Mit Thilo Sarrazin ging das 2010 los, als auf einmal dieses Genรถrgel wieder in die Welt kam: โMuss man doch mal sagen dรผrfen.โ Fortan tauchte der Schlachtruf โZensur!โ bei den deutschen Rechtsradikalen wieder auf. Ihnen verbot zwar niemand, sich zu รคuรern. Aber auf jeden Widerspruch reagierten sie mit dem Gejammer: โDas ist Zensur!โ Ein so allgegenwรคrtiges Gejammer, dass selbst unbescholtene Bรผrger mittlerweile glauben, in Deutschland werde wieder Zensur ausgeรผbt.
Christian Bommarius war jahrelang Redakteur bei der โBerliner Zeitungโ, seit 2018 schreibt er als Kolumnist fรผr die โSรผddeutsche Zeitungโ. Und natรผrlich wundert er sich als Journalist zu Recht darรผber, warum nun auf einmal dieses allgemeine Gezeter รผber Zensur stattfindet. Mit der Realitรคt hat es nichts zu tun. Da muss er nur die medialen Karrieren all der Leute anschauen, die so gern von Sprechverboten und Zensur schwadronieren: Die Leute sind allgegenwรคrtig. Sie sitzen in Talkshows und Landtagen, die sozialen Medienkanรคle sind mit ihre Reden, Behauptungen und Jammertiraden geflutet. Sogar ihre Bรผcher erscheinen in Millionenauflagen, wenn man nur an Sarrazins hingeschludertes โDeutschland schafft sich abโ denkt.
Sie benutzen ganz augenscheinlich den Topos Zensur, um noch mehr Aufmerksamkeit zu erreichen. Denn wenn man anderen, oft genug anonymen Instanzen eine โGesinnungsdiktaturโ zuschreibt und behauptet, sie wรผrden die Tiraden der Rechten per Zensur unterdrรผcken, dann ist das eine Lieblingspose der Rechtsradikalen, dann kรถnnen sie sich in aller รffentlichkeit als Opfer gerieren, ihre Zeitungen und Bรผcher bekommen noch eine Extra-Werbung, weil sie ja nun den Ruch des (Fast-)Verbotenen haben.
Aber mit Zensur hat das alles nichts zu tun.
Wozu man die Vorgeschichte dessen kenne sollte, was Zensur tatsรคchlich einmal war: Nรคmlich staatlich reglementierte Erlaubnis, Dinge zu verรถffentlichen โ oder eben die mit Strafsanktionen bewรคhrte Unterdrรผckung zumeist kritischer Texte.
Dazu muss man in die Frรผhgeschichte des Buchdrucks hinabtauchen und in die Installation der ersten (kirchlichen) Zensurbehรถrde genau dort, wo der moderne Buchdruck geboren wurde: in Mainz. Und man muss die Geschichte dieser kirchlichen und spรคter staatlichen Unterdrรผckung allen kritischen Schriftgutes beleuchten. Da landet man auch nicht zufรคllig in der Metternich-Zeit, als genau der Geist herrschte, den heute ausgerechnet die Rechtskonservativen vertreten, die so lauthals รผber Zensur jammern, eine Zeit der tatsรคchlich umfassenden staatlichen Zensur.
Denn darum geht es, wenn das Grundgesetz zusichert, dass eine Zensur nicht stattfindet. Damit ist immer die Unterdrรผckung von Schriftgut durch staatliche Zensurbehรถrden gemeint. Autoren wie Ludwig Bรถrne, Heinrich Heine und viele ihrer Leidensgenossen in der Metternich-Zeit (die man so gern als Biedermeier verklรคrt) haben erlebt, was das heiรt, wenn staatliche Behรถrden nicht nur ihre Verรถffentlichungen verhindern, sondern sogar die Texte verstรผmmeln, die dann verรถffentlicht werden dรผrfen.
Mit Bommarius kann man in dieser kleinen Streitschrift hinabtauchen in die wirkliche Geschichte der Zensur, die in der DDR noch ihre blauen Blรผten trug. Denn ohne staatliche Genehmigung durfte dort kein Buch erscheinen. Es war kein Wunder, dass sich gerade die klรผgsten DDR-Autoren ganz bewusst den spรคtromantischen Schriftstellern zuwandten und unterm Mantel der Rezeption lรคngst verstorbener Autoren die biedere Zensur-Welt der DDR karikierten.
Denn ein Land, in dem Zensur herrscht, bekommt zwangslรคufig eine biedere Literatur. Was wirklich spannend und diskussionsanregend ist, wird ja unterdrรผckt, darf gar nicht erscheinen. Oder wird dann als Samisdat oder Konterbande zu den Lesern geschmuggelt. Und es war nicht nur in deutschen Landen so. Mit viel Mitgefรผhl beschreibt Bommarius auch das Schicksal Michail Bulgakows, der es ja mit der stalinistischen Zensurpraxis zu tun bekam. Aber anders als bei vielen Leidensgenossen kostete es ihn nicht das Leben. Wenigstens das Leben lieร ihm der groรe Zensor Stalin. Bulgakows Schlรผsselroman, der insbesondere die stalinistische Zensurpraxis beschrieb, erschien dann lange nach seinem Tod: โDer Meister und Margaritaโ. Ein Roman, der auch deshalb frappiert, weil der Autor hier selbst mit dem phantastischen รberleben seines Werkes nach der Verbrennung spielt.
Aber Bommarius bleibt nicht dabei, denn er weiร, dass Zensur โ selbst wenn sie staatlich nicht stattfindet โ dennoch ihren Platz findet. Ganz einfach deshalb, weil Menschen abhรคngig sind von anderen. Die deutsche Presse seit Heines Zeiten ist ein gutes Beispiel dafรผr. Denn wenn das, was verรถffentlicht werden darf, immer wieder vom guten Willen der jeweils Mรคchtigen abhรคngt, dann bildet sich auch eine stillschweigende devote Haltung in all jenen Medien aus, die so gern mit am Tisch der Macht sitzen und meinen, von den Informationsbrocken der Mรคchtigen abhรคngig zu sein. Es entsteht das, was selbst ein so eigensinniger Kopf wie Hans Magnus Enzensberger als fatal empfindet: die Selbstzensur im Kopf, die den Schreiber ganz stillschweigend alles vermeiden lรคsst, was wirklich brisant, stรถrend, den Konsens zerstรถrend wirkt.
Man โtritt dem eigenen Lied auf die Kehleโ, wie einst Majakowski schrieb.
Deswegen sei die deutsche Presse, so Bommarius, auch nach dem 2. Weltkrieg nur allzu selten wirklich gefรคhrlich geworden fรผr die jeweils Regierenden. Anders als etwa in Frankreich oder den USA, wo es den Medien immer wieder gelingt, echte Staatsaffรคren aufzudecken, sind solche Rechercheerfolge in Deutschland eher die Ausnahme oder werden โ wie die โSpiegel-Affรคreโ โ zur Legende, auf die dann auch gleich noch die nachfolgenden Generationen von Redakteuren stolz sind nach dem Motto: โDamals waren wir mutig!โ
รber den Zustand der heutigen Medien macht sich Bommarius keine allzu groรen Illusionen: โWenn Medien sich nur noch als Nachrichtenรผbermittler, als Gestalter von Unterhaltungsprogrammen, als Anbieter von Betroffenheitsberichten und als Faktenchecker verstehen, dann haben Kritik und Kontrolle ausgespielt, und Journalisten, die von โHaltungโ sprechen, dรผrfen รผber den Spott der Kollegen nicht klagen.โ
Wobei er auch betont, dass Journalisten โ anders als in der meist fehlinterpretierten Aussage von Hanns Joachim Friedrichs โ nรคmlich doch eine Haltung brauchen. Wenn ihnen nicht klar ist, fรผr welche Werte sie eigentlich unterwegs sind, wo sie tatsรคchlich gebraucht werden als kritischer Spiegel fรผr die ganze Gesellschaft, dann machen sie keinen Journalismus, dann ist ihr Tun beliebig. Dann hilft es nรคmlich nicht bei der Kontrolle des Staates, sondern macht sich โ siehe Friedrichs โ โgemeinโ. Nรคmlich mit denen die die Macht, den Einfluss und den Schotter haben.
Bommarius: โEs fehlt in Deutschland nicht an Medien und erst recht nicht an Journalisten, aber der Mangel an ernst gemeintem Journalismus ist dramatisch.โ
Und das hat mit der Schere im Kopf zu tun, der Selbstzensur, die verhindert, dass heiรe Eisen angepackt werden, dass Politiker in Machtpositionen geschont werden, dass nicht nachgefragt wird, dass die Zeitung vom nรคchsten Tag nur Schรถnwetterberichterstattung ist und die Bรผrger nichts, aber auch gar nichts รผber den Zustand ihrer eigenen Demokratie erfahren. Was auch wieder mit Machtstrukturen in den Medienhรคusern zu tun hat, keine Frage.
Aber das ist nicht die eigentliche Zensur, die Bommarius am Ende als grรถรtes Problem benennt โ obwohl das zusammengehรถrt. Denn ein Journalismus ohne Haltung und Biss wird zum Einfallstor. Denn dann stellen sich andere als kritisch und bissig dar. Und zwar zumeist all jene, die einen kritischen Journalismus รผberhaupt verabscheuen.
Man darf ja auch nicht vergessen: Die Parolen der Neuen Rechten sind nicht erst heute entstanden, sie stammen direkt aus dem Repertoire der rechtsextremen Propaganda von vor 90 Jahren. Da wurde nicht nur รผber staatliche Zensur gejammert (und im gleichen Atemzug gleich mal gedroht und gebrandmarkt), es wurde auch jede Zeitung, die das Gelรคrme der Nazis kritisierte, mit dem Verdikt โLรผgenpresseโ behรคngt. Die alten Methoden der Diskreditierung erleben heute frรถhliche Urstรคnd. Und auch das fรผhrt in manchen Redaktionen zur neuen Selbstzensur.
Auch weil kritische Berichterstattungen, die unseren Neuen Rechten nicht passen, heute etwas erleben, was in der Weimarer Republik noch gar nicht mรถglich war. Denn da gab es noch keine โsocial mediaโ. Da konnten die Kommentarspalten der Online-Portale noch nicht mit ungefiltertem Hass, mit Verachtung, Beleidigung und Hohn geflutet werden. Das blieb den Erfindern jener Algorithmen รผberlassen, die dafรผr sorgen, dass Menschen in den โsozialen Netzwerkenโ nur noch in ihren eigenen Echokammern unterwegs sind und das Schlimmste, was Menschen sich verbal antun kรถnnen, ungefiltert nicht nur verbreitet wird, sondern auch die allerhรถchste Aufmerksamkeit bekommt.
Ganz zu schweigen von der Massivitรคt, mit der sich die Rechten zusammentun, um รผber ihnen unliebsame Menschen einen Kรผbel von Hass und Erniedrigung auszukippen. Weil damit aber ein paar Internet-Freaks angefangen haben, heiรt diese Masche verharmlosend โshitstormโ.
Der scheinbar gesetzlose Raum des Internets hat sich nach 30 Jahren leider nicht als Ort der groรen Freiheit entpuppt, sondern als ein Raum, in dem sich das Boshafteste und Schlimmste austobt, was Menschen einander sagen kรถnnen. Was sie bei realen Begegnungen im Leben meist nicht sagen wรผrden, im anonymen Raum aber scheinen alle Hemmungen zu fallen und brave Bรผrger verwandeln sich, angefeuert von echten rechten Trollen, in Berserker.
Und die meisten Shitstorms sind genau darauf angelegt: Den oder die Angegriffenen nicht nur zu diffamieren, sondern mundtot zu machen. Und es hat verdammt lange gedauert, bis auch die Politik begriffen hat, was da passiert. โIn der deutschen Politik hat sich in den vergangenen Jahren herumgesprochen, dass das Grundrecht der Meinungsfreiheit akut gefรคhrdet ist, wenn derjenige, der es in Anspruch nimmt, mit verbaler Exekution und der Liquidierung seines Leumunds zu rechnen hatโ, schreibt Bommarius.
Denn in der realen Welt funktionieren noch viele kleine Rรผcksichtnahmen, die Menschen dazu bringen, eben nicht tollwรผtig รผber den anderen herzufallen. Rรผcksichten, die eben auch dazu fรผhren, dass man vieles nicht sagt und tut, weil man genau weiร, welchen Schaden man damit anrichtet. Auch eine gewisse Selbstzensur โ aber eine รผberlebensnotwendige. Nur so kรถnnen menschliche Gesellschaften friedlich existieren.
Wie man freilich den entfesselten Hass im Internet beschrรคnken kann, weiร auch Bommarius noch nicht. Das Problem lรคsst er stehen, ahnend, dass es auch im digitalen Raum ganz รคhnliche Gesetze braucht wie in der realen Welt. Dass Morddrohungen, Gewaltaufrufe und Beleidigungen auch dort rigoros bestraft werden mรผssen. Er zweifelt nur daran, dass die privaten IT-Konzerne in der Lage sind, das zu tun und gar das Allerschlimmste aus ihren Websites zu filtern. Das wรผrde auch rechtlich keinen Sinn machen, da wรผrde man wohl den Bock zum Zensor machen und ganz รhnliches bekommen wie jetzt in der Upload-Filter-Debatte: Die Netz-Giganen lรถschen einfach, was ihnen in den Kram passt und erklรคren das genauso wenig, wie sie die Arbeitsweise ihrer Algorithmen erklรคren. Das ist dann Manipulation vom Feinsten.
Weil aber gerade die rechten Trolle die Funktionsweisen zu nutzen wissen, wie sie Andersdenkende zum Schweigen bringen kรถnnen, haben wir hier eine neue Form von Zensurversuch โ von durchaus interessierter Seite, die so gern โZensurโ schreit, aber anderen gern das Denken und den Mund verbieten mรถchte.
Und weil Bommarius genau an der Stelle einen Punkt setzt und betont, dass er auch noch keine Lรถsung weiร, setze auch ich hier einen Punkt.
Wer Bommarius beim Leipziger Lesefest โLeipzig liestโ erleben will, hat dazu am Sonntag, 24. Mรคrz, Gelegenheit.
Termintipp:
Am Sonntag, 24. Mรคrz, ab 10 Uhr wird der Leipziger Literaturwissenschaftler Siegfried Lokatis (der selbst ein Buch รผber Zensur geschrieben hat) mit Christian Bommarius bei der Leipziger Buchmesse bei der Veranstaltung โDas Blaue Sofaโ in der Glashalle der Leipziger Messe zum Thema โZensurโ diskutieren. Die Moderation hat Susanne Biedenkopf, Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Wirtschaft, Recht, Service, Soziales und Umwelt รผbernommen.
Wรคhrend Siegfried Lokatis dabei sein neues Buch โVerantwortliche Redaktion. Zensurwerkstรคtten der DDRโ aus dem Hauswedell Verlag vorstellt, beschรคftigt sich Christian Bommarius in seinem Buch โDie neue Zensur: Wie wir selbst unsere Meinungsfreiheit bedrohenโ aus dem Duden Verlag mit einer neuen Art Zensur, die dadurch entsteht, das der รถffentliche Diskurs heute von Menschen okkupiert wird, die jede Diskussion dadurch unterbinden, das sie andere niederbrรผllen, diskreditieren und mit Beleidigungen zum Schweigen bringen.
Christian Bommarius Die neue Zensur, Duden Verlag, Berlin 2019, 16 Euro.
Haltung: Mely Kiyaks eindringlicher Essay gegen das Lautsein
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So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
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โDer scheinbar gesetzlose Raum des Internets hat sich nach 30 Jahren leider nicht als Ort der groรen Freiheit entpuppt, โฆโ Doch, ich denke schon, nur Facebook, Twitter & Co sind gerade nicht das Internet, sondern so ziemlich das Gegenteil: Monopole, die den Nutzer so lange wie mรถglich im eigenen Raum behalten wollen und mรผssen, um Geld zu verdienen. Das Netz als freier Raum ist denen nicht egal, sie wรผrden es sogar abschaffen, wenn sie kรถnnten, es schadet ja nur dem Geschรคft.
Ist nur ein Aspekt am Rande, hilft aber vielleicht beim weiterdenken.