Da fürchtete Gunter Preuß doch tatsächlich, dass mir sein neuestes Buch nicht „schmecken“ würde, sein „vorhergesagter Nachruf“, der sich schon ein wenig so liest, als nehme hier ein nachdenklicher Schriftsteller so langsam Abschied. Immerhin wandert auch der beliebte Kinderbuchautor und Aphoristiker so langsam auf die gesegneten 80 zu. Und auf den Menschen an sich würde er wohl keinen Pfifferling mehr verwetten.

Ehrlich gesagt: Ich auch nicht. Auch wenn sich der eigensinnige Leipziger Schriftsteller gern als Außenseiter und Narr schildert und die von weiland Volker Braun bekannten Herren Hinz und Kunz miteinander ringen lässt, als hätte er zwei Seelen in der Brust oder zwei ewig Ringende im Kopf – was er in diesem Buch wieder zusammengetragen hat, ist bissiger Stoff, nichts, was man „mal so in einem Rutsch“ wegliest. Also nicht von jener leicht verkäuflichen Ware, die Preuß so verabscheut, und die dennoch den Markt verstopft und Leser eher davon abhält, über die Dinge in der Welt nachzudenken.

Preuß ist nicht nur selbst ein Nachdenklicher. Er schreibt Stoff, der zum Nachdenken und Anstoßnehmen auffordert. Er will nicht geschmeidig sein, sondern kantig und eckig. Und er ist so allein nicht, wie er zuweilen denkt, auch wenn ein nachdenklicher Mensch in unseren rasenden, oberflächlichen Zeiten immer öfter so ein Gefühl haben darf. Mit Reinhard Lochner, Walter Thümler und Jürgen Große (die Links zu ihren Büchern findet man unterm Text) haben wir ja schon drei Geistesverwandte mit ihren Büchern besprochen.

Aber auch wenn sie es oft nicht so drastisch ausdrücken, kommen sie im Grunde zum selben Fazit wie Gunter Preuß: „Ich will es wurstig ausdrücken: Mir sind im deutschen Lande noch nie so viele überfressene Menschen mit dermaßen kolossalem Fettspeicher und erbsenkleinen Köpfen begegnet wie heutzutage. Und die, die uns gern so sehen und daran verdienen, tun alles dafür, dass es so bleibt. Denn nichts steht der Einsicht, die ja Denken voraussetzt, und der Veränderung mehr im Weg, als ein fetter Bauch.“

Das Buch vereint nicht nur Aphorismen, sondern auch die schon erwähnten kleinen Dialoge von Hinz und Kunz, kleine Essays, Abschweifungen und das große Lamento „Mensch, Mensch“ gleich zum Einstieg, ein Lamento, in dem er – mit Blick auf das, was wir als Menschen insgesamt auf diesem schönen Planeten anrichten – zu dem Fazit kommt, dass der homo sapiens nicht (mehr) zu retten ist. Und wohl auch nie zu retten war.

Denn die „Krone der Schöpfung“ bringt es nicht fertig, tatsächlich zum Menschen zu werden, also verantwortlich zu handeln für sich und die Seinen und eine mögliche Zukunft auf diesem Planeten. Logisch, dass er die derzeit gern aufschwappenden Prophezeiungen, dann müsste die Menschheit halt, wenn sie diesen Planeten versaut hat, auf eine „zweite Erde“ auswandern, für baren Irrsinn hält. Manche dieser Propheten tun ja tatsächlich so, als müssten wir nur unsere Sachen packen.

Man versteht, warum Preuß von dieser Spezies, die sich mit Besitz und Geschwätz Tag für Tag betäubt, nicht mehr viel hält. Und dass er ihr auch nicht mehr zutraut, endlich über dieses tierische Verhalten hinauszuwachsen und ein „neuer Mensch“ zu werden. Wobei er sich sehr auf Nietzsches Zarathustra bezieht, aus dessen Überdrüssigkeit er eine deutliche Distanz gewinnt zum verrückten Treiben in Bunte Kuh. Nur dass sich seine Bunte Kuh schon deutlich von der des Zarathustra unterscheidet.

Das Volk ist längst ein sattes, übersattes. Es verweigert ja regelrecht das Nachdenken über Lösungen. Es ist völlig damit beschäftigt, sich immer mehr Dinge aufzuhalsen, die ein glücklicheres Leben versprechen. Aber glücklich werden diese Menschen ganz unübersehbar nicht, hilfsbereit und anderen zugeneigt schon gar nicht.

Im Gegenteil: „Während der, welcher nichts hat, alle Kräfte mobilisiert, um das Notwendigste zu beschaffen, erschlafft der, welcher alles besitzt, bis zur völligen Freudlosigkeit. Wenn unsere Welt, die wie ein Karren tief im Dreck steckt, überhaupt noch da herauszubewegen wäre, dann nicht von den Satten, sondern von den Hungrigen.“

Nur: Wo sind diese Hungrigen?

Das „Volk“, das sich so gern am Nasenring durch die Manege führen lässt, kann es ja wohl nicht sein.

Es gibt ein paar sperrige Stellen im Buch, sicher. Da ploppen ein paar Fragezeichen auf. Wie könnte es anders sein, wenn einer sucht und mit wachsendem Alter erkennt, dass es da nicht allzu viele gibt, mit denen er sich wirklich angeregt unterhalten könnte. Denn die, denen man so tagtäglich begegnet, sind eigentlich nicht da.

„Die Menschen wollen nicht auf andere Gedanken kommen, sie wollen sich davon ablenken.“

Es gibt viele herrliche Stellen, in denen er sich darüber Gedanken macht, warum so viele Menschen sich nasführen lassen, Besitztümern nachjagen, die sie nicht glücklich machen, Frauen heiraten, mit denen sie nichts anfangen können, sich mit Wissen auffüllen, das vielleicht beim Kreuzworträtselausfüllen hilft, aber nicht beim Verstehen der Welt. Als wären sie alle nur auf der Flucht vor ihrem eigenen Leben. Als wäre das Leben samt der Freiheit, es zu er-leben, nichts wert.

„Wir erfinden auch noch das Ding, das uns das Leben abnimmt.“

Aufmerksam beobachtet er, was mit den Menschen um ihn herum geschieht, wohin es führt, wenn sie immer mehr im Gelärme der aufgeheizten Diskussion verschwinden. Kaum einer hält noch Nähe aus. „Kommst du den Leuten entgegen, so fühlen sie sich verunsichert – sie sind es eher gewöhnt, angegriffen als umarmt zu werden.“

Es sind nicht nur solche Stellen, an denen man merkt: Das kommt einem doch verflixt vertraut vor. Und befremdend, weil gerade die Älteren, die wie Preuß die DDR noch erlebt haben, wissen, dass es einmal anders war. Notgedrungen, aber auch als Wert empfunden. Als man sich durch ein paar Betonköpfe gegängelt, bevormundet und mit Misstrauen überzogen fühlen durfte, aber noch Raum war für Gemeinsames. Es ging nicht darum, sich zu verkaufen, dem schreienden Markt gerecht zu werden und den Nebenbuhler mit harter Kante aus dem Rennen zu fegen.

Im hinteren Teil des Buches hat Preuß aus einer älteren Schrift seine sehr dissonante Beziehung zur DDR noch einmal zitiert. Und auch damals war er ein Unangepasster, wagte den eigenen Kopf und opponierte gegen Kleingeist und Bevormundung. Er erlebte die Betonköpfe und die Opportunisten, die 1989/1990 so schnell zu Wendehälsen wurden, dass man sich heute noch wundert, wer alles Widerstandskämpfer war, obwohl er vor 1989 ganz eindeutig ein opportunistisches Rädchen war.

Aber Preuß wäre nicht Preuß, wenn er darin nicht wieder das Menschliche, leider nur allzu Menschliche sehen würde. Was dann auch mal in so einen bissigen Aphorismus mündet: „Wenn wir lernen würden, für die Vernunft Partei zu ergreifen, brauchte es keine Parteien mehr.“

Man merkt: Da wirkt nicht nur der gelesene Nietzsche fort. Da steckt auch ein bisschen vom alten Kant in diesem Nachdenker, der Aufklärung durchaus noch für eine hochaktuelle Angelegenheit hält – und eher überzeugt ist, dass die meisten Mitmenschen gar nicht gewillt sind, Gängelei und Bevormundung zu verlassen, sich lieber einen neuen Führer suchen, der sie an der Leine führt.

Widerspenstiger Stoff, mit Ecken und Kanten.

Und einem Pessimismus, der in seiner Grimmigkeit weniger an Nietzsche als an Schopenhauer erinnert.

Und wer jetzt glaubt, dass er in der Religion vielleicht einen Trost fände, wird eines besseren belehrt: „Erlösung: Eigentlich ist das menschliche Leben viel zu kurz, um über das ewige Leben zu salbadern.“

Oder über andere Abstraktionen wie Freiheit, die uns allerenden von den Kanzeln gepredigt wird, obwohl die meisten Menschen sich ganz unübersehbar in lebenslange Unfreiheiten begeben und sich in diesen Abhängigkeiten auch noch wohlfühlen. Zu fühlen scheinen.

Oder schön zugespitzt: „Die Made im Speck: Leben wir doch gerade im goldenen Westen, von der Welt beneidet, unterm Zwang der ökonomischen Verhältnisse in gemütlichen Knechtschaftsverhältnissen.“

Den Predigten der Freiheit misstraut er offensichtlich. Denn das, was den Leuten als Freiheit verkauft wird, ist letztlich nur ein Surrogat, das aufgeblasene Versprechen, man könne sich das Glück im Leben zusammenkaufen und müsste dabei auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen.

Das Gegenteil ist wohl richtig. Denn diese Art Freiheit ist gefühl- und mitleidlos. Ihr fehlt die menschliche Dimension und das sorgt dafür, dass Menschen nicht mehr miteinander reden und in Wirklichkeit immer einsamer werden: „Immer mehr Menschen meiden die Berührung anderer, aber mit sich allein fühlen sie sich einsam und so gehen sie im Pulk auf.“

Viele Einsame, die gemeinsam brüllen, sind nun einmal noch lange kein Volk.

Da hat das, was auf den Straßen geschieht, inwendig auf einmal genau mit dem zu tun, was unsereins heute als Lifestyle verkauft wird: „Armes Völkchen: Leute, die dazu kommen, sich die Zeit zu vertreiben, klagen immerzu, dass sie keine Zeit haben und zu nichts kommen.“

Selbst auf heutigen Fotos fällt ihm auf, wie die Abgebildeten deutlich auf Distanz zueinander gehen, nicht mehr selbstbewusst aussehen wie Menschen früher auf Fotos, sondern wie Schauspieler, die nur noch Rolle sind.

„Und wann schweigen wir schon mal gemeinsam und lauschen der Stille? Es ist ein ständiges Geschwätz in und außer uns.“

Selbst über die dissonanten Stellen lässt sich nachdenken. Und diskutieren. Nicht nur Gunter Preuß vermisst ja die ernsthafte Debatte, bei der man sich nicht gegenseitig ständig mit Streit überzieht, sondern zuhört, vielleicht, dass es ja Gründe gäbe, seine eigene Haltung zu korrigieren. Wir sind ja nicht wirklich schweigende Zarathustras auf dem Berge, sondern Teil des Dilemmas, egal, wie gern wir uns distanzieren. Denn dass uns vieles als Schein und Selbstbetrug verkauft wird, als Placebo, das wird einem eigentlich schnell klar, wenn man sich das riesige Angebot im Laden der Wunderdinge anschaut.

„Der Schein verspricht dem Menschen mehr Freiheit als das Sein.“

Der Schein ist die eigentliche Ware, was noch deutlich wird, wenn Preuß über sein Leben in der DDR nachdenkt und vergleicht mit dem Jetzt und Hier: „Das präsente, geradezu stinkreiche Deutschland hat seine Seele an das Geld und den Profit verkauft. So kann es einem einige Zeit gutgehen, man kann eine Menge Spaß haben und im Gefühl leben, sich die Welt kaufen zu können – aber froh werden, dass es einem im Herzen warm wird, kann man so nicht.“

Der Text geht weiter. Aber hier lässt sich ein guter Punkt setzen. Ein Stolper-Punkt, wie es so viele in diesem Buch gibt, manche zum blitzscharfen Aphorismus geschliffen, manche in einer unbändigen Suada versteckt, die gerade durch ihre Emotionalität zeigt, dass Preuß das alles ganz und gar nicht egal ist. Und dass er sich so gern wünschen würde, der homo sapiens wäre anders und vor allem bereit, endlich zum (richtigen) Menschen zu werden.

Das Buch “Mensch, Mensch” ist beim Passage Verlag erschienen.

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