Sachsen kommen nicht in den Himmel. Können sie ja gar nicht, so renitent, wie sie sich benehmen, nicht wahr? Und so ein richtiger Himmel ist es auch nicht, in den der Leipziger Musiker und Schriftsteller Peter Lemar sein Alter ego hier geraten lässt, eher so eine Art große Wandelhalle vor der letzten Tür, in der die Berühmten und Berüchtigten plaudernd auf den letzten Schritt warten. Eine Art Wunschort für den nicht so berühmten Leipziger, an dem er einmal all jene Leute sprechen könnte, die ihn auf Erden so beeindruckt haben. Wie bei Dante, könnte man meinen.

Aber bei Dante sitzen ja bekanntlich die interessanteren Leute alle in der Hölle und werden von Teufeln gequält. Dante rechnete ab für die Ewigkeit. Und er hat recht behalten: Seine Sünder und Bösewichte sind praktisch nur noch bekannt, weil Dante sie in der Hölle schmoren lässt.

Dazu ist Peter Lemar wahrscheinlich zu nett. Wie die meisten Sachsen. Sie grummeln und grollen zwar und wettern online und offline, wählen auch gern Kandidaten, die eigentlich reif sind für diverse Dantesche Höllenkreise – aber sie schicken tatsächlich niemanden offiziell in die Hölle. Sie sind eher wie der missmutige Hausmeister von Uwe Steimle, eher so Müsste- und Sollte-Typen.

Meistens wissen sie alles besser, auch wenn sie nicht studiert haben. Und wenn man ihnen widerspricht, werden sie ningelig. Das halten sie nicht aus. Vielleicht auch, weil sie es nicht geübt haben oder weil ihr Selbstbewusstsein ziemlich heftig demoliert ist, ihr Über-Ich sie fortwährend züchtigt, während ihr Ich sich dreht und wendet vor Verlegenheit und Ängstlichkeit.

So, wie es die netten Herren Freud und Jung dem forschen Sachsen erzählen, als er sie tapfer anspricht und mit ihnen über Ich-Bewusstsein und Massenpsychologie debattiert. Was ja kein Zufall ist. Genauso wie Dante hat auch Peter Lemar seinen „Himmel“ bestückt mit Leuten, die ihn im Leben umtreiben. Die meisten schon länger mausetot.

Aber mit Gedanken, Sinnfragen und den großen Menschheitsproblemen ist es ja so: Sie vergehen nicht, so wie die lächerlichen Leben all der Lebemänner und Taugenichtse, die Dante in der Hölle schmoren lässt. Diese Leute wären tatsächlich fast alle vergessen, wenn Dante sie nicht in seine Höllenkreise gebannt hätte.

Die Leute aber, die Peter Lemars Himmelsbesucher trifft, sind allgegenwärtig mit ihren Ideen, ihrer Musik (Mozart, Falco und Wagner), ihrer Dichtung (Goethe und Schiller), ihrer Philosophie (Nietzsche und Schopenhauer), ihrer Forschung (Einstein und Gödel) oder ihren politischen Auftritten (Lenin, Trotzki, Hitler und Kennedy). Sie sitzen in den Zimmern vor der letzten Tür oder spazieren plaudernd durch die Galerie.

Und forsch spricht Lemars Himmelsbesucher sie einfach an, versucht mit ihnen über ihre Werke und Taten zu sprechen. Da kommt auch der Lehrer im Autor durch, denn als solcher hat Peter Lemar ja auch mal gearbeitet. Wir haben auch so einen typischen ostdeutschen Bildungskanon vor uns. Angereichert durch allerlei Lesefrüchte, die wahrscheinlich aus Stapeln populärwissenschaftlicher Literatur stammen, die Lemar verschlungen hat.

Denn er frappiert die Berühmten mit Wissen, das oft spätere Biografen erst ausgegraben haben, das die Zeitgenossen gar nicht hatten. Es gibt ja zu jedem Berühmten Berge von populärer Literatur, in denen das, was für gewöhnlich nur die Spezialisten und Wissenschaftskollegen wirklich verstehen, versucht wird, dem nicht so genialen Menschen hier unten zu erklären.

Was meist noch klappt, weil die Autoren dieser Sekundärliteratur zumindest noch am Originalstoff arbeiten. Aber wir leben ja längst in einer Welt, in der immer mehr Informationen aus dritter oder vierter Hand stammen, manches auch von Leuten geschrieben, die geradezu besessen sind von Geheimnissen, Verschwörungen und Dingen, die scheinbar sonst niemand wissen darf. Ein Problem, das Peter Lemar durchaus ernst nimmt.

Die seltsame Welt der Desinformation in unseren heutigen Medien spricht er mehrfach an. Aber ganz entziehen kann er sich dem nicht. Es ist ja allgegenwärtig, auch die ganze Geschichte mit der Mondlandung, die nie stattgefunden haben soll. Lemar bezieht sich dabei tatsächlich auf ein Gespräch von Frank Schirrmacher mit Neil Armstrong, in dem Armstrong zur Mondlandung nichts hätte gesagt haben sollen. Bei Servus TV will er das so gefunden haben, einem österreichischen Privatsender aus dem Hause Red Bull Media House.

Die komplette Talkrunde mit Neil Armstrong ist freilich auch auf Youtube zu finden.

Hier ist sie.

https://www.youtube.com/watch?v=iHk0ga56qtw

Und hier hat Armstrong sichtlich eine Menge zu seinem ersten Schritt auf den Mond zu sagen.

Man ahnt bei so einem Beispiel, was für eine Macht diese vielen obskuren Senderchen haben, die sich im Youtube-Kosmos tummeln, die so aussehen, als wären sie seriös, aber in Wirklichkeit versorgen sie die scheinbar gut informierten Zuschauer fortwährend mit Trash. Dumm nur, dass sich heute die Mehrheit der Mediennutzer genau hier über die Welt informiert.

Auch die Sachsen. Da können klassische Medien recherchieren, aufklären, korrigieren so viel sie wollen – sie erreichen diese Menschen gar nicht mehr. Und wenn doch, steht der Trash aus all diesen seltsamen Youtube-Kanälen in direkter Konkurrenz, scheint einfach so Behauptung gegen Behauptung zu stehen.

Als wäre alles gleich. Oder eben – wie es auch Lemars Himmelsbesucher geht – als wären überall Geheimnisse, Geheimbünde oder eben „erstaunliche wissenschaftliche Erkenntnisse“, die die Forschung eines Albert Einstein einfach mal über den Haufen werfen. Wäre dieser Himmelsgast nicht auch Freud und Jung begegnet, würde ich so meine Zweifel bekommen, ob er das wirklich alles ernst meint, was er da mit Leuten diskutiert, bei denen ich persönlich lieber übers Wetter, über Frauen oder die Liebe zur Musik reden würde, als ausgerechnet über Relativitätstheorie, Photonen oder Quantenphysik.

Oder wie im Fall Gödel über Höhere Mathematik. Aber dieser Sachse kennt weder Scheu noch Pardon, schnappt sich die Berühmten und zeigt ihnen, wo der Hammer hängt. Ein kleines bisschen Größenwahn? Kann sein. Das wäre typisch sächsisch. Genauso wie das uneingestandene Leiden am anerzogenen Über-Ich, über das er mit Freud und Jung diskutiert.

„Und Schuldgefühle tauchen auf, wenn die Gebote und Verbote des Über-Ichs nicht befolgt werden“, lässt er seinen Freud sagen. „Wobei große Teile des Über-Ichs unbewusst sind, weswegen Ich und Über-Ich eine wichtige Rolle spielen bei der Verdrängung.“

Weshalb es wie eine Bombe einschlug, als die DDR-Verlage 1983 zum allerersten Mal Bücher von Freud auflegten. Sieben Jahre Kampf waren dem vorausgegangen, stellte Franz Fühmann noch kurz vor seinem Tod fest. Er selbst hatte mitgekämpft. So erzählen es Simone Barck und Siegfried Lokatis in ihrem Buch „Zensurspiele“. Und als die Freud-Bücher da waren, wurden sie verschlungen.

Denn so ganz unbewusst waren den lesenden DDR-Bürgern das Über-Ich und seine Folgen schon lang nicht mehr. Im Gegenteil: Sie wussten es sehr gut einzuordnen in ihre Erfahrung mit einer unübersehbar autoritären Gesellschaft und einer autoritären Erziehung, welche genau das ganz bewusst in die jungen Köpfe implementierte: ein strenges, moralinsaures Über-Ich, das seine Bürger sich selbst kontrollieren ließ und ihnen all die seltsam bornierten Selbst-Bilder anerzog, die heute in Sachsen so obskure Urständ feiern.

Peter Lemar zeigt eigentlich, wie aktuell das alles noch ist – auch wenn er sich sichtlich mit der moderneren Gehirnforschung nicht mehr beschäftigt hat, die sich sehr wohl intensiv mit der Frage beschäftigt, wie unsere Ich-Wahrnehmung tatsächlich entsteht. Und welche Rolle dabei Erziehung, Familie und Gesellschaft spielen. Die Probleme in der Selbstwahrnehmung entstehen ja gerade deshalb, weil sich das nicht trennen lässt.

Weshalb viele Sachsen augenscheinlich auch gar nicht wissen, woher ihre Vorurteile, Regelvorstellungen und falschen Erwartungen kommen. Sie laufen herum mit einem ausgestellten Selbstbewusstsein, das nur kaschiert, wie sehr sie innerlich eigentlich von Minderwertigkeitsgefühlen und Schuldbewusstsein geplagt sind. Und sie greifen zum anerzogenen Mittel: Sie projizieren ihre Ängste und Abgründe auf andere, externalisieren also ihr desolates Selbstbild.

Zumindest der Hallenser Psychologe Hans-Joachim Maaz wusste, was das für eine ganze verdruckste Gesellschaft wie die „geschlossene Gesellschaft“ DDR bedeutete – er hatte ja alle diese Typen auf der Couch liegen.

Es ist auch das erhellende Kapitel im Buch, das ein wenig verrät, warum dieser Himmelsgast aus Sachsen unbedingt auch noch Leuten wie Lenin, Trotzki und Hitler klarmachen will, wo Hammer und Sichel hängen. Im richtigen Leben begegnet man solchen Typen ja nicht. Aber das Bedürfnis, ihnen (bei Gelegenheit) mal zu sagen, was sie falsch gemacht haben, scheinen doch sehr viele Menschen zu haben.

Auch solche, die dann in all diesen obskuren Medien mit felsenfester Überzeugung behaupten, es wäre nicht nur ein einziger plombierter Zug durch Deutschland gefahren. Und wenn Hitler nicht an die Macht gekommen wäre, hätte ein anderer den Krieg vom Zaum gebrochen. Es geht schon irre zu in diesen ganzen „sozialen Medien“, in denen jeder alles erzählen und behaupten darf, was ihm so als richtig erscheint.

Und da alle in ihrer Blase unterwegs sind, wird das auch nie korrigiert. Die Befürchtung, die Lemar an einer Stelle ausspricht, stimmt wohl: Wir geraten in eine seltsam diffuse Welt, in der eine Menge Leute die Massenpsychologie professionell zu nutzen und zu missbrauchen wissen, um ganze Gesellschaften zu manipulieren mit Halbwahrheiten und echten Lügen – bis solche Sachen wie der Brexit dabei herauskommen.

Und auch mit Nietzsche und Schopenhauer spricht der Sachse über die Manipulierbarkeit des heutigen Menschen, der so absolut nicht versucht, endlich über sich hinauszuwachsen.

Wir lernen im Grunde den kleinen Kosmos kennen, in dem Peter Lemar mit den Leuten diskutiert, an denen er sich nun ein Leben lang schon irgendwie reibt. An einigen reibt er sich, weil er ihre Haltung einfach nicht akzeptieren kann, anderen will er einfach seine wortreiche Verehrung offerieren.

Und da das eine Geschichte im Himmel ist, hören alle brav zu und akzeptieren den überschwänglichen Sachsen als Gesprächspartner. Bis zu jenem Moment, in dem die ersten beginnen, auf die letzte Tür zuzuschreiten und endgültig Abschied zu nehmen vom Berühmt- und Wichtigsein.

Peter Lemar Ein Sachse im Himmel, Agenda Verlag, Münster 2018, 14,90 Euro.

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Schön, mal wieder was von Herrn Lemar zu hören (und bald auch zu lesen ;-))…

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