Namen haben.
Angefangen mit Albrecht Daniel Thaer, mit dem der Rundgang tatsächlich beginnt, dem Mann, der im späten 18. Jahrhundert die Agrarwissenschaft begründete. Das Celler Denkmal des berühmten Mannes, der in Celle als Apotheker begann, aber im Gärtchen hinter dem Haus seine ersten Versuche machte und bei Celle auch die erste landwirtschaftliche Versuchsanstalt aus der Taufe hob, ähnelt natürlich dem Leipziger Denkmal an der Moritzbastei: Es ehrt den Lehrer in Thaer, das, was Generationen bewundern, weil es augenscheinlich so verdammt selten ist: die Fähigkeit, vernünftige Gedanken so zu vermitteln, dass Politiker und Landwirte gern davon lernen und Reformen wagen.
Fehlen heute die Thaers? Man könnte es fast vermuten.
Erst nach diesem kurzen Thaer-Besuch geht es ins Schloss mit seiner beeindruckenden Schlosskapelle, dem barocken Theatersaal und der erhaltenen Schlossküche.
Und natürlich den vielen Geschichten aus Celles Residenzzeit, die sich nicht nur mit allerlei Wilhelms und Ernsten beschäftigen. Oder mit Otto dem Großmütigen, der nur zu gern Ritterturniere auf der Stechbahn in Celle veranstaltete (die es heute noch gibt), sondern dort auch schwer verwundet wurde, Opfer seiner turnierenden Ritterlichkeit. Ein Hufeisen erinnert an ihn. Aber noch viel berührender sind die (Schloss-)Geschichten um die verbannte Kurprinzessin Sophie Dorothea (deren Geliebter „spurlos verschwand“), oder ihre berühmte Mutter Eleonore d’Olbreuse, Hugenottin aus französischem Adel und erst Mätresse, dann Herzogin in Lüneburg. Nicht zu vergessen die ebenso durch einen Seitensprung unglücklich gewordene Caroline Matilde, Königin von Dänemark, Schwester Georgs III., König von England und Hannover, der ihr die Zuflucht in Celle ermöglichte. Ihr Liebhaber, der berühmte Leibarzt Struensee, ward hingerichtet.
Aber wer in die Lüneburger Heide fährt, erwartet natürlich auch einem Mann zu begegnen, ohne den es die Lüneburger Heide als Sehnsuchtsort gar nicht gäbe: Hermann Löns. Natürlich weilte auch der mal in Celle. Genauso wie der jung verstorbene Dichter Ludwig Hölty, Mitgründer des Göttinger Hainbundes. Wer freilich nicht in Celle wohnte, war ein gewisser Arno Schmidt, nach dem ein ganzer Platz benannt wurde, natürlich der Platz vor der Stadtbibliothek. Wo denn sonst?
Tatsächlich lebte der Autor von „Zettels Traum“ im nahen Bargfeld. Einen Ausflug dorthin hat Friedrich zwar nicht vorgesehen, aber dafür empfiehlt er am Ende einen Abstecher ins Kloster Wienhausen. Und einen in die Gedenkstätte Bergen-Belsen, wo auch Anne Frank zu Tode kam. Ein nachdenklicher Ausklang für diesen Ausflug, der auch daran erinnert, was für Unheil Chauvinismus, Arroganz und Nationalismus über die Völker bringen.
Es scheint so überhaupt nicht zu passen zu dieser liebenswerten Residenzstadt nebenan. Und so fährt man davon mit widerstreitenden Bildern im Kopf.
Florian Friedrich Celle an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2019, 5 Euro.
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