Weimar 1919. Wissen wir nicht lรคngst alles darรผber? Gibt es da รผberhaupt groร etwas zu wissen? Ist nicht alles historisch fertig bewertet und eingetaktet? Aber von wem eigentlich? Geschichte ist eben meist doch nur das, was die spรคteren Deuter hineinlesen. Und viel zu selten sind solche Historiker wie Jรถrg Sobiella, die sich einfach mal in die ganze Geschichte hineingraben wie Archรคologen. Und dann ein Drama enthรผllen, das nicht einmal die Zeitgenossen sehen konnten.
Es ist, als hรคtte Sobiella ein Kamerateam losgeschickt, einfach mal live dabei zu sein, wenn sich die am 19. Januar 1919 gewรคhlten Abgeordneten der Nationalversammlung in der thรผringischen Kleinstadt Weimar zusammensetzen und in acht Wochen eine Verfassung aus dem Boden stampfen, eine Regierung wรคhlen und den Friedensvertrag mit den Alliierten unterzeichnen โฆ
Und schon da weicht die Geschichte vom vorgezeichneten Pfad ab. Aus den angedachten acht Wochen wurde รผber ein halbes Jahr. Und noch viel zรคher liefen die Friedensverhandlungen in Paris, an denen die Deutschen nicht teilnehmen durften. Und das, obwohl sie die wichtigste Bedingung aus den Friedensbedingungen des amerikanischen Prรคsidenten Woodrow Wilson erfรผllt hatten: Der Kaiser war entmachtet, die Monarchie abgeschafft. Die ersten wirklich gleichen Wahlen hatten jenen Parteien die Mehrheit verschafft, die Demokratie und Verfassung unterstรผtzten.
Beides fand parallel statt: die Tagung der Nationalversammlung im just am 19. Januar auch zum Nationaltheater umbenannten alten Hoftheater von Weimar und die riesige Friedenskonferenz in Paris. Und da ist man schon mittendrin in der Gleichzeitigkeit, die Historiker meist so schlecht ins Bild rรผcken kรถnnen. Selbst die groรen Bรผcher zum Herbst 1918 und der deutschen Revolution leiden meist darunter. Die Forscher haben eine Idee, eine rote Linie. An der entlang erzรคhlen sie.
Geschichte wird zur Einbahnstraรe, zu einem geradlinigen Exkurs von A nach B. Der โRestโ bestenfalls Stรถrfeuer. Ganz so, als hรคtten die Helden der Inszenierung von Anfang an einen Fahrplan, so wie die Helden in den platten Fabeln von Action-Filmen aus Hollywood. Jetzt mรผssen sie sich nur noch durchkรคmpfen. Und da alle wissen, wie die Sache endete, fixiert sich alle Aufmerksamkeit auf die Cleverness der Helden: Wie haben sie das gemacht?
Das aber ist das falsche Bild von Geschichte.
Es braucht etwas, was Journalisten mitbringen, die erstaunlicherweise tatsรคchlich oft die besseren Geschichtenerzรคhler sind. Und Sobiella ist auch ein erfahrener Journalist. Er hat sich die Geschichte mit Weimar wie ein Journalist vorgenommen. Natรผrlich hat er kein Fernsehteam hinschicken kรถnnen. Er musste selbst in die Archive. Und es gibt einige davon: die groรen Bucharchive mit den Biografien und Autobiografien jener Berรผhmten und weniger Berรผhmten, die dabei waren, als Abgeordnete, als Sekretรคre, Soldaten, Beobachter.
Es gibt die Parlamentsprotokolle aller 85 Sitzungen, bis zur letzten an jenem 21. August, als Friedrich Ebert endgรผltig zum Reichsprรคsidenten gewรคhlt wurde. Es gibt die Tagebรผcher von Beteiligten und Beobachtern im deutschen Tagebucharchiv. Und es gibt die Zeitungen aus dieser Zeit. รber 3.000 Tageszeitungen erschienen damals in Deutschland, und viele verรถffentlichten nicht nur die Sitzungsprotokolle aus Weimar, sondern kolportierten auch Gerรผchte, schrieben Kommentare, versuchten sich aus โihremโ Weimar ein Bild zu machen.
Und schnell merkt man: Was die Leser dieses Buches in einer unglaublichen Dichte und Plastizitรคt erleben, hat kein einziger Zeitgenosse so jemals erfahren. Es ist ein frappierendes Phรคnomen, aber es beschreibt, wie wir alle Geschichte erleben. Jeder von uns. Selbst Prรคsidenten, Kanzler, Fraktionsvorsitzende, Korrespondenten, Generรคle und Bรผrgermeister. Jeder sieht nur einen winzigen Ausschnitt des Ganzen. Und wer jetzt denkt: Na ja, mit meinem Smartphone kriege ich doch alles mit, was in der Welt passiert, der irrt sich. Der vergisst, dass auch sein Nachrichtenkosmos durch Algorithmen vorgefiltert ist. Er bekommt nur zu sehen, was zu seiner Weltwahrnehmungs-Blase gehรถrt. Nur eben mehr davon, mehr vom Gleichen. Nicht wissend, ob es wirklich alles wichtig ist, ob es irgendeine Rolle spielt in dem riesigen Prozess, aus dem dann das entsteht, was wir so flapsig Geschichte nennen.
Und 1919 war das alles natรผrlich noch ein bisschen verschรคrfter. Ein Thema, das Sobiella natรผrlich auch beleuchtet. Das einzige Medium, รผber das sich die damaligen Deutschen รผber (Welt-)Politik informieren konnten, war die Zeitung. Selbst das Radio war noch nicht so weit, dass es hier mit โLive-Berichterstattungโ in die Bresche springen konnte. Telefon, Telegraph und Funk gab es schon. Und die provisorische Regierung gab sich alle Mรผhe, im abgelegenen Stรคdtchen Weimar mรถglichst moderne und leistungsfรคhige Kommunikationstechnik aufzubauen.
Was ihr auch gelang, und was trotzdem nicht ausreichte. Denn obwohl Weimar fรผr die Deutschen so eminent wichtig war, war es nur ein kleiner Nebenschauplatz neben der groรen โWeltgeschichteโ, die in Paris passierte, wo von Wilsons Friedensplan wenig รผbrig blieb, so wenig, dass das Entsetzen in Deutschland im Mai 1919, als bekannt wurde, welche Bedingungen die Alliierten Deutschland diktierten, entsprechend groร war.
Natรผrlich waren trotzdem hunderte in- und auslรคndischer Reporter in Weimar, gerade an jenen Tagen, an denen die Parlamentssitzungen einen berichtenswerten Hรถhepunkt hatten, so wie die berรผhmte 41. Sitzung am 23. Juni, als klar war, dass die Alliierten nur die Unterzeichnung der kompletten Friedensbedingungen akzeptieren wรผrden, und als zumindest den nรผchternen Parlamentariern klar war, dass Deutschland gar keine Wahl hatte, als jetzt zu unterzeichnen.
Das Ultimatum lief. Und der Leser fiebert mit, denn bis die nรถtige Mehrheit fรผr ein โJaโ beisammen war, vergingen Stunden, wechselten ganze Fraktionen ihre Meinung, gerieten gerade die Demokraten und das Zentrum, die beiden Koalitionspartner der SPD, unter Druck. Der erste Ministerprรคsident der Republik, Philipp Scheidemann, war lรคngst mit seinem Kabinett zurรผckgetreten, weil er sich viel zu frรผh auf ein โNeinโ festgelegt hatte.
Auf einmal agiert der Zentrums-Abgeordnete Matthias Erzberger mitten im Fokus der Kamera. Man sieht ihn ringen und kรคmpfen fรผr das โJaโ seiner Fraktion. Und man weiร, dass dieser erfahrene Politiker weiร, dass er damit fรผr alle Zeiten zur Zielscheibe der Reaktionรคre wird, die in der Nationalversammlung auch vertreten sind. Das vergisst man so oft. Und die Parlamentsprotokolle belegen, dass sie von ihrem Denken und Wollen keinen Hehl machten. Nicht einmal in dieser Debatte, als es um die Unterzeichnung des Friedensvertrages ging. Da arbeiteten sie auf offener Bรผhne schon an ihrer Rolle derer, die sich hinterher brรผsten konnten, nicht zugestimmt zu haben.
Dieser 23. Juni bringt das ganze Konfliktfeld dieser noch unfertigen Demokratie konzentriert ins Bild. Bis hin zu jener Haltung, die am Ende das Regieren in der Weimarer Republik praktisch unmรถglich machen sollte. Denn um sich zu profilieren, riskierten einige Parteien nur zu gern das Scheitern auch der eigene Koalitionsregierung, die von ganz rechts und ganz links auรen sowieso schon unter Feuer stand. Sobiella findet auch fรผr den Kleingeist Eberts und seiner Genossen da und dort deutliche Worte. Denn nach รผber 40 Jahren in der Opposition des Reichstages war natรผrlich auch in der SPD niemand auf die รbernahme der Regierungsgeschรคfte vorbereitet. Das war bis zum Oktober 1918 schlicht jenseits des Vorstellbaren gewesen.
Und trotzdem rieben sich diese so ungenรผgenden neuen Regierenden auf. Selbst Gustav Noske (โeiner muss der Bluthund seinโ) sieht man verzweifelt durch Weimar eilen, weil auf einmal die Drohung des Militรคrs im Raum steht, zu putschen, wenn dem Friedensvertrag zugestimmt wird. Und gleichzeitig eilt selbst General Maercker durch Weimar, um bei den Fraktionen fรผr ein โNeinโ zu werben โ oder besser: Stimmung zu machen. Dabei hatte ihn Noske nach Weimar beordert, um mit seinen Truppen die Nationalversammlung zu beschรผtzen. Waren die alten Generรคle tatsรคchlich bereit zu putschen? Im Juni 1919 jedenfalls putschten sie noch nicht.
Puzzlestein um Puzzlestein trรคgt Sobiella zusammen, um dieses Weimar im Winter und Frรผhjahr 1919 lebendig werden zu lassen. Er lรคsst auch die Weimarer selbst die Bรผhne betreten โ ihren Bรผrgermeister Martin Donndorf und August Baudert, den โFriedrich Ebertโ von Weimar. Man landet mit den Abgeordneten nach den langen Sitzungsmarathons in den verrรคucherten Gaststรคtten der Stadt, schnappt aber auch mit den weiblichen Abgeordneten, die es nun erstmals auch gab, frische Luft im Park an der Ilm. Man erlebt die Frauen aber auch am Rednerpult. Zum Glรผck haben die Reporter dann und wann einfach auch eifrig geschildert, was sie hรถrten und sahen, richtig Stimmung eingefangen und den ganz und gar nicht farblosen Abgeordneten eindrucksvolle Szenen gegeben.
Oft genug natรผrlich in sehr parteilicher Absicht. Denn nur wenige der damaligen Zeitungen โ wie die โVossischeโ โ bemรผhten sich um etwas, was man Objektivitรคt nennen kรถnnte. Die meisten Zeitungen dieser Zeit vertreten unverhohlen Parteiinteressen. Und auch hier sitzt die fatale Zukunft mit im Parlament โ mit dem erzkonservativen Abgeordneten Alfred Hugenberg, der sich 1916 sein Zeitungsimperium zusammengekauft hatte und der allen seinen Blรคttern jetzt einen radikal nationalistischen Anstrich verpasste. Er sollte mit seiner gewaltigen Zeitungsmacht dafรผr sorgen, dass die Nazis in der Weimarer Republik groร werden sollten. Denn er verachtete die Republik. Und die Kommentatoren in seinen Zeitungen taten es auch. Sie gossen ungehemmt ihre Schmรคhungen aus รผber die Republik und ihre Vertreter.
Und das kommt einem dann doch verblรผffend bekannt vor. Genau so benehmen sie sich heute wieder.
Und wieder leben Deutsche in ihren Informationsblasen, befรถrdert von Algorithmen, die das Boshafteste und Gemeinste im Menschen befรถrdern. Gerade weil Sobiella heute die Mรถglichkeit hat, aus Zeitungen unterschiedlichster Couleur zu zitieren, wird deutlich, wie sehr die Leser dieser Zeitungen damals in ihrer Informationsblase gelebt haben mussten. Und wie es wirkt, wenn man Millionen Menschen mit einseitiger Berichterstattung auch zur politischen Schwungmasse macht. Etwas, was sich ja im Verlauf der Weimarer Republik nicht mehr รคndern sollte. Mit gedruckter Unversรถhnlichkeit kann man auch sonst friedfertige Menschen mit Hass und Aggression impfen. Sie ahnen nicht mal, wie sehr sie genasfรผhrt werden und wie wenig sie wirklich wissen.
Aus Briefen und Tagebรผchern destilliert Sobiella die konkreten Lebens- und Arbeitsumstรคnde in Weimar. Die Nationalversammlung tagte ja mitten in einer Zeit, in der โ auch aufgrund der englischen Seeblockade โ fast alles knapp war, von den Kohlen bis zum tรคglich Brot. Auch das Bedrรผckende auch dieser Versammlung. Der Friedensvertrag musste her, damit das Land รผberhaupt wieder aufatmen konnte. Das Theater war notdรผrftig zum Parlament umgebaut worden. Die Regierung tagte gleich hinter der Bรผhne in Wagnerkulissen, Umkleiderรคume waren zu Fraktionsrรคumen umgewidmet worden. Wer aber mal unter Kollegen reden oder nur einmal ausruhen wollte, der landete unweigerlich im Foyer. Aber selbst eine Telefonzentrale war installiert worden.
Es ist nicht nur die gesellschaftliche Begegnung von Gestern und Morgen, die Sobiella zeichnen kann. Auch das technisch moderne Deutschland taucht hier auf โ sogar mit der ersten Luftpostlinie, beflogen von einem alten Kriegsfliegeroffizier. Dafรผr sieht man kaum Autos. Die Abgeordneten mussten mit (Sonder-)Zรผgen anreisen, die oft riesige Umwege fahren mussten, weil irgendwo unterwegs entweder gestreikt wurde oder einer der blutigen Kรคmpfe entbrannte, deretwegen man das Parlament ja extra aus Berlin herausverlegt hatte. Das Gespenst des bolschewistischen Umsturzes wรผrde immer wieder aufflackern. Dieses Parlament tagte in keiner friedlichen Zeit. Und natรผrlich fragt man sich immer wieder: Musste Noske deshalb trotzdem diese unheilige Allianz mit den Freikorps eingehen? Die damit eine unheimliche Macht gewannen und die auch nicht zimperlich waren, wenn sie einen der aufflackernden Aufstรคnde in Blut erstickten.
Man weiร ja โ weil man ja im Nachhinein alles besser weiร โ wie schwer die Hypotheken dieser Frรผhzeit die Weimarer Republik belasteten. Aber man sieht mit Sobiellas vielen Augen auch, wie Mรคnner und Frauen dieses wirklich frei gewรคhlten Parlaments sechs Monate lang ernsthaft miteinander arbeiteten, ein Ernst, der die damaligen Beobachter oft genug frustriert haben muss. Denn wenn sich Politik versachlicht und zur zรคhen Ausschussarbeit eines Parlaments wird, dann erst wird sichtbar, was Politiker tatsรคchlich machen, wie sie รผber Inhalte und Form von Gesetzen streiten, wohl wissend, dass diese Gesetze dann zur โlebendigen Gewaltโ werden und das Leben der Menschen bestimmen.
Und Sobiella erzรคhlt dabei natรผrlich auch, was selbst heutige Politikkommentatoren augenscheinlich nicht sehen wollen: Wie gerade ein demokratisch gewรคhltes Parlament zu Kompromissfindungen gezwungen ist, sodass am Ende kein Gesetz mehr den klaren Geist des Anfangs atmet, sondern regelrecht eingehegt ist, gezรคhmt.
Genau der Vorgang, den die Rechtsradikalen in Deutschland immer verachtet haben. Daher kommt ja ihr ganzes Geschrei รผber die โAltparteienโ, obwohl sie selbst die รคlteste Partei sind: die Partei der Ausbeuter, Junker, Kriegsverherrlicher, die immer wieder behaupten, es brauche nur einen โstarken Mannโ, einen โauserwรคhlten Fรผhrerโ, und dann wรคre Schluss mit dem โGezรคnkโ. Also mit dem demokratischen Streit um das Mรถgliche.
Diese รberhebung ist ja heute wieder da. รberhaupt erzeugt Sobiellas komplexe Erzรคhlung รผber diese sechs Monate in Weimar so manches Dรฉjร -vu. Auf einmal sieht man die Gegenwart Deutschlands im Jahr 2019 gespiegelt in diesem konfliktreichen Beginn, samt der ganzen nur zu vertrauten Selbstverleugnung der SPD, die sogar auf ihre lodernsten Ziele verzichtet, nur um den Frieden zu wahren und die Republik zu retten. Aber leider auch mit der ganzen Rรผcksichtslosigkeit der Rechtsradikalen, die von ihrem Preuรentum und ihrer tiradenstarken Opferrolle nicht lassen kรถnnen.
Man liest ja die Weimarer Republik auch von diesem Zerstรถrungsrausch der Rechtsradikalen her, die โ wie wir heute wissen โ auch in der fรผnften und sechsten Generation nicht lernfรคhig sind. Sobiellas szenenreiche Reportage aus dieser kleinen thรผringischen Stadt im Jahr 1919 zeigt, wie sie schon damals alles taten, um die gerade entstehende Republik zu bekรคmpfen. Sie zeigt aber auch, wie ernsthaft sich gerade Sozialdemokraten, Demokraten und Zentrumsabgeordnete in die zermรผrbende parlamentarische Arbeit stรผrzten, die so รผberhaupt nicht mehr nach Revolution aussah, geradezu kleinbรผrgerlich, wie Sobiella schreibt.
Jahrzehntelang schauten Historiker regelrecht aus kรถniglicher Hรถhe herab auf diese kolportierte Tristesse, die auch ein wenig damit zu tun hat, dass Leuten wie Friedrich Ebert Pomp und Feierlichkeit eigentlich nicht lagen. Sodass dann die deutsche Republik eher wie das Produkt zรคher Ausschussverhandlungen wirkt, samt der Verfassung, auf die die Kostverรคchter ebenso gern herabschauen, obwohl Ebert und seine Mitstreiter natรผrlich recht hatten, wenn sie diese Verfassung neben die besten Verfassungen anderer Staaten stellten und sie fรผr eine der besten hielten.
Nicht die Menschenrechte und Grundrechte, die diese Verfassung gewรคhrte, bedeuteten den Niedergang der Weimarer Republik, sondern die von den Erzkonservativen genutzten Sonderrechte des Reichsprรคsidenten, mit denen unter Hindenburg eine Regierung um die andere in ihrer Arbeitsfรคhigkeit gestรถrt wurde. Natรผrlich setzt Sobiella auch ein paar wichtige Streiflichter in die Zukunft dieser Republik, die so ganz ohne Pomp und Applaus entstand, aber trotzdem mit dem Herzblut und der รberzeugung vieler Menschen in einer Zeit zum Leben erweckt wurde, in der diese noch gar nicht existierende Republik schon wieder von drei Seiten unter Beschuss stand.
Und als die Friedensbedingungen von Versailles dann bekannt waren, ahnten die klรผgsten Kommentatoren der Zeit natรผrlich, dass in dieser gewollten Demรผtigung schon der nรคchste groรe Krieg lauerte und dass der Frieden von Versailles eben nicht die alten Kriegstreiber traf, sondern zur schwersten Hypothek fรผr die gefรคhrdete deutsche Republik wurde.
Aber da man auch einige sehr atmosphรคrische Ausflรผge nach Paris mitmacht, sieht man auch diese Seite der Entwicklung: Die Unmรถglichkeit der einst von Deutschland รberfallenen, das alte Kaiserdeutschland von diesem neuen, nach einem demokratischen Weg suchenden Deutschland zu trennen. Was auch damit zu tun hat, dass viele der Abgeordneten in der Nationalversammlung auch schon im alten Reichstag gesessen hatten.
Womit ja eine uralte Frage steht: Kann denn aus dem Alten das Neue erwachsen? Braucht eine Republik nicht ein vรถllig neues Personal? Oder sind Menschen lernfรคhig, kรถnnen aus Mitlรคufern echte Republikaner werden? Gar glรผhende Demokraten, die bereit sind, auch mit ihrer Person und ihrem Leben einzustehen fรผr das Neue?
Ganz am Ende des Buches erzรคhlt Sobiella noch ein paar Schicksale der damals Mitwirkenden, von denen etliche frรผh starben (wie Ebert) oder umgebracht wurden (wie Erzberger und Rathenau), oder dann mit dem Triumph der Nazis (die Hugenberg gleich mal als Minister mit in ihr Kabinett aufnahmen) ins Exil gehen mussten oder in KZ und Zuchthaus gesperrt wurden.
Aber gerade weil Sobiella diese sechs Monate im kleinen Weimar so facettenreich malt, wird etwas deutlich, was man beim โGenussโ heutiger Sender und Zeitungen kaum wahrnimmt: Was fรผr ein Drama dieses Parlament von Weimar war, wie viele Schicksale sich hier begegneten und wie lauter Frauen und Mรคnner, die im alten Kaiserreich nicht mal nach ihrer Meinung gefragt worden wรคren, jetzt die Zukunft eines Landes in die Hand nahmen und gestalteten, das bislang immer nur die Arroganz der Mรคchtigen gekannt hatte und selbst den Reichstag nur als โSchwatzbudeโ behandelten. Ein Tonfall, den die Hugenberg-Blรคtter auch gleich mal auf die Nationalversammlung anwendeten. Der neuen Republik blieb so gut wie nichts erspart. Und es entstanden die seltsamsten Allianzen, um diese Republik nicht gleich wieder scheitern zu lassen. Und am Ende schaffte sie es, 14 Jahre durchzuhalten.
Und die wichtigste Arbeit dafรผr leisteten die Abgeordneten in diesem kleinen Weimar, von dem einige Heimattรผmler am Ende glaubten, die Nationalversammlung hรคtte dem kleinen Stรคdtchen geradezu die Unschuld geraubt. Die Nazis glaubten gar, den Begriff โWeimarer Republikโ mit lauter Verรคchtlichkeit aufladen zu kรถnnen. Doch nun sieht man mit den vielen Menschen, die Sobiella auftreten lรคsst, was fรผr ein tapferes und gefรคhrdetes Beginnen dieses Weimar war, wie sehr viele kleine dramatische Szenen den ganzen Einsatz der Beteiligten forderten und wie dennoch die demokratisch Gesinnten bei der Stange blieben und die Sache zu einem guten Ende brachten, zu einer Verfassung, die sich sehen lassen konnte, und einer Regierung, die zum ersten Mal in der deutschen Geschichte wirklich demokratisch gewรคhlt war. Und gerade deshalb fortan unter Dauerbeschuss der Republikfeinde stand.
Jรถrg Sobiella Weimar 1919, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 25 Euro.
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