Man merkt es dem Buch wirklich nicht mehr an, dass am Anfang eine riesige Überforderung stand. Burkhart Veigel, einer der erfolgreichsten Fluchthelfer der 1960er Jahre, wollte einen Roman schreiben, einen Roman über sein eigenes Leben und seine Zeit als Fluchthelfer in Berlin. Aber er hatte so viel Material gesammelt, das sich partout nicht in einen Roman fügen wollte. Da holte er sich mit der Schriftstellerin Roswitha Quadflieg professionelle Hilfe. Und das Ergebnis besticht und berührt.
Und es verwandelt den Helden. Im Buch wird er zu Janus Emmeran, der nach Jahren wieder zurückkehrt nach Berlin und auf eine Partnerschaftsanzeige reagiert, die ihn fasziniert und mit der er Colette kennenlernt, Inhaberin eines kleinen Lyrikverlages und über 20 Jahre jünger als er. Und Ostberlinerin. Eine selbstbewusste Frau, deren geistige Unvermitteltheit den Mann fasziniert, der im Buch mittendrinsteckt in seinem Versuch, die Vergangenheit zu erkunden, einstige Mitstreiter wiederzufinden und auch einstige Spitzel zu enttarnen, vor allem jene, deren Arbeit am Ende wertvolle Menschenleben kosteten.
Er steckt noch mittendrin in diesen alten Geschichten. Sie sind für ihn lebendig. An jeder Stelle Berlins kann er sagen, wo die Mauer verlief, wo die Checkpoints standen, wo die Fluchttunnel verliefen. Oft war er selbst mittendrin in den nicht ungefährlichen Fluchtaktionen – nachdem aber seine Identität bekannt wurde und er auf der Schwarzen Liste der Stasi stand, war ihm der Gang in den Osten unmöglich geworden. Mehrmals versuchte die Stasi, ihn zu entführen.
Auch wenn diese Geschichte jetzt zu einer mit Fiktionen angereicherten Liebesgeschichte geworden ist, ist Emmerans Geschichte eindeutig die Geschichte Veigels, dem es tatsächlich mit Unterstützung ebenso ambitionierter Freunde gelang, hunderte Menschen aus der DDR in den Westen zu schmuggeln. Dass das auch von der westlichen Politik eher ungern gesehen wurde, thematisiert er auch. Viele Kapitel drehen sich um die Frage, was er damit bezweckte. Gefährdete er damit nicht den labilen Status von Westberlin? Oder gar die gerade beginnende Ostpolitik der SPD?
„Escape Helper“ in Berlin. Trailer for the novel FREI by Roswitha Quadflieg & Burkhart Veigel
Und tut er im Nachhinein nicht den Ostdeutschen Unrecht, die dablieben. So wie Colette, die nichts anderes kannte als diese DDR und die auch nie daran dachte, eine dieser riskanten Fluchten zu versuchen, die hunderte Flüchtlinge ja auch das Leben kosteten. Und die diesen selbstsicheren Janus Emmeran auch immer wieder mit der Aussage konfrontiert, dass dadurch ein Leben im Osten nicht entwertet wurde, dass sie sehr wohl ein selbstbestimmtes Leben gelebt hat. Und lebt. Sie zeigt es ja mit ihrem Verlag, in dem sie vor allem Dichtern einen Raum gibt, die im heutigen Medienzirkus kaum noch wahrgenommen werden, auch und gerade den eher Stillen aus dem Osten, die vorm Mauerfall kaum Chancen auf Veröffentlichung hatten, und hinterher wollte niemand mehr ihre Aussagen lesen.
Dass der Westen diese Leerstelle nicht einmal wahrnimmt, merkt Colette bei einem Besuch in Heidelberg. Diese ganze Gedankenwelt Ost existiert dort einfach nicht. In der Buchhandlung ist dafür nicht mal ein Plätzchen vorgesehen.
Es ist so auf fast beiläufige Art ein sehr einfühlsames Buch über eine richtig lebendige Beziehung Ost/West geworden. Und Roswitha Quadflieg gelingt es tatsächlich, Colette sehr präsent werden zu lassen, auch und gerade in ihrem tiefen Bedürfnis, authentisch zu bleiben, sich nicht zu verbiegen und Differenzen auch klar zu benennen. Auf einmal rumort da auch etwas in Janus Emmeran, der sich immer so sicher war, dass es im Leben vor allem um Freiheit geht.
Denn wofür hat er dann das alles gemacht, wenn nicht im tiefen Bedürfnis nach Freiheit? Und warum flohen denn sonst all die Menschen aus der DDR, wenn nicht aus Sehnsucht nach einem freien Leben? Und aus Angst vor einem repressiven System, das die Menschen nicht nur bespitzelte, sondern auch zur Unterordnung zwang? War denn die DDR kein Unrechtsregime und die Mauer keine mörderische Schikane?
Das Faszinierende an dieser Doppelgeschichte ist eigentlich, wie nahe sich diese beiden Verliebten sind. Denn dass Freiheit politisch schnell zum Fähnchen im Wind werden kann, das hat Emmeran selbst erlebt. Nicht nur im Kontakt mit der Westberliner Politik, sondern auch im Kontakt mit dem amerikanischen Geheimdienst in Gestalt des Mister X, dessen Geschichte ebenfalls in einer Flucht wurzelt – der Flucht vor den Nazis.
Burkhart Veigel: Erschwerte Fluchthilfe
Man merkt schon, wie intensiv die beiden Autoren vier Jahre lang um diesen Roman und seine Handlung gerungen haben. Und man vermutet bestimmt zu Recht, dass es Roswitha Quadflieg war, die die unterschiedlichen Ebenen von Flucht mit ins Buch gebracht hat. Es gibt ja noch die dritte Ebene, die die Fluchtbewegungen der Gegenwart betreffen. Wieder fliehen Menschen aus unaushaltbaren Zuständen, diesmal übers Mittelmeer Richtung Deutschland. Und Emmeran sieht sich herausgefordert: Wie steht er selbst zu den heutigen Fluchthelfern?
Und er tut es nicht nur theoretisch. Denn ein alter Freund aus Fluchthelfertagen bittet ihn selbst, eine Frau zu beherbergen, die vor ihrer eigenen Familie flüchten muss, weil sie den Mord an ihrer Schwester angezeigt hat. Das bricht natürlich die Klarheit der reinen Ost-West-Fluchthelfer-Geschichte auf. Auf einmal merkt man, wie sehr es den beiden miteinander Ringenden eigentlich um Menschlichkeit geht, den Beweis ehrlichen Menschseins auf Erden. Da leuchtet zwar immer noch das große Wort „Frei“ in roten Buchstaben über allem. Aber es ist keine abstrakte Freiheit mehr.
Und es wird auch keine „Amour fou“, wie der Schutzumschlag verspricht. Zum Glück nicht. Und das ist vielleicht sogar das Berührendste an dieser Liebesgeschichte: Dass Janus diese Colette tatsächlich deshalb liebt, weil sie ihm seine Grenzen zeigt, weil sie ihre Souveränität stets bewahrt und sich nicht einordnet, anpasst und ihm zur Gespielin wird. Im Gegenteil. Am Ende verlässt sie ihn, mitten in einer Situation, in der er glaubte, ihr den schönsten Urlaub ihres Lebens ermöglicht zu haben. Und sie tut es nicht wortlos, sondern zieht wieder eine Grenze und ist damit ganz Ostfrau, um einfach mal das Wort zu benutzen, das einem immer öfter in den Sinn kommt, je länger man sich das Drama der vergeigten Emanzipation West anschaut.
Vergeigt, weil auch Männer wie Janus Emmeran eher die Ausnahme sind, Männer, die Frauen gerade dann ernst nehmen, wenn sie zur Herausforderung werden, zur Auseinandersetzung („Duett und Duell“) zwingen und den wirklich kritischen Fragen zum Miteinander nicht ausweichen. Janus hat lange nach so einer Frau gesucht. Aber gelernt hat auch er etwas anderes. Nämlich dass man Frauen kaufen kann, dass man ihnen die Welt zu Füßen legt und den spendablen Gastgeber spielt. Aber die Botschaften, die Colette sendet, dass ihr das alles zu viel ist und sie sich nicht wohlfühlt in solchen Situationen, die bemerkt er schon – weiß damit aber nicht umzugehen.
Flieht sie? Oder ergreift sie die Freiheit, auch das Nichtgewollte verlassen zu können? Ihren Gefühlen und Selbstansprüchen genügen zu dürfen – selbstbewusst. Und auf eine natürlich für Janus verstörende Art frei. Solche Frauen hält man nicht fest, die zwingt man nicht zum Funktionieren.
Womit auf einmal die berechtigte Frage wieder im Raum steht, die so oft hinter all den „Grausame Diktatur“- und Fluchthelfer-Geschichten verschwindet: Kann es sein, dass der Osten seine eigenen Antworten auf die große Frage nach Freiheit und Selbstbestimmung gefunden hat? Gelebt von Menschen wie Colette? Mit Antworten, die eigentlich selbstverständlich neben dem stehen, was Janus Emmeran und seine Freunde getan haben?
Und es ist keine „innere Emigration“, kein „stilles Erdulden“ und „sich Fügen“. Sondern ein Einfordern von Achtung und Respekt, das eben nicht zur Flucht führt, sondern zum Aufrechtgehen. Zu jenem faszinierenden Akt der Selbstermächtigung, die 1989 den Selbstherrlichen den Boden unter den Füßen wegzog? Nur so als Frage in den Raum gestellt, weil Quadflieg und Veigel hier etwas gelungen ist, was im deutsch-deutschen Gezänk so überhaupt nicht sichtbar werden will.
Obwohl es die ganze Zeit da ist und nach Anerkennung verlangt. Meist eher still und beharrlich, wie wir das gewohnt sind auf dieser Seite der Demarkationslinie, die nicht nur West und Ost noch immer gnadenlos trennt, sondern auch Männer und Frauen, die Lauten und die Nachdenklichen, die Schaumschläger und die Fragenden, die Karrieristen und die Emsigen, die sich immer nur wundern, warum sie in dem ganzen Lärm keine Aufmerksamkeit bekommen.
Natürlich: Es ist ein nachdenkliches und herrlich ruhiges Buch. Und es erzählt eben nicht von einer verrückten oder gar wahnsinnigen Liebe („amour fou“), sondern von einer auf Augenhöhe. Die auch schmerzlich wehtun kann. Das vergisst man ja so gern. Oder man weicht dem lieber aus und tut sich mit Menschen zusammen, die einen nicht im Kern, im Herzen berühren. Da, wo das Leben wirklich pulst und wehtun. Gibt ja genug Surrogate, die darüber hinwegtäuschen, dass man den Mut nicht gefunden hat, wirklich Menschen zu suchen, die einem im Innersten vertraut werden und zur Herausforderung werden, an ihnen zu wachsen.
Und was diese Colette für eine Herausforderung ist, das merkt Janus eigentlich erst ganz am Schluss. Aber er merkt es zumindest. Das passt zu ihm, denn es gehört zu seinem Ethos auch als Fluchhelfer: Das tun, was man im Innersten für richtig hält. Mal eine andere, eine lebendige Interpretation des Freiheitsbegriffs, frei nach Kant: den Mut zu haben, seinem eigenen Herzen zu vertrauen.
Roswitha Quadflieg; Burkhart Veigel Frei, Europa Verlag, München 2018,19,90 Euro.
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