Es gibt mittlerweile so viele Bücher zum alten Leipzig, dass man das Gefühl bekommt, es sei jetzt alles zu allem erzählt. Aber dann kommt so ein Buch, leuchtet mal in eine Ecke genauer hinein – und siehe da: Klar, das Areal des alten Krystallpalastes war eine Leerstelle. Und das war sie auch deshalb, weil sich vorher niemand wirklich damit beschäftigt hat.
Was der Grund dafür ist, dass wir glauben, alles zu wissen. Die alte Vollständigkeit ist eine der falschen Kulissen. Mit den immerselben alten Kamellen über dieselben alten Örtlichkeiten haben sich vergangene Generationen ihr Bild vom alten Leipzig gezimmert – und neuere Vielschreiber kopieren es eifrig immer wieder. Die Leerstellen darin werden einfach ignoriert.
Außer wenn sich mal jemand aus reiner Neugier an ein Thema macht und die alten Akten aufschlägt – wie Michael Liebmann es mit Brandvorwerk und Connewitz getan hat. Oder wenn der Kunstgeschichtler Thomas Topfstedt seinen Studierenden Themen für Magisterarbeiten zuweist – so wie es 2008 der angehenden Kunsthistorikerin Bettina Baier geschah.
Für ihre Magisterarbeit hatte sie damals schon die Geschichte des Geländes an der Wintergartenstraße rekonstruiert – bis hin zur Erklärung, warum die Wintergartenstraße so heißt. Natürlich wurde die Geschichte der Leipziger Schützengesellschaft kurz erläutert und erklärt, warum sie ein neues Revier für ihr Schützenhaus zugewiesen bekam – 1834 bauten die ehrenwerten Landesverteidiger sich dort ihr neues Schützenhaus, noch allemal hübsch draußen vor der Stadt, auch wenn die Entwicklung des Grafischen Viertels schon begonnen hatte.
Und wenn man das weiß, weiß man auch, warum die Schützenstraße noch immer Schützenstraße heißt, auch wenn dort, wohin sie führt, seit einem Vierteljahrhundert eine Brache liegt, die an gar nichts mehr erinnert, wenn man nicht weiß, was hier mal gestanden hat.
Aber weil sich jetzt endlich etwas tut und 2019 höchstwahrscheinlich wirklich Baubeginn für das neue Krystallpalast-Areal ist, fand es Mark Lehmstedt an der Zeit, das Thema endlich in ein Buch zu packen. Die Grundlagenarbeit von Bettina Baier war ja da. Die konnte sie mitsamt aller Schilderungen zum Schützenhaus und seiner schnellen Verwandlung in das gefragteste Veranstaltungshaus Leipzigs, über die Glanzzeiten des Krystallpalasts bis zur Kriegszerstörung und der Nachkriegszeit mit Zirkus Aeros und Haus der heiteren Muse gleich weiter nutzen. Die Baugeschichte war quasi schon fertig. Der Bauinhalt fehlte noch.
Und zu ergänzen war auch noch der Teil nach dem großen Brand von 1992, in dem der legendäre Rundbau des Zirkus Aeros, in dem zuletzt das Fernsehen der DDR seine großen Shows gedreht hatte, zusammenbrach. Wäre der Endpunkt wirklich die leere Brache, wie sie heute zu sehen ist, wäre das ein trauriger Ausklang. Auch wenn die Zeit nach 1990 stets auch verbunden war mit dem permanenten Interesse von Investoren, die hier sehr wohl Chancen für ein neues, citynahes Stadtquartier sahen.
Im Grunde gab es seitdem drei ernsthafte Versuche, das Gelände neu zu bebauen. Was anfangs scheiterte, weil die Banken nach dem Crash des Leipziger „Baulöwen“ Jürgen Schneider sehr zurückhaltend waren, neue Großbauprojekte in Leipzig zu finanzieren, wird jetzt, in Zeiten von Bevölkerungswachstum und zunehmendem Wohnraummangel wieder höchst attraktiv.
Auch wenn es natürlich nie wieder einen so großen und beliebten Vergnügungsort in Leipzig geben wird, wie er hier über 160 Jahre beheimatet war. Die Gründe wurden ja schon in den 1920er Jahren sichtbar: Erst war es das Kino, das das Freizeitverhalten der Großstädter deutlich veränderte (und im Krystallpalast-Ensemble auch zwei der frühesten Leipziger Kinos entstehen ließ), dann folgte das Radio und am Ende sorgte der Fernseher dafür, dass sich die Menschen der Neuzeit in Couchpotatoes verwandelten und für ihr Schau-Vergnügen nicht mehr die Wohnung verlassen mussten.
Deswegen wirkt es heute noch verblüffend, was für eine beeindruckende Landschaft von Vergnügungsetablissements Leipzig vor 100 Jahren hatte. Und das aus dem Schützenhaus hervorgegangenen Krystallpalast-Areal, das durch seine Betreiber immer wieder ergänzt, umgebaut und erweitert wurde, war dabei die größte Lokalität dieser Art. Und auch die beliebteste.
Ganz zu schweigen von der Vielzahl der Nutzungen, die hier auf engstem Raum zu finden waren – vom Café über Theater- und Varieté-Saal über Kegelbahnen, Kinosäle, Freisitze im Garten und eine Eisbahn im Winter bis hin zur legendären Alberthalle, in der dann auch noch Zirkus seinen Platz fand.
Mit diesem Ort eiferte Leipzig nicht nur dem berühmten Vorbild in London nach – es war damit auch stets auf dem Stand der Zeit. Hier fanden die Leipziger das Neueste und Aufregendste, was die Welt der Unterhaltung zu bieten hatte. Auch der Aspekt kommt in den Texten nicht zu kurz. Man vergisst es ja gern, dass die professionelle Unterhaltung ebenfalls eine Erfindung des Industriezeitalters ist.
Waren es anfangs nur die betuchteren Bürger, die im Schützenhaus ihren Bürgerstolz feierten, Bälle veranstalteten oder Konzerte, kamen spätestens mit der Sozialgesetzgebung unter Bismarck auch die Arbeiter dazu, mit ihrer neugewonnenen Freizeit auch etwas anfangen zu können. Egal, ob sie dazu zu Bildungsvorträgen in den Krystallpalast gingen, zu Konzerten oder zum Bierchen – sie sorgten dafür, dass das Ensemble bis in die 1930er Jahre hinein stets beliebt und frequentiert war. Am Ende hatte das Ganze über 100 Jahre Erfolg und der Name Krystallpalast wurde im Leipziger Freizeitleben legendär.
Den Bruch brachte erst der 2. Weltkrieg, in dem das gesamte Gelände komplett zerstört wurde, was dann erst jene Freifläche schuf, die der berühmte Akrobat und Zirkusdirektor Cliff Aeros dann nutzte, um seinen noch viel berühmteren Zirkus (in einem provisorisch schnell hingestellten Zelt) auf die Beine zu bringen.
Was auch eine lange und erfolgreiche Geschichte hätte werden können, wäre Cliff Aeros nicht so früh gestorben und hätte die Staatsführung nicht auch diesen Zirkus gnadenlos enteignet und am Ende in seinen großen VEB Staatszirkus gepackt. Am Ende verschwand auch der Zirkus aus der Stadt, die hob das „Haus der heiteren Muse“ aus der Taufe, machte den alten (einst aus dem Westen importierten) Zirkus-Stahlgerüstbau wetterfest. So gut das halt ging. Und dann wurde bis zur Abwicklung des DDR-Fernsehens einer der beliebtesten Drehorte für beliebte Samstagabend-Shows daraus.
Bettina Baier erzählt nicht nur alle diese ineinander verschachtelten Baugeschichten, lässt alte Bauzustände wieder auferstehen, lässt die Leser auch hineinblicken in die großen Zuschauersäle und das Treiben im Garten. Sie hat auch noch einen Teil jener Kulturgeschichte ausgegraben, die diesen Ort über 100 Jahre zum Besuchermagneten gemacht hat. Einiges lässt sich durch eindrucksvolle Bilder aus der „Leipziger Illustrierten“ bebildern.
Man erlebt Lehrer bei einem augenscheinlich aufregenden Kongress, Velozipedisten bei ihrer Versammlung, vollbesetzte Tische im freizügigen Varieté-Programm, gehorsame Tiere im Zirkus natürlich, die Hausmusikkapellen und die Macher – von den namhaften Betreibern bis hin zur Zirkusmannschaft. Man erlebt noch einmal den Ruhm der Artisten, Sänger und Schauspieler mit, die einst hier auftraten. Autogrammkarten, Postkarten, Plakate und Programmhefte lassen einen Teil jenes Feuerwerks der besten Unterhaltung nacherleben.
Nur einen Teil, betont Bettina Baier. Denn wenn jemand wirklich alle Aufführungen und Veranstaltungen allein im einstigen Krystallpalast würde recherchieren wollen, er wäre bis zum Lebensende beschäftigt.
Verständlich, dass dieser Ort eine Legende ist. Und der Bildband, der jetzt in vier Monaten quasi noch einmal mit Furioso fertig geworden ist, gibt dieser Legende ein Gesicht. Was man an der Wintergartenstraße nicht mehr sieht, ist in Bettina Baiers Texten zu jedem einzelnen Kapitel der Geschichte dieses Ortes in langen, farbenreichen Bilderstrecken beigegeben. Man merkt sogar, was für ein Tempo dieses ganz besondere Leipziger Jahrhundert vorgelegt hat, wie das Leipziger Bürgertum genau hier seinen emotionalen Anschluss an die Entwicklungen der Zeit fand und sich dabei auch noch köstlich amüsierte, frivol zuweilen, elitär zuweilen, aber selbst in der riesigen Alberthalle oft auch sehr klassisch und anspruchsvoll.
Bettina Baier trug sich schon länger mit dem Gedanken, den Stoff auch als Buch zu veröffentlichen und fand mit Mark Lehmstedt einen Verleger, der so etwa aus dem Effeff beherrscht. Und als dann im Sommer klar wurde, dass das neue Quartier tatsächlich entstehen soll, ging es am Ende ganz schnell und das Buch kam ein Jahr früher als ursprünglich geplant. Genau zum richtigen Zeitpunkt, um den Leipzigern wieder vor Augen zu führen, was für eine aufregende Geschichte dieser heute noch verlassene Ort hinter sich hat.
Bettina Baier Der Leipziger Krystallpalast, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2018, 24 Euro.
Zeitreise: Am Vorabend der Novemberrevolution 1918
2019 soll Baustart sein für das neue Quartier Krystallpalast
2019 soll Baustart sein für das neue Quartier Krystallpalast
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