Am morgigen 23. Oktober erscheint das Buch ganz offiziell: der mittlerweile fünfte Roman der Leipziger Autorin Kati Naumann und der erste, den sie in echtem Teamwork mit der niedersächsischen Autorin Sofie Cramer geschrieben hat. Und ohne ihre Agentin wären die beiden niemals zusammengekommen. Und hätten auch niemals diese verrückte Buchidee verwirklicht. Die eigentlich noch viel verrückter ist als die herrliche „Nachtflug“-Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry.

Saint-Exupérys „Nachtflug“ erschien 1931 und erzählt vom einsamen Flug eines Postfliegers über Argentinien. Das war eine andere Welt. Die beiden Protagonisten, die Naumann und Cramer auf die Reise schicken, besteigen einen ganz normalen Linienflug von Deutschland nach Amerika. Sie kennen sich nicht. Während für Jakob, den Juristen, diese wöchentliche Reise an seinen Arbeitsort in New York fast schon Routine ist, ist es für die Leipziger Garderobiere nicht nur ihr erster Flug.

Eigentlich ist es für sie auch der gedachte Aufbruch in ein neues Leben – raus aus der gescheiterten Ehe mit ihrem zuweilen auch gewalttätigen Ehemann, hinein in eine Traumwelt, in der es an Geld nicht mangelt. Jedenfalls hat ihr das ihr Ex-Mann, der berühmte Dirigent Milan Bering, am Telefon so versprochen. Nach 30 Jahren hat er sich endlich wieder gemeldet, hat Ingrid eingeladen, nach Amerika zu kommen, hat ihr den Flug in der Business Class bezahlt.

Und natürlich ist Ingrid erst einmal geschockt, als ihr ihr Sitznachbar erklärt, was so ein Platz in der Business Class eigentlich kostet. Noch kennen sie sich nicht. Hier prallen eigentlich Welten aufeinander: der erfolgreiche Jurist Jakob, der für seine Karriere alles tun würde und aussieht wie aus dem Ei gepellt, und die pummelig gewordene Leipzigerin, die damals, als sie noch eine lebensfrohe Studentin der Musikwissenschaft war, den faszinierenden Dirigentenstar geheiratet hat, den alle Opernsängerinnen umschwärmten. Sie hat mit ihm ein Kind.

Aber als Milan bei der ersten Auslandsreise mit dem Orchester „im Westen“ blieb, wie das so schön hieß, hatte Ingrid es auszubaden, musste in eine staatlich verfügte Zwangsscheidung einwilligen, um das Kind behalten zu dürfen. Nur das Studium war futsch. Und fortan durfte sich die junge Frau nicht nur in der Produktion „bewähren“, sie bekam auch nie wieder die Chance, an die einst angestrebte akademische Laufbahn anzuknüpfen. Und jetzt scheinen sich die Träume ihres Lebens doch noch zu erfüllen …

Aber so ein Nachtflug nach New York ist lang. Zwei heftige Unwetter kommen noch dazu. Aber dass Jakob und Ingrid ins Gespräch kommen, beginnt nicht erst mit den Turbulenzen in der Luft. Eigentlich muss Jakob noch arbeiten, muss die wohl wichtigste Konferenz in seiner Karriere vorbereiten und hat überhaupt keinen Nerv für die etwas ältere Frau aus dem Osten, die ihn anfangs noch bewundert.

Für sie ist er ein Nachbar aus einer anderen Welt, in der es keine abgetretenen Schuhe und geflickten Strümpfe gibt, wo der Anzug und die Hemden immer wie frisch von der Stange wirken. Ein souveräner Mann, der weiß, wie man Erfolg hat und Geld verdient.

Dass es hier um eine Ost-West-Geschichte geht, müssen die beiden Autorinnen aus Ost und West gar nicht extra betonen. Es ist auch nicht notwendig. Weil es eigentlich eine Geschichte ist, die die üblichen Ost-West-Stereotype unterläuft. Wofür vor allem Ingrid sorgt, die natürlich auch Sorge hat, alles falsch zu machen. Und dass man zehn Stunden lang einfach nur stillsitzt und sich um die anderen nicht kümmert, ist auch nicht ihr Ding.

Erst recht, als sie merkt, dass der souveräne Mann neben ihr doch so ein paar Sorgen zu haben scheint. Auch wenn sie einige seiner unlustigen Reaktionen anfangs falsch einschätzt und ihn auch dann immer wieder stört, als er endlich hofft, nun doch die Dokumente auf seinem Laptop durcharbeiten zu können, stellt sich bald heraus, dass sie wohl doch nicht falschliegt.

Und Jakob setzt sich auch nicht um, sondern geht – so wie er erzogen ist – freundlich auf all die kleinen Störungen ein, die immer mehr dazu führen, dass einer dem anderen seine Lebensgeschichte entlockt. Die richtige, die, die sie beide seit Jahren hübsch unter der Decke halten.

Nicht nur Ingrid, die augenscheinlich aus all den Frauenzeitschriften, die sie so liest, doch eine Menge Lebensweisheit herausgelesen hat, ertappt den erfolgreichen Mann neben sich zusehends dabei, dass er in seinem scheinbar so erfolgreichen Leben doch nicht so glücklich ist, wie er gern behauptet.

Jakob ist ja Anwalt und durchschaut auf seine Weise früh, dass auch Ingrid ihr Lebensmärchen mit sich herumträgt und ihre Illusionen, die sie nicht hinterfragen möchte. Aber der Nachtflug entwickelt seine eigene Dynamik. Auch deshalb, weil Ingrid tatsächlich eine neugierige und einfühlsame Person ist. Und nicht locker lässt, wenn sie merkt, dass ihr ausgewichen wird.

Sie hat eine beherzte, sehr burschikose Art, den scheinbar so weit über ihr stehenden Mann herauszuholen aus seiner steifen Rolle. Und auf einmal schauen sich hier zwei Menschen an, aus völlig unterschiedlichen Lebenswelten kommend – aber da, wo es wirklich um ihr Leben und ihre Gefühle geht, da leben sie in derselben Welt. Da spielen die ganzen Maskeraden unserer Zeit keine Rolle. Und es wird tatsächlich heftig, nicht nur, wenn das Flugzeug absackt. Es gibt echte Wunden, echten Streit. Und dann diese Momente, wo sie grübeln …

Die beiden Autorinnen machen es ja ganz clever: Sie wechseln fortwährend die Rollen und betrachten die Geschichte abwechselnd aus Ingrids und aus Jakobs Perspektive. Man taucht in ihre Gedanken ein, sieht sie zögern, stutzen und sich wieder vertragen. Anfangs nur, weil der Flug ja noch ewig dauert. Später, weil sie im gegenseitigen Nachfragen gemerkt haben, dass sie beide ihre Trugschlösser haben, ihre kleinen und großen Lebenslügen. Und dass sie auf einmal mehr übereinander wissen, als man für gewöhnlich von Mitreisenden erfährt. Oder erfahren will.

Und das alles an einem Ort, an dem sie nicht ausweichen können, im Bauch eines Flugzeugs, auf zwei – zumindest komfortablen – Sitzen in der Business Class, gut umsorgt von der Stewardess, die mit diesem Jakob auch schon eine Vorgeschichte hat.

Am Ende wird es sogar ein filmreifes Happyend und der kleine Nachspann im Buch deutet an, dass die Autorinnen beim Schreiben durchaus so ihre Zweifel hatten, ob die Geschichte von Jakob und Ingrid gut ausgehen kann. Denn so etwas entfaltet seine eigene Dynamik. Und der Leser darf durchaus oft genug erschrecken.

Gerade Ingrid schießt oft und gern und vorlaut übers Ziel hinaus. Am Ende bringt sie Jakobs Geschichte erst so richtig zum Tanzen. Und man beißt sich natürlich – mit Jakob – auf die Lippen: Jetzt hat sie alles ausgelöst, vor dem sich Jakob uneingestanden die ganze Zeit gefürchtet hat. Das muss doch schiefgehen.

Aber augenscheinlich wissen Frauen tatsächlich besser, wie andere Frauen ticken. Und Männer, wie es Männern geht, Ingrids treusorgendem Schwager Bernd zum Beispiel, der Ingrid extra noch eine Einkaufsliste mitgegeben hat für diesen Flug, die sich dann ganz und gar nicht als Einkaufsliste entpuppt.

Auch wenn das Buch auf den ersten Blick aussieht, als gehöre es wie selbstverständlich in das wachsende Regal mit den vielen Frauenromanen, ist einem nach einigen Seiten klar, dass das eigentlich ein sehr kluges literarisches Experiment war, in dem die beiden Autorinnen mehr versuchten, als zwei vertrackte Ost-West-Geschichten zu erzählen in einer Experimental-Konstellation, in der zwei miteinander für Stunden auskommen müssen, die sich draußen im normalen Leben nie begegnen würden.

Was die Geschichte auch zu einem Gleichnis unserer heutigen Wirklichkeit macht und dem Riss, der mittendurch geht, und den die, die alles dafür tun, Karriere zu machen, schon lange nicht mehr sehen. Oder sehen wollen. Die Ingrids, die auch noch ihr letztes Erspartes drangeben, um vielleicht doch wieder eine kleine Chance im Leben zu bekommen, die stören da nur.

Die erkennt man ja schon an ihrer oft getragenen und schon lange nicht mehr nagelneuen und auch nicht maßgeschneiderten Kleidung. Und nun setzen die Autorinnen so eine Ingrid mitten in die Business Class neben einen Mann, der Eleganz, Souveränität und Erfolg ausstrahlt. Und statt Ingrid schamhaft mucksmäuschenstill sein zu lassen, geben sie ihr die Waffe in die Hand, die sie zur Verfügung hat: die Neugier.

Eine zutiefst mitfühlende Neugier aus einer Zeit, in der alle gleich waren und auch der Dirigent des Orchesters auf derselben gesellschaftlichen Stufe stand wie die Studentin und die Garderobiere, als man sich noch in die Augen schauen konnte und nicht im Erdboden versank vor Scham, wenn man nur ganz normale, trotzdem notwendige Arbeiten verrichtete.

Als eine wie Ingrid auch noch fest an das Gute im Menschen glauben konnte, weil es Betrug in ihrer Welt nicht gab. Diese Lektion kam erst später.

Trotzdem bleibt es eine wundersame Geschichte. Denn Jakob kann sehr deutlich erzählen, wie seine Welt funktioniert, in der er ja nicht der einzige ist, der alles tut, um Karriere zu machen – und auch bereit ist, alles dafür zu opfern. Es ist eine Welt, die ihre Werte völlig verschoben hat und die mit der Welt, in der Ingrid lebt, nichts mehr zu tun hat.

Und das ist unsere Gegenwart. Das hat so freimütig, aber auch voller Humor und Spaß an diesem echten Kabinettstück wirklich noch niemand inszeniert.

Sofie Cramer; Kati Naumann Nachtflug, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018, 9,99 Euro.


Leipziger Zeitung Nr. 60: Wer etwas erreichen will, braucht Geduld und den Atem eines Marathonläufers

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