Natรผrlich geht es nicht ohne dicke Fragezeichen am Rand einiger Seiten im Buch ab. รœberall dort, wo dem nicht mundfaulen Moderator die Pferde durchgehen, wo er zu stark in den zuweilen unerbittlichen, oft aber auch selbstgerechten Ton des Hauses Springer fรคllt. Weshalb er auch besonders gern โ€žBildโ€œ und โ€žWeltโ€œ zitiert. Mit den Kollegen dort ist er nach wie vor auf einer Wellenlรคnge. Das ist nicht immer nur Geschmackssache.

Im Abspann verweist er zwar darauf, wie emsig Quellen und Zahlen im Buch noch einmal gegengecheckt wurden. Aber das reicht bei vielen Zahlen nicht. Oft kommt der moralische โ€žDrehโ€œ bei solchen Zahlen erst zustande, wenn man ร„pfel mit Birnen vergleicht (was auch bei Statistiken von Polizei und Verfassungsschutz zuweilen der Fall ist), wenn man den falschen VergleichsmaรŸstab nimmt und Anteile fรผr absolut nimmt, die im beleuchteten (Delikt-)Feld nur einen kleinen Ausschnitt zeigen. Usw.

Wer โ€žBildโ€œ kennt weiรŸ, wie das zuweilen zu echten Rabauken- und Rabatz-Geschichten fรผhrt.

Aber Strunz macht eigentlich etwas, was aus dem politischen Teil der deutschen Zeitungen fast vรถllig verschwunden ist. Er prangert auch Angela Merkel nicht einfach nur an, dass sie schuld sei an allem, was seit 2015 oder wahlweise 2005 passiert ist. Trotzdem analysiert er erst einmal das, was Merkels Politikstil seit Anfang an ausmacht und warum das dazu fรผhrt, dass immer mehr Bรผrger im Land das quรคlende Gefรผhl haben, dass unsere Politik keine Lรถsungen mehr anbietet, dass es keine Vorschlรคge fรผr eine wie auch immer geartete Zukunft mehr gibt, dass Politik irgendwie zu etwas Konturlosem geworden ist.

โ€žPolitik ist fรผr Merkel also in erster Linie nichts, was von Inhalten oder Haltungen โ€“ um nicht zu sagen: รœberzeugungen โ€“ bestimmt und angetrieben wirdโ€œ, schreibt Strunz. โ€žSeit mehr als zwรถlf Jahren lebt sie an der Spitze der Regierung fรผr jede Bรผrgerin und jeden Bรผrger erkennbar vor, dass man ohne eigene Haltung in den Kernfragen der Politik erfolgreich im Amt bleiben kann. Dass sich nur unnรถtig angreifbar macht, wer zu frรผh โ€“ also im falschen Moment โ€“ eine eigene Meinung, einen Standpunkt, eine รœberzeugung zu erkennen gibt. Dabei ist genau das das Wesen einer gelebten Demokratie: Haltung trifft auf Haltung โ€ฆโ€œ

Einerseits ist es etwas Positives. Denn Merkels โ€žMainstreamโ€œ-Politik ist durchaus angenehmer als so manches, was einige der Mรคnner in der deutschen Politik als โ€žHaltungโ€œ verkรผnden. Aber indem Angela Merkel immer erst wartet, bis sich so eine Art รถffentliche Stimmung gebildet hat und sie dann sogar einstige Positionen ohne Kommentar ins Gegenteil verkehrt, entsteht der Eindruck einer vรถllig beliebigen Politik. Und es geht etwas verloren, was Wรคhler/-innen augenscheinlich wirklich von Politik erwarten: Dass diese รผber den Tag hinaus denkt und Kommendes gestaltet โ€“ und nicht einfach abwartet, bis es mit Karacho eintritt.

Strunz: โ€žMit einer solchen Art, Politik zu machen, lebt Angela Merkel den Menschen seit dreizehn Jahren das Falsche vor: Strebe nicht mit aller Kraft nach dem Wรผnschenswerten, sondern konzentriere dich vor allem auf das Machbare. So verkommt Politik zur bloรŸen Macht-Dienstleistung.โ€œ

Worรผber man stolpern darf. Kann es sein, dass das auch bei vielen anderen Politikern lรคngst der Normalzustand ist? Immerhin verwendet Strunz auch eindeutige Begriffe wie Elite und Establishment. Es ist also nicht nur Angela Merkel, die sich in dieser Art โ€žDienstleistungโ€œ eingeรผbt hat. Sie ist nicht allein schuld daran, dass unsere Demokratie โ€žvon innen her austrocknetโ€œ, wie Strunz schreibt.

Frank-Walter Steinmeier, der mit den Stimmen der GroรŸen Koalition zum Bundesprรคsidenten gemacht wurde, kommt nicht besser weg. Exemplarisch erzรคhlt Strunz Steinmeiers windelweiches Verhalten gegenรผber dem tรผrkischen Autokraten Erdogan, der seinen Berlin-Besuch dazu nutzte, nicht nur fรผr seine illiberale Herrschaft zu werben, sondern Steinmeier auch gleich noch brรผskierte, indem er die Herausgabe tรผrkischer Journalisten forderte. Ohne dass Steinmeier deutlich gegenhielt.

Man merkt, dass an so einer Stelle dem Demokraten Strunz die Hutschnur platzt: Wer, bitteschรถn, soll denn fรผr unsere Demokratie sprechen und klare Grenzen ziehen, wenn nicht mal der oberste Prรคsentant den Mund aufkriegt? Eine Demokratie, die sich wirklich jede Bosheit von Autokraten und Menschenfeinden gefallen lรคsst, ist tatsรคchlich wehrlos. Jeder kleine Tyrann glaubt dann, dass er mit ihr machen kann, was er will. Denn der Staat (und Strunz schreibt mehrere saftige Kapitel zum Zustand unseres Staates) erweist sich nicht als wehrhaft, zieht sich zurรผck, verurteilt selbst Terroristen und Extremisten zu lรคcherlichen Strafen oder lรคsst sie gleich auf freiem FuรŸ.

Gerade die Taten eines Anis Amri und etlicher anderer โ€žjunger Mรคnnerโ€œ, die โ€“ oft mit mehreren Identitรคten und ohne gรผltigen Aufenthaltsstatus โ€“ ihre Straftaten begingen, machen Strunz wรผtend. Was ja auch schon fรผr eine kleine Medienempรถrung sorgte, weil er in einer Show fragte: โ€žWann sind die endlich weg?โ€œ

Aber er beleuchtet auch die Hintergrรผnde, die dazu gefรผhrt haben, dass wir heute einen derart diffusen Zustand haben. Noch immer hat Deutschland kein richtiges Einwanderungsgesetz, was ein Grund dafรผr ist, dass das Asylgesetz gedehnt und gedeutet wird weit รผber die Grenzen des Sinnvollen hinaus. Was dann wieder zur รœberforderung der Behรถrden fรผhrt โ€“ Straftรคter werden nicht abgeschoben, Menschen, die eigentlich Recht auf Asyl haben, mรผssen es sich erst einklagen.

Dahinter steckt fรผr Strunz die Frage, warum Deutschland sich so windelweich gibt. Denn einerseits gibt es jede Menge auch begrรผndeter Vorbehalte gegen einen neuen deutschen Nationalismus. Man versteht schon, dass viele Politiker bei dem Thema zurรผckschrecken.

Aber in seiner Analyse stellt Strunz eben auch fest, dass Deutschland in der Welt der Wanderungs- und Flรผchtlingsbewegungen lรคngst genau so eine Rolle spielt wie die USA, Kanada oder Australien. Alle vier Lรคnder wirken auf Menschen in aller Welt als attraktive Ziele, es sind Vorbildlรคnder mit Aufstiegschancen und mehr oder weniger starkem Sozialstaat, mit (noch) guten Bildungsstrukturen, funktionierenden Stรคdten und Infrastrukturen โ€“ und einem funktionierendem Rechtsstaat. Ein Haufen Grรผnde, die eben auch zeigen, dass diese Lรคnder auch im Wettbewerb der Nationen als attraktiv angesehen werden.

Deutschland lรถst sich also nicht irgendwie auf in der EU, sondern ist โ€“ mal so formuliert โ€“ immer noch eine starke nationale Marke. Nur hat es โ€“ anders als die USA, Kanada und Australien โ€“ kein Einwanderungsgesetz, das klar und deutlich definiert, welche Voraussetzungen Menschen mitbringen mรผssen, die nach Deutschland einwandern wollen. Er nimmt den Leser mit an die Hand. Und man merkt, dass er die Diskussionen zu unseren AuรŸengrenzen sehr genau verfolgt hat.

Wรคhrend sein Vorschlag zur intelligent รผberwachten Landesgrenze zumindest sehr eigenwillig wirkt, wird die ร„nderung der deutschen (europรคischen) Einwanderungspolitik ja schon ernsthaft diskutiert. Man beendet die gewaltigen Flรผchtlingsstrรถme รผbers Mittelmeer nicht, indem man Frontex immer weiter aufrรผstet, sondern indem ein Land wie Deutschland auch in den mรถglichen Herkunftsstaaten klar kommuniziert, welche Einwanderungsbedingungen die Bewerber erfรผllen mรผssen. Und dann dรผrfen sie nicht erst an der bayerischen Grenze aufgefangen werden, sondern mรผssen schon in ihren Heimatlรคndern mit der AuรŸenstelle eines deutschen Migrationsministeriums in Kontakt kommen, wo sie auch (nach dem kanadischen Modell, so schlรคgt Strunz vor) erfahren, ob sie die Bedingungen fรผr eine Einreise erfรผllen.

Das, so Strunz, wรผrde viele Menschen davon abhalten, sich auf die lebensgefรคhrliche Fahrt รผbers Mittelmeer zu machen. Und in Deutschland mรผsse das Gemauschel auch aufhรถren, schreibt er. Es kรถnne nicht sein, dass hunderttausende Menschen jahrelang in einem gesetzlich eigentlich nicht vorgesehenen Duldungsstatus leben mรผssen, jederzeit von Abschiebung bedroht, bloรŸ weil deutsche Behรถrden keine klaren Entscheidungen treffen, ob ein Mensch Asyl bekommt oder wieder ausreisen soll.

Und auch von der doppelten Staatsbรผrgerschaft hรคlt er nichts. Was man versteht, wenn er begrรผndet, was er unter Patriotismus 2.0 versteht. Da gehe ich jetzt ein wenig รผber ihn hinaus, denn es geht nicht eigentlich um den klassischen Begriff Nation. Aber gerade die Analyse zeigt, dass Deutschland eben nicht nur wirtschaftlich mit anderen Staaten konkurriert, sondern mit einem modernen Sozialstaat, wie ihn nur wenige Lรคnder auf der Erde haben. Der aber nur funktioniert, weil er national finanziert wird. Und dazu kommt eben auch das deutsche Staatsmodell, ebenfalls besser funktionierend als anderswo. Beides ganz starke Grรผnde fรผr gut gebildete Menschen, hier einzuwandern.

Aber das, so Strunz, bedinge eben auch, dass sich die Eingewanderten zu diesem Staat bekennen โ€“ und nach gewisser Frist ihre zweite Staatsbรผrgerschaft abgeben, wenn sie in Deutschland bleiben wollen.

Auch wenn Strunz unserem Staat attestiert, dass er in den vergangenen Jahren gewaltig abgebaut hat und fรผr viele Bรผrger nicht mehr richtig funktioniert. Das beginnt bei einer Polizei, die an Personalmangel leidet und viele schwere Straftaten nicht mehr verfolgen kann. Das geht bei einer รผberlasteten Justiz weiter, die in den nรคchsten elf Jahren รผber 4.000 Richter und Staatsanwรคlte aus Altersgrรผnden verlieren wird.

Das geht mit einem Flickenteppich von Schulsystem weiter, in dem Kinder in 16 Lรคndern unterschiedlichste Lernstoffe vorgesetzt bekommen, dem aber auch jetzt schon 40.000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen. Ganz zu schweigen von dem anmaรŸenden Druck, den Eltern auf die wenigen verbliebenen Lehrer ausรผben, weil ihre Kinder nach ihrem Geschmack zu schlechte Noten bekommen.

Strunz komprimiert zu all seiner Kritik auch immer Vorschlรคge, die er dann am Kapitelende bรผndelt. Man muss nicht alle teilen. Aber einige sind eigentlich so auf der Hand liegend, dass man wirklich mit vollem Recht fragen kann: Warum wird das nicht einfach gemacht? Worauf warten die denn, diese Politiker?

So plรคdiert Strunz fรผr die komplette Entlastung der Lehrer von bรผrokratischem Verwaltungskram, fรผr eine Vorschule fรผr alle Kinder, ein einheitliches Bildungssystem und eine Abschaffung des Sitzenbleibens. Unter anderem.

Aber er appelliert nicht nur an โ€ždie da obenโ€œ, sondern beschรคftigt sich auch mit der Frage, warum sich immer mehr Deutsche von ihrer Demokratie abgestoรŸen fรผhlen. Dazu kann er auch auf die deutschen Wahlstatistiken zurรผckgreifen: Senioren wรคhlen deutlich hรคufiger als junge Menschen, Gebildete hรคufiger als weniger Gebildete, Reiche รถfter als Arme. Was zum Ergebnis hat, dass die Parlamente im Grunde nur noch die Reichen, gut Gebildeten und Alten reprรคsentierten. Alle anderen fรผhlen sich โ€“ wohl zu Recht โ€“ nicht mehr reprรคsentiert.

Ihre Themen kommen nicht mehr vor oder werden unter Larifari abgehandelt. Ein wachsender Teil der Gesellschaft fรผhlt sich schlichtweg ausgeschlossen. Kein Wunder also, wenn sich der Unmut immer รถfter chaotisch รคuรŸert โ€“ im Internet oder auf der StraรŸe. Die Gesellschaft driftet auseinander โ€“ nicht erst seit kurzem, aber seit kurzem auch fรผr die Gewรคhlten unรผbersehbar.

โ€žDas mag zwar denen, die gerade an der Macht sind oder ein Mandat in einem Parlament innehaben, also denen da oben, ganz recht seinโ€œ, schreibt Strunz. โ€žAber so war das nicht gedacht mit der Demokratie in der Bundesrepublik. Und so darf es auch nicht weitergehen.โ€œ

Das heiรŸt: Die Schwellen zur Beteiligung an jeder Wahl mรผssen sinken, Online-Abstimmungen mรผssen mรถglich werden. Und Wahlpflicht hรคlt er fรผr wichtig โ€“ geht auch auf die berechtigte Frage ein: Aber dann kriegen wir ja noch mehr AfD? Er verweist auf Australien, wo populistische Parteien รผber einstellige Wahlergebnisse nicht hinauskommen. Und wo es Wahlpflicht gibt.

Aber er deutet auch die Folgen fรผr die etablierten Parteien an. Denn wenn wieder 90 oder mehr Prozent der Wรคhler zur Wahl gehen, kann man ihnen nicht immer wieder mit den Wohltaten fรผr die Etablierten kommen. Dann muss man auch den Armen, weniger Gebildeten und weniger Erfolgreichen echte Politikangebote machen, sonst bekommt man nรคmlich ihre Stimme nicht.

Und vor allem: Man muss es ihnen besser erklรคren, ein echter Makel nicht nur von Angela Merkel. Man muss sich dann auch mit diesen Menschen und ihren Problemen wieder beschรคftigen. Denn von diesem Geschwafel, man suche jetzt endlich das Gesprรคch mit den Wรคhlern oder man habe jetzt โ€žwirklich verstandenโ€œ, haben sichtlich viele Wahlbรผrger die Nase voll. Das haben sie nun nach jeder Wahlschlappe schon zu oft gehรถrt.

Einige Vorschlรคge von Claus Strunz haben es wirklich in sich und es wรคre an der Zeit, sie wirklich umzusetzen. Und auch seine Analyse zum gegenwรคrtigen Zustand der Politik hat vieles fรผr sich. Bis hin zur kaum noch verhรผllten Kumpanei der politisch Etablierten mit einigen GroรŸkonzernen. Erwรคhnt das Strunz?

Tut er: โ€žDas kommt dabei heraus, wenn sich Politik und groรŸe Unternehmen zu nahe kommen. Die Kumpanei von Ministerien mit den ihnen nahestehenden Branchen und GroรŸkonzernen bringt zwangslรคufig immer den kleinsten gemeinsamen Nenner als Ergebnis. Ob beim Diesel oder bei der Digitalisierung: Die Ziele werden stets so formuliert, dass sich die Industrie nicht allzu sehr anstrengen muss. Das ist das Gegenteil von Fรผhrung โ€ฆโ€œ, schreibt Strunz.

Und zumindest deutet er an, dass auch die Medien ihr Teil haben am Debakel. Denn der Hype der โ€žsocial mediaโ€œ hat eine ganz fatale Folge: โ€žEin Land, in dem Politiker und Medien sofort Stellung beziehen, vorverurteilen, spekulieren โ€“ je nach Lager und Ideologie โ€“ statt zu versachlichen und auf Aufklรคrung zu setzenโ€œ, so ein Land ist das, in dem auch seine zwei Tรถchter aufwachsen. Den anklagenden Text hat Strunz schon 2018 geschrieben und lieber nicht einzeln verรถffentlicht, genau die Erregungswelle befรผrchtend, die schon so viele politische Themen undiskutierbar macht. Recht hat er: Es braucht endlich wieder sachliche Diskussionen โ€“ nicht รผber das nur Machbare, sondern das Wรผnschenswerte.

Claus Strunz Gehtโ€™s noch, Deutschland, Plassen Verlag, Kulmbach 2019, 19,99 Euro.

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