Ja, was ist das eigentlich? Ein Comic? Nein, komisch ist die Geschichte Miras nicht wirklich. Auch wenn dieses eine Jahr im Leben von Mira wie ein Comicstrip gezeichnet ist. Liebevoll. Das ist unübersehbar. Die beiden Kopenhagener Kreativen Sabine Lemire und Rasmus Bregnhøi kennen das Leben der aufwachsenden Mädchen in diesem Alter, in dem man manchmal noch nicht weiß: Hat es schon angefangen? Oder darf ich noch Kind sein?

Was für Mira und ihre beste Freundin Klara und ihren besten Freund Louis eigentlich kein Problem ist. Normalerweise wächst man ja da ganz langsam hinein, der eine schneller, die andere langsamer. Und die wesentlichen Fragen stellt man dann, wenn sie kommen und einen wirklich interessieren.

Aber eines Tages bringt das neue Mädchen in der Klasse alles völlig durcheinander. Beate ist cool. Jedenfalls gibt sie sich so. Mögen Sie coole Menschen? Ich nicht. Ich halte sie allesamt für Windbeutel und Flachflieger. Für Menschen, die gelernt haben, dass es auf Äußerlichkeiten, Eindruckschinden, Besserscheinen als andere ankommt.

Also die gewöhnlichen Produkte unserer aufgebrezelten Konsumgesellschaft, die ihre Art, wie Menschen zu sein haben, überall auf die Bildschirme drückt und Kinder schon frühzeitig dazu erzieht, zu oberflächlichen Eindruckschindern zu werden.

Sie merken schon: Selbst einen ausgewachsenen Leser kann so ein liebevoll und emotional gezeichnetes Bildgeschichten-Buch aufregen und gewissermaßen wütend machen. Stellvertretend. Denn da das alles aus Miras Perspektive gesehen wird, merkt man erst, wie zerstörerisch das Auftreten dieser arroganten … – sorry: der coolen Beate wirkt. Und es kommt einem so bekannt vor.

Die Welt ist voller „cooler“ Beates, die versuchen, sich interessanter zu machen als die anderen. Die sich irgendwo ein paar Verhaltensweisen und Ansichten aneignen – das Warenlager der modernen Eitelkeiten ist ja gut gefüllt – und dann im Habitus der Vielerfahrenen den Altersgenossinnen zeigen, wie sie sie für ihr „kindisches“ Verhalten verachten.

Ja, unsere Schulen sind voll davon. Es gibt die aufgebrezelten Beates und die großmäuligen Beatusse, die ihre Cliquen bilden und dafür sorgen, dass sich die Klasse in einen einzigen Haufen aggressiver Nachahmer verwandelt. Und Eltern wie Lehrer haben kaum ein Mittel dagegen. Denn wie geht man das an, wenn eine ganze Gesellschaft so ist? Geprägt von blitzblanken, aber tatsächlich leeren Vorbildern, von Ansprüchen und Klassifizierungen, die dafür sorgen, dass die einen in der Verachtung der Erfolgreichen auf die anderen herabschauen, die „es immer noch nicht begriffen“ haben.

Blender haben Erfolg. Und wenn man es aus Elternperspektive sieht, könnte man stellvertretend verzweifeln, wenn man sieht, wie ein Mädchen wie Mira darunter leidet, dass sie nicht nur ihre beste Freundin Klara verliert, sondern am Ende auch noch die Ferien allein verbringt.

Wobei Mira Glück hat: Ihre Mutter ist wirklich offenherzig. Fast hätte ich geschrieben: cool. Aber das ist sie nicht. Denn meist überlesen ja die Liebhaber des Coolseins, dass es dabei auch um Gefühlskälte geht. Um genau diese gefühllose Bosheit, mit der Beate den Klassenkameradinnen zeigt, was sie von ihnen und dem, was ihnen Spaß macht, hält. Sie bringt es sogar fertig, Miras Geburtstag zur Katastrophe werden zu lassen.

Schenken Sie das Buch trotzdem ihren Töchtern. Seien Sie mutig. Viele werden sich wiedererkennen in diesem Buch – und zwar in Mira und Klara. Die Beates lesen nicht. Dazu sind sie viel zu sehr auf äußerliche Effekte bedacht. Echte Eisköniginnen, wie sie unsere Fernsehzirkusse so gern anpreisen. All diese Darsteller von irgendetwas, was beim genauen Hinschauen keine Inhalte hat.

Aber wie kriegt man das mit als Kind? Denn noch ist Mira Kind. Dieses jugendliche Gehabe, das Beate zur Schau stellt, ist ihr zutiefst fremd. Als sie Louis anbietet, mit ihr zu gehen, damit sie endlich in diesem Wettrennen um das „Ich hab mich auch schon verliebt“ mithalten kann, fühlen sich beide unwohl in ihrer Haut. Wobei auch Louis ein beeindruckender Bursche ist. Miras Mutter hat recht, wenn sie sagt, dass solche Freunde Gold wert sind.

Es geht also gefühlsmäßig durchaus heftig hin und her. So nebenbei erlebt Mira auch die Suche ihrer Mutter nach dem richtigen Lebensgefährten mit – am Ende wird sie auch die Bekanntschaft mit ihrem richtigen Vater einfordern. Man merkt also auch, was für ein neugieriges und forderndes Kind diese Mira ist, wie intensiv sie tatsächlich lebt und fühlt. Und dass sie diese ganze Coolness, die Kindern als „Must have“ angedreht wird, gar nicht braucht. Das ist nicht das Leben. Das ist nur falsche Show. Aber sie verschont leider nicht die besten Freunde. Und solche Verletzungen gehen tief.

Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die in diesem Buch freilich nicht zu kühnen Streichen führt, filmreifen Abenteuern oder gar den berühmten Teenie-Zicken-Kriegen á la Hollywood. Es sieht beinah aus wie ein ganz gewöhnliches Jahr im Leben eines quicklebendigen Mädchens, das sich auch schon ganz große Fragen stellt.

Aber wenn man sich durch die vielen kleinen Szenen blättert, die so ein Jahr ausmachen, merkt man: Tatsächlich erlebt Mira (obwohl scheinbar gar nichts Besonderes geschieht) lauter aufreibende und niederschmetternde, aber auch freudejauchzende Abenteuer. Das, was Fernsehleute niemals Abenteuer nennen würden, was aber in Wirklichkeit Menschen tatsächlich in Atem hält.

Denn was uns mit unseren Mitmenschen passiert, ist tatsächlich Abenteuer genug. Wir nehmen es meist nur nicht mehr so intensiv wahr wie dieses Mädchen mit seiner impulsiven kreativen Mutter. Tagebuch schreibt sie auch noch. Und die besten Szenen landen alle bei Instagram.

Das Buch ist auch – so still und leise – ein beherztes Plädoyer für Authentizität. Mira will wirklich wissen, wie alle diese komplizierten Dinge tatsächlich sind, wie Gefühle funktionieren und wie sie das, was in ihr selbst rumort, zur Sprache bringen kann. Und sie leidet, weil für sie jede Situation richtiges Erleben ist, kein Versuch, irgendjemand mit irgendeiner aufgesetzten Attitüde zu beeindrucken.

Noch so ein Punkt, an dem man merkt, dass das irgendwie doch nicht nur die Geschichte eines klugen Kopenhagener Mädchens ist, sondern unser aller Geschichte, die wir ja sichtlich immer mehr in einer Welt der coolen Blender und aufgetakelten Schauspieler leben, denen nichts wichtiger ist als ihr eigener Glanz im Scheinwerferlicht. Und wo wir alle nicht mehr zählen, wenn wir uns nicht genauso aufbrezeln. Also nicht mehr sind, was wir sind.

Aber was wird das dann für eine Welt? Eine ziemlich leere und verlogene.

So gesehen ist es auch ein Mutmacherbuch für die Miras, Klaras und Louis’: Lasst euch nicht irre machen von den coolen Beates. Lasst sie links liegen. Lebt euer eigenes Leben, fühlt eure eigenen Gefühle und vor allem – lasst die Freunde nicht im Stich, die ihr wirklich mögt und gut kennt. Sie sind Gold wert. Genauso, wie ihr in ihrem Leben Gold wert seid. Oder im Leben eurer alleinerziehenden Mütter oder gesuchten Väter. Seid, wie ihr wirklich seid. Das Leben der „coolen“ Leute ist nicht die Bohne spannender als eures. Die tun nur so. Das ist alles nur Show.

Natürlich nimmt Miras Geschichte nach vielen Irrungen und Wirrungen noch eine schöne Wende. In so einem Jahr kann ja viel passieren. Aber man lernt dabei auch, wie es sich anfühlt, mit allen Sinnen lebendig zu sein. Und das ist ja schon verwirrend genug.

Sabine Lemire Mira, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2018, 15 Euro.

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