„Wir Menschen sind Trottel. Wir irren uns ständig. Jeden Tag. Dauernd“, stellt Nico Semsrott in der Einleitung zu seinem ganz besonderen Jahreskalender fest, der tatsächlich nichts anderes liefert, als lauter Beispiele des Scheiterns. Und das funktioniert natürlich auch, weil wir Menschen es lieben, anderen beim Scheitern zuzuschauen.

Oder gar ihr Scheitern herbeizureden – man denke nur an unsere Art, über Politik zu reden und die TV-Lust, Politikern die Niederlage an den Hals zu wünschen. Die großen Erzählungen aus den Geschichtsbüchern erzählen nicht nur von Siegen. Was ist ein Sieg wert, wenn er nur über einen völlig unbedeutenden Gegner errungen wurde?

Also wird auch der Sturz des einst Gerühmten genüsslich ausgemalt. Hannibal, der letztlich doch scheitert, obwohl er mit den Elefanten die Alpen überquert hat. Napoleon, der quer durch Russland marschiert und dann doch am brennenden Moskau scheitert.

Erst das Scheitern bringt Dramatik in die Geschichte. Es ist der flammende Hintergrund für die langweiligen Siegesfeiern derer, die diesmal zufällig gewonnen haben. Denn mancher Sieg ist Zufall – mal hat das Wetter geholfen, mal die Nacht, mal die Preußen. Schicksale sind unberechenbar. Und oft kommt auch noch menschliche Hybris dazu, der Übermut der Mächtigen, die glauben, die Götter seien mit ihnen. Oder das bestellte Jubelvolk würde alles, was sie tun, gutheißen.

Aber es muss tief in uns stecken. Denn ganze Internetkanäle leben von dieser Schadenfreude, manche auch von ihrer boshaften Schwester: der Häme.

Die kommt bei Nico Semsrott eher nicht vor. Er hat einen eher fatalistischen Blick auf die Weltgeschichte und das berühmte Murphysche Gesetz verinnerlicht: „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“

Und oft genug kommen die Ereignisse, die dann so mächtig schiefgehen, natürlich in die Schlagzeilen. Weil die Fallhöhe so herrlich beeindruckend ist, wenn vorher einer großmäulig verkündet hat: „Dieses Schiff ist unsinkbar!“

Und dann versinkt es schon auf seiner Jungfernfahrt. Logisch, dass die Titanic und die Wasa beide ihren Platz im Kalender gefunden haben.

Man begegnet Politikern, die an ihrem eigenen Größenwahn scheitern, Attentätern, die ihr Ziel nicht treffen, mehreren Brandstiftern, die unbedingt im Wald ein Feuer machen wollten, preisgekrönten Architekten, deren Wunderbauten wieder abgerissen werden mussten, schusseligen Astronauten, die das Wichtigste auf dem Mond vergessen, Militärs, die ihre Boote auf Grund setzen oder Glenn Miller vom Himmel bomben, einer US-Verfassung voller Rechtschreibfehler, scheiternden Fußballclubs und einem explodierenden Kernkraftwerk. Und fast alle diese Geschichten zeichnen sich dadurch aus, dass vorher einer geprahlt hatte, schon den Sieg feierte oder einfach kraft seiner Wassersuppe meinte: „Da kann gar nichts passieren.“

Leute wie Nico Semsrott wissen, dass alles passieren kann. Dass man auch auf das Unerwartete vorbereitet sein muss. Was mich sofort wieder an die Glaubenslehre des Neoliberalismus erinnert, der so gern Staaten und Unternehmen so zusammenspart, dass wirklich keine „überflüssigen“ Puffer mehr drin sind.

Und dann gerät auf einmal alles aus dem Tritt: Lehrer fehlen, Polizisten, Straßen und Brücken gehen kaputt, Krankenhäuser sind überlastet, Züge fallen aus, weil die Sonne scheint,  Schulen fehlen und die halbe Bundeswehr ist nicht einsatzbereit, weil Hubschrauber nicht fliegen, Panzer nicht fahren und Schiffe nicht mehr auslaufen dürfen.

„Der Kalender des Scheiterns“ ist, wie sich zeigt, hochaktuell. Tag für Tag darf man eine Welt besichtigen, in der lauter Leute das Steuerruder in der Hand haben, denen man nicht mal den eigenen Kaktus zur Betreuung anvertrauen würde. Und die ihren Wahn, sie hätten die Dinge im Griff, auch noch laut in die Welt posaunen.

Es sind auch ein paar lustige Szenen dabei: Generäle, die nicht in Deckung gehen, weil sie dem Gegner nicht zutrauen, dass er trifft beim Schießen, ein Adelsspross, der sich als Todesart das Ersäufen im Weinfass aussucht, oder etliche jener knapp verhinderten Lottogewinner, die den Millionengewinn nur aus lauter Schusseligkeit verpasst haben.

Daneben findet man all die depperten Politiker, die jahrelang die falschen Behauptungen der Konzerne als ihre Politik hinausposaunt haben – etwa den britischen Gesundheitsminister, der von einem Krebsrisiko beim Rauchen nichts wissen wollte.

Immer wieder auch gern erwähnt jene Forscher, die beim Erforschen seltener Spezies entweder die erforschten Tiere ausgerottet haben oder die ältesten Bäume oder Muscheln der Welt zu Tode gebracht haben – was sie aber erst hinterher merkten. Womit sie sich ja in die Phalanx all der depperten Politiker einreihen, die im Glanz ihrer Vollkommenheit durch ein paar dämliche Worte Kriege ausgelöst haben, die dann tausende Todesopfer kosteten.

Es soll noch Tage geben, für die Nico Semsrott und seine Suchmannschaft keine solcher Ereignisse haben finden können. Die sind extra rot markiert. Obwohl es wahrscheinlich keinen Tag im Kalender der Menschheit gibt, der nicht von menschlichen Fehlleistungen gespickt wäre. Auch nicht der 1. Januar, der erste „rote“ Tag im Kalender.

Die Notfallstationen der deutschen Krankenhäuser können garantiert ein Lied davon singen. Und keine Nacht ist wohl so sehr von den Blitzmerkern unter den Knallchargen bestimmt wie just die vom 31. Dezember zum 1. Januar. Dann sind sie alle auf der Straße, die Vertreter der Gattung: „Da kann gar nix passieren.“

Die anderen wissen das und bleiben lieber in der sicheren Wohnung.

Und es wäre ja einfach nur lustig, wüsste man nicht, dass der menschliche Größenwahn leider allgegenwärtig ist. Und dass er auch noch belohnt wird. Die Größenwahnsinnigsten drängen ja geradezu an das Steuer der Welt, um dann ihrer Lust am Desaster freien Lauf zu lassen.

Und es scheint eine Menge Leute zu geben, die es einfach nicht begreifen, dass man solche Hasardeure nicht wählen darf, wenn einem das Leben lieb ist, die nie im Leben gelernt haben, dass es nichts gibt, was wirklich immer perfekt funktioniert, dass alles schiefgehen kann. Und natürlich auch gerade dann schiefgeht, wenn die Herren der Schöpfung (es sind fast alles Herren) behaupten, ihnen könne so etwas nicht passieren. Kluge Leute gehen dann auf ganz großen Sicherheitsabstand zu diesen Größenwahnsinnigen.

Nico Semsrott schreibt zwar davon, dass der Mensch eigentlich ein Trottel sei. Aber gelernt hat er nun einmal zuallererst aus seinem Scheitern. Zumindest dann, wenn er sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat und aus der Ferne geguckt hat, was da wirklich schiefgegangen ist.

Aber das sind eben nicht die Musterbeispiele in diesem Buch. Denn die echten Profis des Scheiterns wissen, dass ihre Erfindung erst 100 Mal in die Luft fliegt, bis sie die meisten Fehler ausgemerzt haben. Und dass dann immer noch ein Restrisiko bleibt, jene berühmten 0,1 Prozent, vor denen sich kluge Leute zu Recht fürchten und lieber noch eine Rettungsrakete extra anbauen. Denn der eigentliche Spruch lautet ja nicht „Man weiß ja nicht, was passiert.“ sondern: „Man weiß, dass es irgendwann passiert. Und dann muss man vorbereitet sein.“

Noch krasser freilich findet Nico Semsrott die Leute, die es überhaupt nicht erst versuchen. Die also eigentlich noch in Höhlen wohnen würden, wenn andere nicht mutig die Nase rausgesteckt hätten. Insofern sind natürlich auch tragische Helden in seinem Sinne Helden. Auch wenn man beim Blättern hin- und hergerissen ist und sich gerade bei den menschenfressenden Unglücken sagt: Hätte der Mistkerl doch einfach nicht sein Maul so weit aufgerissen.

Aber spätestens wenn man liest, wie die Taliban das Internet verboten, weil man sich da lauter obszöne Sachen runterladen kann, wird klar, dass diese Großmäuler ziemlich dauerhaft zu unserem finsteren Erbe gehören. Sie bleiben ja nicht in ihrer Höhle, sondern kommen raus und versuchen anderen Leuten ihre Höhlenfinsternis als Geisteshelle anzudrehen. Und dann sitzt trotzdem ein Osama bin Laden in seiner Hütte in Pakistan – und lädt sich Pornos runter.

Das gehört dann wohl zu all den menschlichen Überheblichkeiten, die so gern zum Dramenstoff werden, Königen, die sich überschätzen, närrischen Verschwörern und größenwahnsinnigen Feldherren, die nie gelernt haben, aufzuhören. Nicht mal, wenn sie krachend verloren haben. Und damit’s keiner merkt, wird hinterher auch noch ein bisschen an der Geschichte herumgepfuscht und der große Verlierer zum großen Sieger umgedeutet. Merkt ja keiner.

Und weil noch etliche Kalenderblätter übrig waren, gibt es auch noch jede Menge Platz, hübsche Notizen zu schönen Katastrophen zu vermerken. Passiert ja immer wieder. Nur lachen wir viel zu selten darüber und lernen dann was draus.

Der Kalender des Scheiterns beim Verlag Voland & Quist.

Leipziger Zeitung Nr. 60: Wer etwas erreichen will, braucht Geduld und den Atem eines Marathonläufers

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