Es gehรถrt zu den groรen Irritationen der letzten drei Jahre, wie stark es Ostdeutschland und insbesondere Sachsen geschafft haben, dauerhaft in den groรen Medien prรคsent zu sein. Es muss nur irgendwo krachen, brennen oder chaotisch werden โ und schon sind alle Kamerateams und Chefreporter aus jenen Medien vor Ort, die um den Osten seit 28 Jahren einen Bogen gemacht haben. Ist ja irgendwie Unland, Dunkelzone oder โ wie Cornelius Pollmer es jetzt nennt โ Randland.
Man kรถnnte auch Ostzone sagen, wie das da und dort noch immer passiert. 28 Jahre nach der Deutschen Einheit ist genau jenes Stรผck Deutschland, in dem die Deutsche Einheit zustande kam, immer noch ein tumbes Anhรคngsel, Der Dumme Rest, wie es frรผher hieร, subventionsbedรผrftig, industriearm, seltsam. Eine Gegend, in die man nur mit Personenschutz reist. Und wo die Leute irgendwie alle komisch sind und augenscheinlich Nazi oder kurz davor.
Man muss ja die Vorurteile nicht alle aufzรคhlen, die durch die groรen und kleineren Medien wabern. Und die auch deshalb wabern, weil Meinungen in westdeutschen Zentralredaktionen gebildet werden. Wer eine originรคre ostdeutsche Medienlandschaft sucht, wird sie nicht wirklich finden. Nicht in den oft genug von provinziellem Nationalstolz erfรผllten Regionalzeitungen, nicht in den regionalen Heimatsendern. Die jungen Leute, die wirklich ernsthaft journalistisch arbeiten wollten, sind seit Jahren abgewandert und haben versucht, bei โSpiegelโ, bei der โZeitโ oder der โSรผddeutschenโ anzuheuern.
Und den 1984 in Dresden geborenen Cornelius Pollmer hat es als Autor zur โSรผddeutschen Zeitungโ verschlagen, wo er quasi als reisender Reporter aus dem eigentlich eher unspektakulรคren Osten berichtet. Dieser Sammelband umfasst Reportagen und Kommentare, die fast alle zwischen 2012 und 2018 in der โSรผddeutschen Zeitungโ erschienen sind. Pollmer hat also live miterlebt, wie der Osten zurรผckkam in die Nachrichten. Und zwar genau mit den Themen, die es durch den Filter in westdeutsche Medienhรคuser schaffen.
Und zwar schnell schaffen, weil es das Futter ist, das den Osten fรผr die sensationsgetriebene Medienmaschinerie erst interessant macht โ wรผtende Bรผrger, grรถlende Nazis, Anschlรคge auf Moscheen und Asylbewerberheime. All das, was mal kurz aufploppt und dann fรผr ein paar Tage als โdie Ereignisse in Clausnitzโ, โdie Ereignisse in Bautzenโ, โdie Ereignisse in Heidenauโ Schlagzeilen macht. Eine ganze Perlenkette dramatischer Ereignisse, die in der ganzen Republik das Bild eines bรถsen, randalierenden und zutiefst beleidigten Ostens erzeugen und bestรคtigen.
Als kรคme das aus heiterem Himmel. Oder breche jetzt auf โ vรถllig unverstรคndlicherweise, jetzt, wo die Arbeitslosigkeit im Keller ist, die Leute Wohlstand besitzen und es ihnen so gut geht wie seit 1990 nicht mehr. Die dicken Fragezeichen in den รผblichen Kommentarspalten kennt jeder. Der Osten ein einziges Rรคtsel.
Und Pollmer muss nicht extra erklรคren, woher das kommt. Es steht รผber und unter den Zeilen. Wenn sich die meinungsbildenden Medien im Land immer nur dann fรผr den Osten interessieren, wenn es Krawall gibt, dann ahnt man das riesige Loch der Wahrnehmung nur, das da klafft zwischen schรถnen Postkartenbildern von Dresden und den renitenten Kraftmeiern aus der rechtsnationalen Fraktion. Dazwischen?
Dazwischen passiert seit 28 Jahren eine Menge. Und Pollmer kennt es, weil er darin aufgewachsen ist. Was er in der Geschichte von den zwei Dresden, die seinen Alltag prรคgen, recht ausfรผhrlich erzรคhlt. รber die Dresdner hat er so einiges zu sagen. Und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass er das so niemals in einer Dresdner Regionalzeitung hรคtte schreiben kรถnnen. Die besorgten Dresdner Kulturbรผrger hรคtten der Zeitung die Fenster eingeschmissen.
Ist Dresden ein Ausnahmefall? In der Selbstreflexion ganz bestimmt. Deswegen konnte sich vieles, was in Sachsen schiefgelaufen ist, so auch nur im Dresdner โMir san mirโ-Gefรผhl entwickeln, das Pollmer zwar aus Bayern รผbernimmt. Aber so etwas prรคgt die sรคchsische Landeshauptstadt ganz รคhnlich schon seit den Zeiten, รผber die Uwe Tellkamp in โDer Turmโ schrieb. Deswegen lassen die Dresdner auf ihren Nationalautor nichts kommen. Und deswegen taucht Tellkamp ab und zu in Zusammenhรคngen auf, bei denen man sich auch als Leipziger fragt: Wie altvรคterlich darf es denn noch sein?
Pollmer blieb mit seinen Reportagen nicht in Dresden. Er hat fast alle Konfliktpunkte bereist, die sich seit 2013 in Sachsen auftaten. Denn bevor Angela Merkel 2015 ihr โWir schaffen dasโ sagte, waren die fremdenfeindlichen Aktionisten in Sachsen lรคngst aktiv. (Auf den Seiten 171 bis 185 findet man die zugehรถrige โChronik der Empรถrungโ). Wenn sie die Schuld fรผr die Verstรถrungen der Gegenwart ausgerechnet im Jahr 2015 und bei Merkels โGrenzรถffnungโ suchen, dann lรผgen sie schon, ohne rot zu werden. PEGIDA organisierte sich ab Ende 2013 und marschierte schon 2014 lรคrmend durch Dresden.
Und die Anschlรคge auf Erstaufnahmeeinrichtungen und Flรผchtlingsunterkรผnfte und Flรผchtlinge gab es auch schon vorher. Und auch damals waren schon etliche der Akteure dabei, die spรคter auf โTrauermรคrschenโ, โSpaziergรคngenโ oder bei Anschlagserien eine unrรผhmliche Rolle spielten. Pollmer versucht zwar ab und zu so eine Art Psychogramm der Ostdeutschen.
Aber seine Stรคrke ist die Beschreibung. Er spricht mit den Leuten โ auch jenen, die fรผr einige der fremdenfeindlichen Proteste verantwortlich sind. Dafรผr reist er auch noch ins kleinste Dorf, versucht immer wieder neu die Frage zu klรคren, woher das kommt. Und: Ob denn nun alle Sachsen so sind.
Und fast รผberall trifft er auf Orte, die tief gespalten sind โ hier eine manchmal kleinere, mal grรถรere Gruppe leicht zu mobilisierender Menschen, die dann verantwortlich sind fรผr die Bilder von Renitenz, Drohkulisse und geballter Empรถrung. Aber immer wieder findet er auch die Bรผrgermeister, die ratlos sind รผber diese Wut und diesen Hass, die sich ums Auรenbild ihrer Gemeinde sorgen und versuchen, die Dinge so gut wie mรถglich zu organisieren. Gerade sie aber bescheinigen der sรคchsischen Regierung immer wieder die Unfรคhigkeit zur Kommunikation. Die Flรผchtlinge wurden einfach รผbers Land verteilt und in Orten untergebracht, die darauf nicht vorbereitet waren.
Und selbst in den Aussagen jener, die dann die Proteste organisierten, scheint immer wieder der ganz frรผhe Vorwurf auf: Man habe nicht mit ihnen gesprochen. Diese Art Politik sei eine Zumutung, das mรผsse aufhรถren.
Die Regierungsebene spart Pollmer รผbrigens aus. Lediglich die Integrationsministerin Petra Kรถpping (SPD) taucht bei ihm auf, die seit zwei Jahren die Republik damit konfrontiert, dass man auch diesen sprachlos gewordenen Ostdeutschen endlich einmal zuhรถren und die Frustrationen der 1990er Jahre benennen mรผsse. Ganz รคhnlich wie Frank Richter, bis 2016 Direktor der Sรคchsischen Landeszentrale fรผr politische Bildung, und als Mann bekannt, der auch mit denen das Gesprรคch sucht, die demonstrativ auf die Straรe gehen.
Beide haben erst das ins Rollen gebracht, was heute als Gesprรคch โ auch gern mit Ministerprรคsident โ endlich stattfindet. Ein Gesprรคch, das zeigt, wie sehr sich die Fronten verhรคrtet haben und welches riesiges Versรคumnis der Landespolitik es war, stets nur kรถniglich zu regieren โ aber die Kommunikation mit den Bรผrgern strรคflichst zu vernachlรคssigen.
Wobei nicht nur diese Unterlassung den Osten zerfrisst. Da ist noch mehr. Es sind ja nicht wirklich blรผhende Landschaften, durch die Pollmer reist. Er reist durch ein Randland, in dem nur wenige industrielle Hotspots Arbeit und Zukunft versprechen. Abseits davon haben sich die Zurรผckbleibenden oft genug in einem Gefรผhl eingerichtet, dass hier nichts mehr passieren wird, dass alles so bleibt, wie es ist. Und dass alles, was von drauรen kommt, nur eine ungewollte Stรถrung sein kann. Ein Gefรผhl, in dem sie auch durch die Landespolitik immer bestรคrkt wurden.
Denn Nicht-Beteiligung bedeutet eben auch Nichts-Zumuten. Mit dem Ergebnis, dass die Bรผrger daran gewรถhnt sind, alles zu erwarten. Und die dauerregierende CDU hatte sich im Besitz der Macht eingerichtet. Was fatale Entwicklungen bis zum Krach zuspitzte. Oder mit Pollmers Worten: โZu Sachsens Problemen gehรถren mangelnde Fehlerkultur und Duckmรคusertum in der CDU, der es nach 26 Jahren an der Macht erkennbar an mutigem Personal und an Lektionen in Demut fehlt.โ Geschrieben im Oktober 2016.
Und Pollmer hat auch ein Auge auf die anderen Entwicklungen. Der Osten ist nรคmlich auch ein Spiegelbild des Westens. Der brรคsigen Politik steht eine zunehmende Ego-Gesellschaft gegenรผber, eine Gesellschaft, in der jeder erst einmal nur an sich selbst denkt: โAls clever und erfolgreich gilt, wer das meiste fรผr sich herausholt: beim Workout, bei der Steuer oder beim Online-Preisvergleich fรผr den neuen Laserdrucker. Als clever und erfolgreich gilt also, wer sein Ich voranbringt.โ
Was รผbrigens auch fรผr west- wie ostdeutsche Nazis gilt. Kaum eine Bewegung ist arroganter und ich-bezogener als diese sich so gern vรถlkisch gebende Icke-Kraftmeier-Truppe. Auch das zerfrisst den Osten. Denn mit dieser รberheblichkeit ist die ostdeutsche Nazi-Szene mit dem brรคsigen Icke-Bรผrgertum direkt kompatibel und man steht dann hรผbsch bei einem Chemnitzer โTrauermarschโ nebeneinander. Hoch das Kinn, vorwurfsvoller Blick. Opferpose. Genau das, was aus westlicher Perspektive einfach nicht zusammenpassen will.
Was aber dann doch zusammenpasst und was Pollmer den ehemaligen Trรถglitzer Ortsbรผrgermeister Markus Nierth aussprechen lรคsst. โEr sieht Menschen, denen es an Mutterliebe fehlte und die nun nicht vollen Herzens sind, sondern โmit einem Riesenloch in die Welt gehen und jeden anschreien, der vielleicht etwas abkriegen kรถnnte, das sie nicht abgekriegt habenโ.โ
Die sich dann also von NPD-Funktionรคren aufpeitschen lassen, um in geballter Stรคrke vors Haus des Ortsbรผrgermeisters ziehen, um ihn einzuschรผchtern. Das Gefรผhl, nicht geliebt und akzeptiert zu werden, mรผnzt sich also in einen lauten und kraftmeiernden Auftritt um: Jetzt fordern wir mal was. Wir, das Volk.
Es sind solche plastischen Szenen und Aussagen, die sich in Pollmers Reportagen verdichten zu einem sehr facettenreichen Bild vom Osten und seinen Bewohnern โ von den lauten Ungeliebten bis hin zu jener meist tatsรคchlich schweigenden Mehrheit, die sich das Ganze nur noch von zu Hause im Fernsehsessel anschaut. Die meisten Ostdeutschen sieht man ja nicht. Auch die linken Aktivisten, die jedes Mal mit geรผbter Routine kommen, wenn wieder etwas passiert ist, sind ja nicht โder Ostenโ.
Aber Pollmer sieht eben auch, was die angereisten Kamerateams eben nicht mehr zeigen: dass nach dem Tumult die Liebevollen auch in den sรคchsischen Dรถrfern aktiv werden und Hilfe organisieren und versuchen, die Flรผchtlinge in ihre Gemeinschaft so gut es geht zu integrieren. Genau die Menschen, die auch in Sachsen umgesetzt haben, was Angela Merkel mit ihrem โWir schaffen dasโ gemeint haben kรถnnte. Wobei einige der interviewten Bรผrgermeister zu Recht skeptisch sind โ denn wenn es an echte Integrationsarbeit geht, sind es meistens staatliche รmter und Vorgaben, die bremsen und verhindern.
Wobei Pollmer auch versucht, die Wurzel fรผr die dissonante sรคchsische Gegenwart in der DDR-Sozialisation zu suchen โ etwa im Meiรner DDR-Museum oder in einem alten Stasi-Bunker in Thรผringen. Aber รผber Klamauk kommt das nicht hinaus. Mรถglich, dass einige Menschen noch sentimentale Gefรผhle mit dieser Art Ost-Erinnerung verbinden (die meisten als Beschรคftigte beim Heimatsender), aber nicht einmal die jรผngeren Ostdeutschen kรถnnen damit noch etwas anfangen. Es wirkt wie falsche Maskerade.
Und eigentlich bleibt das Fazit: Nein, das, was da im Osten gรคrt, hat mit der DDR und ihren Formungen der Menschen nur noch bedingt zu tun. Die Verรคnderungen โ auch zum Fremdenfeindlichen โ sind alle in den letzten Jahren passiert. Schleichend erst. Immer im Schatten einer Landespolitik, die gern auf Linke eindrosch und Demonstrationsteilnehmer mit fadenscheinigen Unterstellungen vor Gericht zerrte (auch darรผber berichtet Pollmer), die aber auf dem rechten Auge immer so tat, als sรคhe sie dort nichts.
Man kann nur ahnen, wie viel das auch mit รberforderung zu tun hat. Statt die Probleme anzupacken und zu diskutieren, hat man viel zu lange auf ein Mรคrchenbild vom friedlichen Sachsen (resp. Osten) gesetzt, die zunehmende Leere also mit โHEIMATโ รผberpinselt und damit wieder falsche Erwartungen geschรผrt.
Pollmer hat mit seinen Artikeln dazu beigetragen, das Bild vom Osten in der โSรผddeutschenโ deutlich differenzierter zu zeichnen โ auch jene Facetten, die in der Nachrichten-Raserei nie thematisiert werden. Und er hat auch etliche Spitzen in seinen Texten gegen die Art der heutigen Brachial-Berichterstattung, die Orte und Ereignisse schon binnen weniger Minuten mit einem saftigen Skandal-Pflaster versieht, ohne dass auch nur ein Reporter vor Ort war, um herauszukriegen, was wirklich passiert ist und wie es eingeordnet werden muss.
Denn wenn sich dann einer wie Pollmer aufmacht, findet er viel komplexere Brรผche und Stimmungslagen, mit denen die Menschen vor Ort leben mรผssen. Nur: Wie geht man damit um, wenn schon dick und fett das Wort โNaziโ draufklebt? Die Frage muss oft genug stehen bleiben. Mitsamt jenen Bรผrgermeistern, die versuchen mรผssen, nicht nur alles irgendwie zu organisieren, sondern auch genau mit den Menschen, die in den Nachrichten so unausstehlich wegkommen.
Eigentlich benutzt Pollmer fรผr seine Reportagen aus dieser Region lieber das Wort Mittelerde, das so schรถn den Zwischenzustand und das scheinbar Exotisch-Abgelegene dieser Region beschreibt. Aber mit Randland fasst er natรผrlich zwei andere Aspekte genauer: das Empfinden vieler hier Lebender mit ihren nicht-erhรถrten Sorgen und die Rolle des Ostens in der medialen Berichterstattung.
Natรผrlich bildet ein Band von Reportagen keine Lรถsungen ab. Die mรผssen die Randbewohner selbst finden. Mitsamt dem Mut, sich nicht nur destruktiv hinzustellen und die Lรถsungen โ wie frรผher โ bei โdenen da obenโ einzufordern. Das ist wirklich eine schlechte Angewohnheit. Aber der Band schildert sehr einfรผhlsam die Gefรผhlsrutsche und die miesepetrige Atmosphรคre in einigen speziellen ostdeutschen Milieus.
Und weil das nicht nur den Osten betrifft, macht sich Pollmer in der letzten Geschichte auch noch auf eine Reise durch einige westdeutsche Provinzstรคdte im Bundestagswahlkampf 2017. Und ehrlich? Einige dieser Orte sind so miesepetrig, dass man beim Buchzuklappen froh ist, glรผcklicherweise im Osten zu wohnen.
Cornelius Pollmer Randland, Thelem Universitรคtsverlag, Dresden 2018, 19,80 Euro.
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