Sie forschen. Es vergeht kein Studienjahr, ohne dass auch die angehenden Buch- und Medienwissenschaftler neue Forschungsergebnisse vorlegen, egal, ob in Bachelor- oder Master-Arbeiten oder gar in dicken Doktorarbeiten. Nicht alles wird sofort zum dicken Buch. Deshalb begannen Leipzigs Buchwissenschaftler vor fรผnf Jahren eine schรถne Tradition: Sie begannen, einige ihrer Arbeitsergebnisse in einem Jahrbuch zu verรถffentlichen, dem sie den sinnigen Namen โFlachwareโ gaben.
โFlachware (auch Flachprodukt) bezeichnet Handelsware hinsichtlich ihrer รผberwiegend zweidimensionalen Ausdehnung in Abgrenzung zu solcher in kรถrperhaft dreidimensionalen Ausdehnungโ, schreibt Wikipedia. Bรผcher gehรถren auch dazu, auch wenn manche richtig dick und gewichtig werden. Jahrbรผcher werden eher so medium, Appetitanreger fรผr das, was ein Forschungsgebiet so an Unerhรถrtem zu Papier bringt.
Und auch wenn der Architektur- und Stadtforscher Mark Kammerbauer in seinem Essay โWir sind das Buch!โ als lebenslรคngliche Leser von Science Fiction davon ausgeht, dass in mรคchtig gewaltigen Zukรผnften die gedruckten Bรผcher verschwinden, weil sich Bibliotheken in riesige digitale Gedรคchtnisse der Menschheit verwandeln und damit gleichsam zu Supercomputern werden, bin ich mir ziemlich sicher, dass damit das aus Papier gemachte Buch nicht verschwinden wird.
Aus demselben Grund รผbrigens. Denn wenn unsere digitalen Datenbanken immer mehr verschmelzen, dann werden Offline-Bรผcher auch zur Oase, zu einer nicht kontrollierbaren Welt, in der weder Algorithmen, noch naseweise Internet-Multis oder hochgradig interessierte Geheimdienste ausspionieren kรถnnen, was fรผr Gedanken und Informationen sich der Leser da zu Gemรผte fรผhrt.
Ich bin fast schon geneigt, ins รผbernรคchste Buch zu springen. Denn die Leipziger Buchwissenschaftler haben ja jรผngst erst mit โVerantwortliche Redaktionโ ein Standardwerk zur Funktionsweise der Zensur in der DDR vorgelegt. Parteien und Regierungen, die dem selbststรคndigen Denken der Bรผrger misstrauen, entwickeln einen erstaunlich umfassenden Ehrgeiz zu kontrollieren, was im Lande gedruckt und gelesen wird.
Und gleichzeitig auch, was die Menschen denken. Wer beim Lesen der falschen Bรผcher und Autoren erwischt wird, beim Denken subversiver Gedanken oder auch nur unangenehmer Kritik, der riskiert in solchen Lรคndern nicht nur Maรregelung, sondern auch Gefรคngnis. Da wird das unabhรคngige Denken ganz schnell zu โSabotageโ, โfeindlicher Agitationโ oder gar โkonterrevolutionรคren Umtriebenโ.
Etwas, was in der DDR selbst Autorinnen und Autoren erlebten, die felsenfest an die Zukunft des Kommunismus und die Daseinsberechtigung der DDR glaubten. Tatsรคchlich hat selbst โVerantwortliche Redaktionโ das riesige Feld staatlicher Gedankenkontrolle (kleiner Spaร am Rande: Auch in der DDR erschien 1979 ein Buch mit dem Titel โGedankenkontrolleโ mit SF-Geschichten aus der BRD) nur skizziert. Es entsteht eine ganze Welt von Geschichten, Irritationen und erstaunlichen Wendungen, wenn eine Partei 40 Jahre lang versucht, die Denkmatrix des Landes vorzuschreiben.
Andreas Parnt erzรคhlt in โFlachware 5โ so eine Geschichte รผber den DDR-Jugendbuchautor Dieter Schubert, dessen Buch โKleider machen Brรคuteโ den halben Zensurapparat zum Glรผhen brachte und am Ende trotzdem zu einem der Jugendbuch-Bestseller in der DDR wurde, den Autor aber so auf die Palme brachte, dass er gleich mal den Verlag wechselte.
Ganz รคhnliche Kontroll- und Verhinderungsversuche erlebte auch der Altenburger Grafiker Gerhard Altenbourg, dessen Autorenmalerbuch dann โ quasi als Bilanz seines Lebens โ in der Dรผrer-Presse des Leipziger Reclam Verlages erschien. Antje Katzer erzรคhlt im Jahrbuch diese Geschichte, wรคhrend Thomas Gepp und Berthold Petzinna mit der Essener Verlagsanstalt einen Verlag im NS-Reich beleuchten, diesmal unter der รberschrift โVerlegerische Politikbegleitungโ, denn hier erschienen Schriften, die die NS-Auรenpolitik vor allem mit gleichgesinnten Autoren aus dem Ausland begleiteten.
Man merkt schon: Bรผcher sind ein seltsames Ding. Sie kรถnnen auch den Feinden der Denk-Freiheit Munition liefern. Oder โ ein Thema fรผr Inken Ulrich โ zur Tarnung fรผr wirklich subversives Schriftgut dienen, das sich im Gewand beliebter Taschenbuchreihen ins Land und in die Bibliotheken der bevormundeten Bรผrger schmuggelt. Ein Schmuggelgut, das den Besitzer nicht nur die Freiheit, sondern auch das Leben kosten konnte. Wer das, was die Nazis in ihren zwรถlf Jahren an Gleichschaltung fabrizierten, als Zensur beschreiben mรถchte, verharmlost es.
Umso aufschlussreicher kรถnnten natรผrlich die Verlagsarchive aus dieser Zeit sein. Wie sehr haben sich die Verleger dem mรถrderischen Druck gefรผgt, gar selbst den Schulterschluss mit den Nazis gesucht? Oder welche Wege haben sie gefunden, sich nicht anbiedern zu mรผssen und Lesestoff zu produzieren, der dennoch den Lesehunger der Deutschen stillte?
Dass gerade diese Etappe in den Archiven groรer, namhafter Verlage oft fehlt, kann Thomas Keiderling in seinem Beitrag โDas โoptimaleโ Verlagsarchivโ zumindest anmerken. Den traditionsreichen Verlagen ist lรคngst bewusst, wie wertvoll ihr Archiv ist. Manche lassen es sich teuer abkaufen und die forschenden Literaturarchive sind im Dilemma: Ist es die Millionen wert, wenn gleichzeitig nicht mal genรผgend Stellen fรผr Forscher finanziert werden kรถnnen, die mit diesen Archiven wirklich arbeiten kรถnnen?
Beitrag um Beitrag fรคchert sich die Themenbreite des Instituts fรผr Buchwissenschaft auf. Wirklich tiefschรผrfend etwa beschรคftigt sich Carolin Panthen mit โElementaren Bรผcherfeindenโ. Im Grunde ein Beitrag fรผr alle Menschen, die ihre Bรผcher nicht als Verbrauchsgut betrachten, sondern gern erhalten mรถchten โ mรถglichst unzerstรถrt, nicht von Wasser aufgequollen, von Sonne gebleicht oder gar von den sauren Materialien zerfressen, die seit gut 150 Jahren den preiswerten und in Massen hergestellten Bรผchern zusetzen.
Wer noch nicht wusste, was in seinen Bรผchern eigentlich vor sich geht und welche chemischen Prozesse darin arbeiten, selbst dann, wenn man denkt, das Buch stehe brav und gut behรผtet im Regal, der erfรคhrt es hier. Quasi im Schnelldurchlauf. Denn hinterher ist man auf jeden Fall zutiefst besorgt, was den Lieblingsbรผchern im Regal alles passieren kann. Und es ist erst der erste Teil der dramatischen Geschichte, kรผndigt Panthen an.
รber andere Dramen, die etwa den Leipziger Insel Verlag direkt trafen, erzรคhlen im Gesprรคch die Sammler Herbert Kรคstner, Jens Fรถrster und Reimar Riese: โDie kriegszerstรถrten Inselbรผcherโ. Und wer dann unter der รberschrift โ(Un)gnรคdiger Gott der Literatur-รberwachungโ vermutet, hier wรผrde jetzt endgรผltig die Bilanz fรผr den letzten Buchminister der DDR gezogen, der sieht sich diesmal positiv getรคuscht. Denn hier erzรคhlt Doreen Kunze รผber die unglaubliche Wirkung der von Hans Reimann in der Nachkriegszeit verรถffentlichten โLiterazziaโ.
Von 1952 bis zu seinem Tod 1968 verรถffentlichte der bekannte Satiriker jedes Jahr einen dicken Band mit รผber 500 kurzen Rezensionen zu den aus seiner Sicht wichtigsten Titeln aus der (west-)deutschen Buchproduktion. Fรผr viele Buchhรคndler war dieses oft satirische, aber stets kenntnisreiche Durcharbeiten unterschiedlichster Titel aus unterschiedlichsten Genres die beste, oft die einzig verlรคssliche Orientierung in der immer unรผbersichtlicheren Bรผcherwelt. Selbst namhafte Verleger bemรผhten sich, von Reimann gewรผrdigt zu werden, selbst wenn es ein freundlicher Verriss ihres Autors wurde. In der damaligen Literaturlandschaft war Reimann mit dieser Fleiรarbeit einzig โ und er beackerte dabei auch all jene Buchlandschaften, die das gepflegte Feuilleton der Zeitungen schlicht ignorierte.
Man erlebt mit โFlachware 5โ ein wenig von der Vielfalt eines Forschungsbereiches, den man sonst eher nur mit still raschelnden Buchseiten verbindet. Aber Leser wissen ja, dass beim Rascheln eine Menge mehr passiert. Und dass das Misstrauen der Mรคchtigen und der Mรถchtegerne nur zu berechtigt ist: Gute Bรผcher befeuern das Selberdenken und das Denken in Mรถglichkeiten. Deswegen ist Kammerbauers Vorgriff auf die Science Fiction so falsch nicht, auch wenn er selbst wieder nur einen sehr schmalen Bereich der SF zum Anlass nimmt, รผber die Wahrscheinlichkeit denkender Bibliotheken der Zukunft nachzudenken. Bรผcherlesen regt ja geradezu dazu an, das Mรถgliche in der Welt zu denken und das Real Existierende als vergรคnglich zu begreifen. Kein Zufall also, dass die Kontrolleure der Einzigartigkeit Bรผchern und Autoren immer mit schwelendem Misstrauen begegneten.
Ist das Prรคteritum hier angebracht? Vielleicht, da ja die neueren Kontrollettis durch die Bank eher vรถllig unbelesene Leute zu sein scheinen, die das Gar-nicht-erst-Nachdenken fรผr eine Menschenpflicht halten. Auch das eine Gefahr fรผr die Bรผcher. Denn wer nicht mehr liest, wird anfรคllig fรผr die zunehmende Verhuschung der Gedanken.
Martin Hochrein, Eyk Henze โFlachware 5. Jahrbuch der Leipziger Buchwissenschaftโ, Dr. Ernst Hauswedell & Co. Verlag KG, Stuttgart 2019, 29 Euro
Verantwortliche Redaktion: Wie die Zensurwerkstรคtten in der DDR tatsรคchlich funktionierten
Verantwortliche Redaktion: Wie die Zensurwerkstรคtten in der DDR tatsรคchlich funktionierten
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher
โโฆbin ich mir ziemlich sicher, dass damit das aus Papier gemachte Buch nicht verschwinden wird.โ
Auf keinen Fall. So gern ich mich im Internet informiere und lerne, (lange) Geschichten wirken bei mir nur als Buch. Meine Phantasie spielt am Bildschirm irgendwie nicht so mit wie sie sollte, ganz anders wenn ich ein Buch lese. Das zieht mich quasi direkt in die Seiten. Also wenns ein gutes Buch ist.^^