Dichter sind die Nachdenklichen unter uns, die beim Treppeputzen Bob Dylan hören und über das Wohlwollen der Nachbarn sinnieren, die bei alten Armeejacken über deren Träger im Vietnamkrieg nachdenken oder beim Kauf einer Jeans über die biologische Abbauarbeit von Hosen, Flugblättern und rechtsradikalen Parteien. Sie wissen, wozu man die riesige Bibliothek im Kopf nutzen kann.
Und sie nutzen sie. Wissend, dass alles mit allem zusammenhängt und Geschichte nicht aufhört. Viele der in diesem Band versammelten 100 Autorinnen und Autoren haben die Chance genutzt, sich selbst zu verorten in der Zeit und der Geschichte. Nur die Jüngeren, meist nach 1990 Geborenen, denken tatsächlich nach über den medialen Quatsch von Generation X und Y und angepasst und Depression.
Man ahnt: Sie haben es noch nicht geschafft, neben sich zu treten und das dumme Gerede anderer Leute über sich und ihre Altersgefährten nicht mit der eigenen Sicht auf die Welt zu verwechseln. Man lässt sich ja so viel einreden von selbstgerechten Zeitendeutern. Von der Werbung erst recht. Weshalb gerade bei den Jüngeren auch allerlei Krempel unserer mit technischem Schnickschnack zugemüllten Gegenwart auftaucht – aber: eigentlich jedes Mal konterkariert durch ein kluges, menschliches Abwägen, was all das mit unserer Welt anrichtet, mit der Natur und mit uns selbst.
Vielleicht ist es dieses Bewusstwerden, wie sehr das eigene Tun und Lassen die Welt beeinflusst und zerstören kann, das einmal diese jüngeren Generationen auszeichnen und abheben wird von anderen Generationen, die andere Kämpfe führten.
Vielleicht sogar leichtere. Es ist vielleicht nicht erstaunlich, wie stark das Jahr 1968 präsent ist in vielen Gedichten von Leuten, die längst graue und weiße Locken haben, längst zur gestandenen Generation der heute Schreibenden gehören, die sich mit diesem Jahr und seiner Unruhe beschäftigen. Selten sentimental. Denn einige von ihnen haben in diesem Kampf gegen den alten Muff gelernt, sich nichts mehr einreden zu lassen. Für Freiheit und Emanzipation zu kämpfen.
Und wer es nicht glaubt, mag lesen. Denn etliche der Autorinnen und Autoren sind auch alt genug, sich an die Zeit davor zu erinnern. Es war eine muffige Zeit, eine voller Denk- und Sprechverbote. Und auch voller Gewalt. Die eine oder der andere fand erst über das Dichten die Kraft, auch über elterliche Gewalt und elterliches Schweigen zu reden.
Es gibt auch ein freches Anti-Gedicht gegen die 1968er – aber das ist – auch das wieder konsequent 68 – aus der Klassenperspektive geschrieben. Denn es waren ja Studenten, die in den 1960er Jahren den Aufruhr in die Städte trugen. Und die kamen nun einmal damals fast alle von derselben Seite der Straße, während Arbeiterkinder auf der anderen wohnten und auch dann malochen gehen mussten, wenn sie eigentlich das Köpfchen zum Studieren gehabt hätten. 1968 war eine Revolte der bürgerlichen Jugend.
Was ihr nichts von ihrer Bedeutung nimmt. Was man aber nur begreift, wenn man weiß, wie muffig das Land vorher war und was sich seit den 1970er Jahren merklich veränderte. Im Westen.
Und auch im Osten, auch wenn die hiesigen Geschichten anders gefärbt sind. Manchmal ein bisschen ironisch, manchmal ein bisschen zynisch. Oft genug aber in jenem fast liedhaften Moll, in dem die Liebe zu einem malträtierten Land mitschwingt und die Gewissheit, dass es im Leben eigentlich immer nur ums Leben geht.
Was ja schon eine stille, fast freundliche Absage an all die politischen Karrieristen war, die es hüben gab und nun drüben weiter gibt. All diese Eitlen – denen ein Platz in einem ordentlichen Gedicht konsequent verwehrt wird. Da kennen sie nichts, die Dichterinnen und Dichter. Sie kramen lieber in Opas alter Bodenkiste und finden seine Verwirrungen, Verirrungen und ein zerbrochenes Leben. Sie schauen den Vögeln zu und lassen sich in ihre Kindheitserinnerungen fallen in Trümmerstädten, lichtlosen Wohnungen, allein mit Mutter, die die Kinder allein großzog. Erst, weil der Mann nicht heimkehrte, dann später, als sie ihn zur Tür hinausschmiss.
Und sie genießen es, dieses Eintauchen in Kindheitserinnerungen an die Tiere im Hof und die Lakritzpfeifen für ein paar Pfennige. Die Erinnerungen schaffen den Raum, der Zeit erst fassbar macht. War man eine Generation? Baby-Boomer etwa, Nachkriegsgeneration oder doch eher Generation Sputnik, Beat oder Friedensbewegung?
Es gibt keine Generationen, lautet ein nicht unwichtiges Zitat. Die Bezeichnungen sind bestenfalls Hilfskrücken, Jahrgänge zu gruppieren und ihren wichtigsten Konsens zu finden. Das, was sie vielleicht von den Jahrgängen davor und danach markant unterscheidet. Aber wenn selbst die 1988 geborene Julia Weberling ein Gedicht schreibt mit Sätzen wie „Sei fleißig, / das Gymnasium wartet. – Sei ehrgeizig, du willst doch studieren …“, dann merkt man, dass die Generationen-Label wirklich nur Werbemarken sind.
Untendrunter webt eine Erwartungshaltung fort, die so alt ist wie die Republik. Und älter. Ein Denken in uralten Schablonen, das Kinder in Korsetts presst, die nie wirklich passen. Die am Ende müde machen. Was sogar bei den jüngeren Autoren schon Thema wird: Die Moderne fühlt sich inwendig überhaupt nicht modern an und äußerlich irgendwie falsch: „immer lächelnd mein selfie-gesicht / werden sie sagen / diese frau sie war glücklich“, schreibt die 1983 geborene Stefanie Bucifal.
So eine Ahnung ist da, dass wir uns mit der ausgestellten guten Laune selbst veräppeln, eine Trugwelt erschaffen, die nicht wirklich unsere ist. Was bleiben wird, wird etwas anderes sein, auch wenn es – wie von Holger Teschke (geboren 1958) – als Verlust empfunden wird: „Wo ich herkomme gibt es nicht mehr / Aber alles was ich jetzt noch erinnere bleibt“.
Keine Frage: Mit dem Verschwinden des Ostens haben sich die Dichter des Ostens intensiver beschäftigt als alle anderen. Sie geben auch diesem diffusen Gefühl einen Ton, einen sehr vertrauten. Denn den hatte Lyrik im Osten immer: Man stand mit beiden Beinen auf lehmiger Erde oder – wie der Liedermacher Gundermann – in dreckigen Stiefeln am Tagebauloch, hatte Ruß zwischen den Zähnen und billigen Fusel, um sich abends über den Rest des Tags zu retten.
„Du hast es doch gut“, musste sich schon Ingrid Niegel (geboren 1958) sagen lassen. Selbst das kennt man – diese Vorwürfe der Kriegskinder an die Nachkriegsgeborenen, diese Kehrseite der großen Wohltäterei, man habe doch alles für die Kinder getan … Woher dann aber dieser Neid?
Selbstbeschiss auf gesellschaftlicher Breite ist das wohl – die in den 1980er Jahren ja bekanntlich in „no fjudschah“ umkippte, wie der 1961 geborene Joseph schreibt.
Kann es sein, dass sich die ewigen Streber in unserer Gesellschaft die ganze Zeit die Hucke volllügen darüber, wie toll sie sind, wie sie alles vorangebracht haben und die Kinder … Die Kinder scheint es, fühlen sich nur noch gegängelt, belogen, in einen Zustand völliger Schizophrenie geschoben, der so nicht auszuhalten ist.
Heraus kommt – wie bei Oliver Bruskolini (geboren 1993) – eine Bildersammlung der Absurditäten: „Generation große Fresse / Generation Lügenpresse / Multikulturell / Generation Schichtengänger / Voller Potenzialverschwender / Ordinär – Originell“.
Was entsteht, ist ein Gedichtband, der fast ein ganzes Jahrhundert zum Sprechen bringt und die Stimmen der Dichterinnen und Dichter zu einem dichten Teppich verwebt, in dem die Kindheiten der 1950er und 1960er Jahre sich mit denen der Gegenwart treffen, die Unruhen der 1960er mit denen einer unruhigen Gegenwart, die so schwer als gegenwärtig zu greifen ist.
Eher fragmentiert erscheint, kaum greifbar, während sich die heute rund 60-Jährigen nur zu gut erinnern, wie damals der Film „Blutige Erdbeeren“ wirkte – in Ost wie West: „revolte im haar / und schlag in der hose“, wie Hannelore Crostewitz (Jahrgang 1955) schreibt. Vielleicht ist es genau das, was jetzt fehlt – nicht die gestohlene Jugend der Großväter, sondern das gestohlene Recht auf Rebellion. Denn wo alles vermarktet und verramscht wird, wird auch die Rebellion verramscht und vermarktet.
Vielleicht ist es das …
Wird man übermütig nach dem Lesen? Eher etwas besinnlich. Es gibt einen festen Grund unter uns. Die älteren unter den Dichtern schreiben sehr intensiv darüber. Auch wenn sie kaum mehr zornig sind, sondern nachdenklicher und nachsichtiger, auch und gerade den eigenen Unzulänglichkeiten gegenüber, „kleine worte, flüchtige gesten / beiläufiges und wörterspiel“, schreibt Rosa Both (geboren 1962). Man wird vergesslicher, aber auch aufmerksamer für die kleinen Dinge im Leben, die Unschärfen und die Oberflächlichkeiten.
„laßt mich einfach leben / so wie ich möchte / schließt die Schubladen zu / Leben heißt auch Sehnsucht / nach der Sprache, die ich meine …“, schreibt Erica Natale (geboren 1973).
Vielleicht ist es genau das, was man mit dem Älterwerden lernt: Dass das Gejage da draußen eine Farce ist, ein Trug, der uns abbringt davon, aus vollem Herzen Mensch zu sein. Und deshalb geduldiger gerade mit uns selbst und unseren Träumen.
Poesiealbum neu „My generation“, Edition kunst & dichtung, Leipzig 2018, 7,89 Euro
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