Es ist ein berรผhrendes Buch. Es ist ein aufrรผttelndes Buch, eines, das nicht nur daran erinnert, dass der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow seit fรผnf Jahren nach einer falschen Anklage und einem Schauprozess ganz in alter stalinistischer Manier in einem russischen Straflager eingesperrt ist. Als Faustpfand oder als Symbol fรผr Putins Politik gegenรผber der Ukraine, das ist eigentlich egal. Zerstรถrt werden soll damit auch ein Mensch, der nicht ins Raster des eingeschรผchterten Untertanen passt.

Der Protest gegen die Verurteilung Senzows zu 20 Jahren Straflager hรคlt seit 2015 an. Damals war der bekannte Filmemacher wegen Bildung einer Terrorgruppe verurteilt worden. Beweise wurden augenscheinlich keine vorgelegt, die Aussagen seiner Begleiter wurden durch Folter erpresst. Der Grund, warum der auf der Krim geborene Filmemacher tatsรคchlich zum Ziel der russischen Justiz wurde: Er organisierte mit Freunden die Versorgung eingeschlossener ukrainischer Truppen, als Russland die Krim annektierte.

Da passt das Vorgehen gegen Senzow natรผrlich ins Muster. So kann der autokratische Prรคsident das ungehorsame Nachbarland auch psychisch quรคlen. Und den empรถrten Kulturschaffenden im Westen zeigt er, dass ihm Regeln und Menschenrechte egal sind. Und mit Senzow trifft es einen Menschen, der auch durch sein Leben und sein Wesen alles verkรถrpert, was Autokraten verachten.

Und genau davon erzรคhlen Oleg Senzows Geschichten aus seiner Kindheit in einem gottverlassenen Dorf nahe Simferopol auf der Krim, die natรผrlich, als Senzow 1976 geboren wurde, noch zum Sowjetimperium gehรถrte, sodass Senzow auch alle negativen Erfahrungen machen konnte, die man im sowjetischen Schulsystem machen konnte. Sein Pech: Er war hochbegabt. Und hochsensibel. Denn seine Geschichten erzรคhlen von etwas, womit sich die meisten Menschen nie im Leben beschรคftigen: Von der beschรคmenden Entdeckung, wie schwer es ist, sich im Leben immer respektvoll, verantwortlich und so zu verhalten, dass man seine Mitmenschen nicht beschรคmt.

Denn gelernt wird in einem Schulsystem, wie es Senzow erlebte (und das dem deutschen so fremd nicht ist), vor allem die Anpassung, das Duckmรคusertum, das Ja-Sagen und das Auswendiglernen. Und das โ€žVerschwinden in der Masseโ€œ. Wer auffรคllt, wer aus dem Rahmen fรคllt, wird schnell zum AuรŸenseiter. Selbst dann, wenn er wie Oleg eigentlich in seiner ganzen Kindheit versucht, dazuzugehรถren, so zu sein wie die anderen, wie die Raufbolde in seiner StraรŸe, die Kumpel, mit denen er FuรŸball spielt, Mutproben erlebt und ganze Tage im Wald verbringt. Es sind keine bedrรผckenden Kindheitsgeschichten, die er erzรคhlt, im Gegenteil: Er erzรคhlt von einer armen Kindheit, die trotzdem durchglรผht war von Licht und Abenteuer. Wer in so einem Dorf groรŸ geworden ist weiรŸ, was er meint. Schreibt er auch selbst. Er wรคre gern genau so gewesen wie seine Freunde.

Aber in der Schule erlebte er dann, was es heiรŸt, nicht mehr dazuzugehรถren und auch nicht mehr dazugehรถren zu kรถnnen, wie er ganz automatisch isoliert wurde, weil er keine Mรผhen hatte, den Lernstoff zu bewรคltigen, im Gegenteil: Der Stoff unterforderte ihn.

Aber das beklemmendste Erlebnis hatte er bei einem Krankenhausaufenthalt, als er tatenlos zuschaute, wie ein โ€žJunge aus gutem Hauseโ€œ sich รผber einen Jungen mit Downsyndrom lustig machte und ihn dazu aufstachelte, seine Sachen aus dem Fenster zu schmeiรŸen. Es ist ein Aha-Erlebnis, an das man sich ein Leben lang erinnert, weil es einen auch daran erinnert, dass man in einem wichtigen Moment nicht fertigbrachte aufzustehen und den Mund aufzumachen. โ€žWichtig ist etwas anderes: Dass ich seitdem nie wieder geschwiegen habe, wenn jemand gedemรผtigt wurde, und ich weiรŸ genau, dass ich auch in Zukunft nicht schweigen werde.โ€œ

Da ist er, der ganze Senzow. Und es ist genau der Senzow, den Russland mit der Verurteilung รถffentlich strafen und zermรผrben will. Und mit dem Autor natรผrlich das, was an der Ukraine mutig und aufrecht war und ist und sich der Anbiederung an den russischen Zaren widersetzt. Und man findet es ja nicht nur hier. Andere Autokraten ticken genauso. GroรŸe und kleine. Senzows kleine Geschichten hรคtten โ€“ vielleicht nicht ganz so armselig โ€“ auch in einem deutschen Dorf spielen kรถnnen, einem ostdeutschen auf jeden Fall. Auch hier flรผchteten die Mรคnner, wenn klar war, dass ihr Leben in der Sackgasse war, in den Alkohol. In Senzows Geschichten sterben die Mรคnner reihenweise sehr frรผh, auch Olegs Vater. Die Beerdigung seines GroรŸvaters erlebt er als Vierjรคhriger. Mit ihr begegnete er erstmals dem Tod. Aber auch seine Freunde sterben frรผh. Wer nicht in Armut und Suff zugrunde gehen will, der geht weg, versucht seine Trรคume anderswo zu verwirklichen.

Das ist in den kleinen russischen und ukrainischen Dรถrfern nicht anders als in den deutschen. Aber darum geht es in den Geschichten nicht mehr. Sie begrenzen sich auf Senzows Kindheit, den Ort, der ihn prรคgte und den er nun Geschichte um Geschichte seziert, weil er auch als Erwachsener und Vater zweier Kinder die Schuldgefรผhle nicht loswird, die sich mit vielen farbig erinnerten Szenen und Erlebnissen verbinden, in denen der Autor die Verhaltensweisen des Kindes zu verstehen versucht, auch wenn er sie nicht gut findet.

Aber er schaut hin, denn er will sich selbst verstehen, will wissen, warum sich der kleine Junge manchmal rรผcksichtslos oder einfach gleichgรผltig verhielt. Das thematisiert gerade die Geschichte mit seinem Hund, der fรผr ihn die Erfahrung bedingungsloser Liebe wurde โ€“ und den er dennoch immer seltener beachtete, weil anderes wichtiger schien. Ganz รคhnlich ist die Geschichte mit seiner GroรŸmutter, die lange Jahre im Haus der Familie lebte und die dennoch keiner mochte und die am Ende allein gelassen im Altersheim stirbt und ganz รคhnlich trostlos begraben wird wie Olegs Hund.

Wobei beide Geschichten nicht so wirken, als wรคren sie auf die Parallele hin geschrieben. รœberhaupt wirken Oleg Senzows Kindheitsgeschichten eher wie der Versuch, in der Spurensuche in der Kindheit sich selbst besser verstehen zu lernen โ€“ auch mit allen Fehlern und Schwรคchen. Das ist eigentlich der wรคrmste Unterton in allen Geschichten: dass man fรผr andere Menschen, egal, ob man sie mag oder nicht, erst Verstรคndnis entwickeln kann, wenn man sich selbst als fehlbar, unfertig und schwach erkennen kann.

Denn das meiste, was Olegs Freunde als Attitรผde der รœberlegenheit zelebrieren โ€“ bis hin zur Rudelbildung in der Klasse โ€“ ist ja nur der Versuch, nicht als schwach zu erscheinen, sondern als stark. Echte Kerle weinen nicht, zeigen keine Schmerzen, biedern sich aber auch nicht beim Lehrer an. Und wenn man Schule zum Kotzen findet, ist das natรผrlich eine Attitรผde der Ablehnung. Nur dass sie fรผr diese Kinder einen hohen Preis hat, denn wer es nicht herausschafft aus dieser Welt, der geht in ihr zugrunde, der stirbt frรผh.

Und deshalb verurteilt Oleg Senzow sie auch nicht. Er versteht sie ja nur zu gut. Er ist mit ihnen aufgewachsen und hat sich eine Kindheit lang bemรผht, immer dazuzugehรถren. Was eigentlich alle Jungen so machen, egal, wo sie Kind sind. Weshalb sie auch fast alle so werden, wie schon ihre Vรคter waren, und dieselben Attitรผden, Kraftmeiereien und Vorurteile durchs Leben tragen und vor allem alle Verรคnderungen durch die GroรŸkopferten als Angriff und Stรถrung verstehen.

Nur so als Anhalt zwischendurch: Es sind ganz einfache, sehr poetische Erinnerungen an eine lichtvolle Kindheit. Die Gedanken, die einem dabei kommen, schwingen nur mit, formen sich erst im Nachhinein, wenn man noch einmal fรผnf Minuten รผber das Schicksal all der Menschen aus Oleg Senzows Geschichten nachdenkt. Auf die Disziplinierungsversuche eines erstarrten Staates reagieren sie, indem sie sich geschlossen in Verweigerung รผben. Aber sie rebellieren nicht gegen die Macht, sondern lassen ihre Abscheu an den anderen Kindern aus, die nicht richtig so sind wie sie. Die anders sind. Und Begabtheit und die Leichtigkeit des Lernens gehรถren dazu. Sie haben im Kosmos derjenigen, denen dieser Hunger nach Noch-mehr-wissen-Wollen fremd ist, keinen Platz.

Und damit hรถren diese acht Geschichten schon auf, einfach nur ein paar kleine Kindheitsgeschichten aus einem Dorf auf der Krim zu sein, sondern erzรคhlen von Dingen, die auch in anderen Lรคndern, Dรถrfern und Schulen genau so ablaufen. Und die dafรผr sorgen, dass Menschen wie Oleg Senzow frรผh erfahren, dass sie nicht nur mehr Dinge mitkriegen als die anderen, sondern dass dieses Wahrnehmen auch Verantwortung mit sich bringt. Und dass sie ihr Leben lang genau diese Erfahrung immer wieder machen werden: dass sie bei den Angepassten und den Mรคchtigen anecken werden mit jedem klaren Wort und jeder menschlichen Tat.

Im kleinen Oleg lernt man, denke ich, sehr viel von diesem Oleg Senzow kennen, der jetzt schon fรผnf Jahre lang leidet dafรผr, dass er sich wie ein aufrechter Mensch benommen hat.

Es ist ein Buch, das zum Aufrichtigsein ermutigt. Und das vor allem an diesen aufmerksamen Regisseur erinnert, den Russland mit Absicht jenseits des Polarkreises eingesperrt hat, damit er dem Zaren in Moskau nicht mehr unzensiert die Wahrheit ins Gesicht sagen kann. Oder gar noch mehr Geschichten schreibt wie diese, die 2015 erstmals gesammelt in Kiew erschienen und jetzt erstmals auf deutsch. Eins der schรถnsten und berรผhrendsten Bรผcher, die bei Voland & Quist je erschienen sind.

Oleg Senzow Leben, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2019, 16 Euro.

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