Es ist so viel über ihn bekannt. Und gleichzeitig so wenig. Und so wird auch kurz vor seinem 500.Todestag gerätselt über das Rätsel Leonardo da Vinci. Obwohl der Mann wohl gar kein Rätsel war. Nur ein Junge, der glücklicherweise einen sorgenden Großvater hatte und eine Kindheit voller Anregungen, die seinem Gehirn das gegeben haben, was ein hochbegabtes Gehirn braucht: Futter, Futter, Futter. Eine Erkenntnis, mit der sich auch das biedermeierliche Deutschland von 2019 schwertut.

Was wohl auch damit zu tun hat, dass hochbegabte Menschen selten bis nie in die Politik gehen. Und so bleibt das Feld der menschlichen Gesellschaftsverwaltung ein Tummelplatz der Karrieristen, Bürokraten und Bevormunder. Und von Bildungsministern, die nicht mal wissen, was sie tun. Nicht einmal ahnen, was sie anrichten. Was freilich nur all jene mit Beklemmung spüren, die hochbegabt sind und lebenslang behindert werden. Gehindert daran, ihr Gehirn wirklich zu nutzen mit all seinen Kapazitäten.

Denn das Schlimme bei den mittelmäßigen Ein- und Aussortierern ist: Es ist für Begabte wahnsinnig anstrengend, sich auf ihr Tempo und ihre Verständnislosigkeit herunterzudimmen. Und da ist man beim privaten Leben Leonardos, über das praktisch nichts bekannt ist. Über das man nur über Briefe und Aktenfunde etwas mutmaßen kann. Oder über die Andeutungen Giorgio Vasaris, der vor Staunen über diesen Leonardo den Mund nicht mehr zu bekam.

Mit diesem ersten Da-Vinci-Biografen beginnt das bis heute anhaltende Rätseln, werden dicke Bücher über die unvollendeten Gemälde des Mannes geschrieben, die zu seiner Zeit schon Sensation waren. Andere versuchen, seine Erfindungen nachzubauen, versuchen seine Skizzenblätter zu entschlüsseln, immer auf der Suche nach dem Geheimnisvollen im Genie.

Obwohl es kein Geheimnis gibt. Auch Hagen Kunze kommt in seinem Schnelldurchlauf durch Leonardos Leben an diesen Punkt, in dem der Forscher Leonardo sichtbar wird, der Mann, dessen Gehirn nicht ruhen konnte, sondern immerfort am Knobeln und Herausfinden war. Am Entschlüsseln einer Welt, die der Junge aus Vinci als Erster unter vielen, die ihm nachfolgen sollten, als völlig entschlüsselbar verstand. Für ihn war die Welt ein Buch, das man lesen lernen konnte, wenn man erst einmal die Grundprinzipe begriff, nach der sie funktionierte.

Und mittlerweile ist es auch unter Kunsthistorikern akzeptiert, dass seine wenigen Bilder nicht deshalb so frappieren, weil dieser Leonardo ein Maler-Genie war, sondern weil er wie kein anderer seine vielen berühmten Zeitgenossen auch das Malen als ein Begreifen der Welt verstand. Bis hin zum Lächeln der Mona Lisa, an der der alte Leonardo wohl zehn Jahre lang malte. Und nicht loslassen konnte.

Mag sein, dass es mit der Vorstellung zu tun hatte, mit der er an die Erschaffung eines Bildes ging, dem er sich konzentriert und überlegt immer weiter annäherte, wenn er malte. Schon diese Vorstellungskraft zeichnete ihn wohl damals auch gegenüber den anderen Talentierten aus. Und auch seine Skizzen erzählen davon: Er konnte sich das alles vorstellen – bis hin zum fliegenden Menschen. Und die Konstruktionsskizzen zeigen, wie er sich der Lösung der Sache immer mehr annäherte.

„Die meisten Probleme entstehen bei ihrer Lösung.“ Diesen herrlichen Leonardo-Satz stellt Kunze dem Büchlein voran. Und der trifft es wohl auch am genauesten. Gerade weil es vom üblichen Lern-Schema unserer Schulen abweicht, abweichen muss. Hier geht einer ganz offensichtlich nicht Schritt für Schritt für Schritt, um dann am Ende vielleicht die richtige Lösung zu bekommen. So, wie es die meisten tun. Sondern er sieht das Mögliche, skizziert es mit kühnem Schwung. Und da es in seiner Zeit für all diese Dinge noch keine fertigen Lösungen gibt, ist jede Idee eine Herausforderung, die den Forschenden dazu treibt, jetzt die Lösungen für das Problem zu suchen.

So ein Mann wird kein braver Höfling oder Auftragsmaler. Kann er gar nicht. Mit jedem Projekt sprengt er den Rahmen – und vieles scheitert, weil er beim Forschen Fehler macht. Fehler, die ihn weiterbringen, weil sie ihn herausfordern. Weil er eben noch nicht genug weiß. Gerade deshalb wirkt der Mann heute noch immer so modern. Es ist nicht seine Malkunst, die modern ist, sondern seine Art zu denken. Die immer ein Denken des Möglichen ist, der Suche nach funktionierenden Wegen, eine Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Und dabei auch zu wissen, wo gesucht werden muss. Schon wenn man das formuliert, merkt man, wie sehr wir heute hinter dieser Welthaltung hinterherhinken, wie sehr die Verhinderer, Verunmöglicher und Nicht-verstehen-Woller unsere Gesellschaft dominieren.

Wir sind Lichtjahre weit entfernt von einer Gesellschaft der Wissenden und Forschenden. Im Gegenteil: Alles wirkt wie ein Rückschlag in trübste, dümmste und bigotteste Zeiten. Frei nach dem Motto: Wir haben auch die Freiheit, dumm, blind und unwissend zu sein und den größten Blödsinn zu denken.

Und das 500 Jahre nach Leonardos Tod. Man könnte schreien. Und das, obwohl schon seine Zeitgenossen merkten, dass da einer unter ihnen war, der mit seiner Wissensbegier die geistigen Fesseln der Vergangenheit sprengte. Und es gab genug Zeitgenossen, die das auch zu würdigen wussten – bis hin zu den teils grimmigen Fürsten, denen er sich andiente. Selbst so eine aufs Wichtigste komprimierte Biografie zeigt, was an diesem Leonardo da Vinci zu entdecken ist, was bis heute fasziniert und warum man sein Rätsel nicht löst, wenn man in seine Bilder Geheimnisvolles hineininterpretiert.

Aber man kann mit seinen Bildern sehen lernen, auch dazu gibt Hagen Kunze Anregungen. Wer also erst mal keine Zeit hat, sich mit den dicken Büchern zu Leonardo zu beschäftigen, die in diesem Jahr erscheinen, kann mit diesem Westentaschenbüchlein beginnen. Und wer aufmerksam liest, macht eine Bekanntschaft, die man hinterher auf jeden Fall erweitern sollte. Denn das wird ziemlich deutlich: Dieser kluge Kopf aus Vinci ist der bis heute gültige Gegenentwurf gegen die Nichtswisser, die glauben, es gäbe alternative Wahrheiten und jeder Mumpitz stünde gleich gültig neben dem, was Forscher im Geiste Leonardos über 500 Jahre herausgefunden haben.

Die nicht zu überlesende Botschaft: Es lohnt sich, neugierig zu bleiben. Denn nur, wenn wir das Mögliche denken können, kommen wir auch hin.

Hagen Kunze Leonardo da Vinci, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2019, 5 Euro.

Leonardos Geheimnis: Das ruhelose Leben des Forschers und Malers Leonardo da Vinci

Leonardos Geheimnis: Das ruhelose Leben des Forschers und Malers Leonardo da Vinci

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar