Es soll ja immer noch Ostalgiker geben unter uns, die sich zurücksehnen nach der Geborgenheit der DDR. So, wie sich andere in ein Wirtschaftswunderland zurücksehnen, das sie nur noch aus alten Heimatfilmen kennen. Es sind Traumgebilde, die in ihrer Erinnerung etwas Zauberhaftes bekommen. Was nicht ganz ungewöhnlich ist, wie dieser doch sehr frappierende Bild-Text-Band deutlich macht. Gerade weil schon das Titelbild zeigt, wie trostlos Leipzigs Osten in den 1980er Jahren war.
Und das betraf ja nicht nur den Leipziger Osten oder auch nur Leipzig. Sämtliche alten Städte im Osten waren von Verfall und Abriss bedroht. Rund um die Ernst-Thälmann-Straße im Leipziger Osten, die im Jahr 1991 ihren alten Namen Eisenbahnstraße wiederbekam, waren ganze Straßenzüge langfristig für den Abriss vorgesehen. Manche hatten Glück: Da reichte schlicht das Geld nicht mal für den Abriss. Dafür verfielen die Häuser, an denen seit über 50 Jahren nichts mehr gemacht worden war, nach und nach, sahen schon wie Ruinen aus, auch wenn noch Menschen drin wohnten.
So wie der Bibliothekar und Kunstwissenschaftler Hans Sonntag, der sich für seine Leipziger Studienzeit 1979 bis 1986 eine Zweitwohnung im Osten nahe der Ernst-Thälmann-Straße besorgte, eine Wohnung mit Vorgeschichte, wie er in seinem Erinnerungsbeitrag im Buch erzählt. Das Haus stand zwar zum Abriss – aber Wohnraum war in Leipzig derart knapp, dass selbst die ruinösesten Wohnungen doch noch von wagemutigen Bewohnern bezogen wurden und auch noch vermietet wurden, solange noch Strom, Gas und Wasser funktionierten und beheizbare Öfen drinstanden.
Hans Sonntag erzählt sehr atmosphärisch, wie es sich in so einer Wohnung lebte, wie er sie notdürftig noch einigermaßen bewohnbar gemacht hatte, wie er im Winter Mühe hatte, wenigstens einen Raum zu beheizen, wie freilich auch der zunehmende Verfall des Hauses spürbar wurde und regelmäßig Einbrecher die Tür aufbrachen. Und trotzdem hat er sehr emotionale Erinnerungen an diese Wohnung bewahrt, besonders an den Blick aus dem Fenster in den rückwärtigen Hof, wo ein kleiner, wilder Garten entstanden war und mitten in der geschäftigen Stadt das Gefühl vermittelte, in einer Oase zu leben.
Geblieben ist ihm auch die Erinnerung, wie wenig es eigentlich braucht, um als Mensch glücklich zu sein.
Es sind ganz einfache, aber sehr plastische Erinnerungen, die trotzdem mehrere Facetten haben. Denn wenn man derart auf das Wesentliche reduziert ist, wie es für Bewohner der alten DDR-Städte eigentlich der Normalzustand war, dann hatte man auch seine Sinne offen für das, was das Leben schön und lebenswert macht.
Und dann die Bilder des Leipziger Fotografen Harald Kirschner daneben, der in den 1980er Jahren mit der Kamera rund um die Ernst-Thälmann-Straße unterwegs war und die Menschen fotografierte – viele mit Beuteln und Einkaufsnetzen unterwegs, oft in langen Schlangen anstehend, wenn es in einem der Geschäfte mal etwas Besonders gab – Tomatenpflanzen zum Beispiel. Man hat sogar das beinah vergessen, wie viele Leipziger in den Hinterhöfen ihre kleinen Gärtchen anlegten, um sich ein bisschen Gemüse zu ziehen, das es im Laden oft nicht zu kaufen gab.
Die Hinterhöfe waren – anders als heute – nicht mit Autostellplätzen oder englischem Rasen zur Langeweile verdammt. In vielen dieser Höfe hatten Handwerker noch ihre kleinen Werkstätten, Kinder spielten hier, manchmal gab es auch kleine, selbstgebaute Sandkästen, nicht weit von den blechernen Mülltonnen und den Stangen für die Wäscheleinen.
Überall war der Putz von den Wänden geblättert, Dächer waren undicht, Fenster notdürftig geflickt. Aber selbst der trostloseste Anblick durfte nicht täuschen. Nicht nur Hans Sonntag hatte sich hier eine neue Bleibe gesucht. Auch andere junge Leute fanden hier in notdürftig hergerichteten Wohnungen ein Zuhause auf Zeit. Auch viele junge Menschen, die im Jahr 1989 eine zentrale Rolle in der Friedlichen Revolution spielen sollten. Ein Jahr, in dem den Leipzigern zumindest sehr klar war, dass die Revolution auch aus schierer (Wohnungs-)Not geboren war. Leipzigs Straßen zeugten zwar noch von den Resten einer stolzen Vergangenheit. Aber dieser alte Stolz begann immer mehr in sich zusammenzurutschen.
Wenn man Kirschners Bilder sieht, fühlt man sich gar nicht in die 1980er Jahre versetzt, sondern eher in die Nachkriegszeit. An der Bausubstanz hatte sich ja seitdem nichts geändert, außer dass im Krieg einige Häuserzeilen an der Eisenbahnstraße in Trümmer gingen und die einstigen Hinterhäuser auf einmal Blick zur lauten Straße hatten.
Aber Kirschner war auch in jenen Straßen unterwegs, die dann nach 1990 tatsächlich verschwanden. Man wird geradezu angeregt, auf alten Karten nachzuschauen, welche Straßen da eigentlich alle verschwunden sind. Geplant war ja, auch den Leipziger Osten nach und nach in ein Neubaugebiet zu verwandeln. Nur dass weder für Abriss noch Neubau die Kapazitäten existierten und das Gebiet zum Wohnplatz vieler alternativen Existenzen wurde. Kirschner hat dabei auch gern die vielen kleinen Gewerbe in den Innenhöfen fotografiert, vergitterte Erdgeschossfenster, löchrige Mauern. Oder auch ab und zu die Leute, die da arbeiteten – Kohlenschlepper, Bierausfahrer, Bauarbeiter. Bilder, die man aus ähnlichen Fotobänden zu Berlin (Ost) in dieser Zeit kennt.
Kirschners Bilder machen ziemlich deutlich, dass die DDR in diesen zehn schwarz-weißen Jahren schon gründlich abgewirtschaftet hatte. Die sinnentleerten Losungen kaschierten nicht einmal mehr den Verfall der Häuser dahinter, wiesen bestenfalls darauf hin, dass selbst die tapferen VEBs und PGHs in heruntergekommenen Gebäuden gleich dahinter versuchten, irgendwie noch sozialistische Notwendigkeiten herzustellen. Kein Wunder, dass es auch in Kirschners Fotos die Menschen sind, die eher von Hoffnung erzählen – ob sie nun Blumen kaufen, miteinander auf der Straße schwatzen oder sich hochbeglückt über Kinderwagen beugen.
Was die viele Fotos auch von regnerischen Tagen nicht ausschließt, wo das Wasser aus den Regenrinnen mitten auf den Fußweg pladdert und die Passanten augenscheinlich noch immer im Kleidungsstil der 1950er Jahre versuchen, irgendwie ungeduscht zur Haltestelle zu kommen.
Es ist ein Leipziger Osten, den es so nicht mehr gibt. Genauso wenig wie das Land, dem schon in den frühen 1980er Jahren die Puste ausging. Da ist es schon erstaunlich, wie präsent für Hans Sonntag die Erinnerungen an sein Leben im Abbruchhaus noch heute sind. Vielleicht gerade deshalb: Man war mit dem Verfall immer konfrontiert und musste selbst Wege finden, aus dem Notdürftigsten etwas zu machen. Das ging nicht ohne menschliche Kontakte.
Und was man brauchte, gab es meist nicht einfach irgendwo zu kaufen. Und selbst das Anfeuern eines alten Kachelofens war eine aufwendige Prozedur. Man war den Dingen näher. Und man hatte (nicht nur gefühlt) mehr Zeit, auch die Sonnenstunden mit dem Blick auf die grüne Insel im Hinterhof bewusst wahrzunehmen.
Und das kann durchaus ein starkes Moment der Sehnsucht sein. In eine Gegenwärtigkeit, die das heutige Rasen und Dauerperformen nicht mehr bieten können.
Harald Kirschner, Hans Sonntag Als die Eisenbahnstraße noch Ernst-Thälmann-Straße hieß, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 16 Euro.
Harald Kirschners aufmerksame Bilder aus dem religiösen Leben der späten DDR
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