Als Wolfgang Hocquél 1990 das kleine Lexikon „Leipzig. Baumeister und Bauten“ veröffentlichte, brachte er zwar ein kleines Kapitel Barock darin unter – schmal genug. So viele Gebäude aus der Zeit haben sich ja in Leipzig nicht erhalten. Auch das Gohliser Schlösschen ordnete er dem Barock zu, genauer: Spätbarock. Und dann liest man nun Achim Ilchmanns vehementes Plädoyer für den Rokoko und merkt: Leipzig hat eigentlich ein echtes Rokoko-Kleinod. Obwohl es Ilchmann eher um ein Erfurter Kleinod geht.
Man übersieht es, wenn man nicht weiß, worin sich der Rokoko vom Barock unterscheidet und warum das so ist. Und man übersieht es auch, weil der Rokoko lange Zeit als späte Entartung des Barock aufgefasst wurde. Achim Ilchmann, eigentlich Mathematiker von Haus aus, spart nicht mit Spitzen gegen Autoren wie Egon Friedell, die den Rokoko nicht nur abwerteten, sondern auch regelrecht als eine Zeit des Verfalls, der Décadence beschrieben, einige moralisch regelrecht entrüstet.
Man merkt noch immer, wie sehr das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert in regelrechten Verdammungsschlachten tobten, wenn es um die Einordnung von Kunstepochen ging. Und gerade Begriffe wie Entartung und Décadence zeigen, wie sehr diese Art zu denken mit dem elitären Kunstkanon eines Bürgertums verknüpft war, das sich auch in seinem Kunstverständnis nur zu gern einmauerte gegen alles, was nicht zum Brav-Idyllischen passte.
Und das Gohliser Schlösschen? 1755/1756 von Ratsbaumeister Johann Caspar Richter erbaut? Ein Blick auf die Ornamente über den Fenstern, Türen oder im Dachgiebel genügt: Das ist alles Rocaille, jene unverwechselbare Ornamentform, die an Pflanzen und Muscheln erinnert, die dem Rokoko (nachträglich) seinen Namen verschafft hat. Der Leipziger Handelsherr hat sich ein echtes Rokoko-Schlösschen bauen lassen. Mit Spätbarock hat es gar nichts zu tun.
Und Ilchmann erklärt sehr ausführlich, warum das so ist und warum der Barock anders wirkt, ganz andere Botschaften vermittelt und mit dem Tod Ludwig XIV., dem berühmten Louis Quatorze, genannt auch „der Sonnenkönig“, ab 1715 eigentlich ein Ende fand. Kommt im Kunstunterricht in der Regel nicht vor. Was zu den Fehlstellen in unserem Bildungssystem gehört. Auch darauf geht Ilchmann ein, weil es selbst Kunstlehrer meist vergessen: Kunststile entstehen nicht, weil sich irgendwelche Galeristen oder Kunstwissenschaftler das ausdenken, sondern weil sie der Ausdruck konkreter wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen sind. Und der Barock ist typisch dafür – ist aber vor allem eine Kunst des Adels. Er schuf das adelige Schloss als Gesamtkunstwerk und als architekturgewordener Ausdruck von Macht. Er gehört zum Zeitalter des Absolutismus.
Und er endet genau in dem Moment, in dem eine neue, aufstrebende Klasse diesen absolutistischen Herrschaftsanspruch infrage stellt.
Ilchmann erwähnt zwar das Wort Aufklärung nirgendwo, das so gern missverstandene, heute erst recht missverstandene, weil seinen frühen Vertretern Absichten und Ansichten unterstellt werden, die sie gar nicht hatten. Der Unterstellung folgt dann in der Regel die Verdammung – bis dahin, gerade die Aufklärung für die Desaster der Gegenwart verantwortlich machen zu wollen. Da würden selbst die Herren Leibniz, Thomasius und Wolff die Contenance verlieren und diesen Plapperern einen Vogel zeigen.
Die Welt ist nicht mit der Aufklärung in zwei Hälften gefallen, eine böse rein rationale und eine romantisch-heilende. Erkenntnis führt nicht zwangsläufig zur gnadenlosen Ausbeutung der Welt. Im Gegenteil: Sie führte auch dazu, dass auch Bürger begannen, die Schönheit in ihrer Welt zu entdecken und sich anzueignen. Die Namen dieser kunstsinnigen und hochgebildeten Bürger in Leipzig sind bekannt.
Erfurt war im Vergleich mit Leipzig ein deutlich ärmeres Städtchen mit gerade einmal 600 Bürgern, die sich leisten konnten, ein eigenes Haus zu bauen wie der Bankier Friedrich Wilhelm Stalforth. 1708 geboren, lebte er mit seiner jungen Frau im Haus zum Roten Ochsen am Fischmarkt, einem Renaissance-Bau, das ihm auch gehörte.
Er brauchte also nicht unbedingt ein eigenes Haus. Aber seine Intention muss ganz ähnlich gewesen sein wie bei Johann Caspar Richter: Er wollte nicht irgendwie wohnen, sondern modern. Nur verfügte er nicht über ein nettes Bauerngut vor der Stadt, sondern über ein unbebautes Grundstück in der Predigerstraße, wo 1737 der große Stadtbrand gewütet hatte. Das Grundstück war schmal. Ein Schlösschen konnte sich Stalforth hier nicht bauen. Aber ein Bürgerhaus im Stil des Rokoko.
Und das ist auch für Erfurt ein besonderes Kleinod, gerade weil das drei Fenster breite Haus zeigt, wie ein betuchter Bürger die Ideen und Prinzipien des Rokoko verwandeln musste, um die wirtschaftlichen Bedürfnisse eines bürgerlichen Haushalts mit dem anspruchsvollen Lebensstil des Rokoko zu verbinden.
Diesem Haus, das sich Stalforth 1768 baute, dem Haus Zum güldenen Heer, widmet Ilchmann ein dickes, reich bebildertes Kapitel, in dem er erzählt, was alte Akten noch über den Originalbau verraten und wie der kunstsinnige Bauherr die neuen Ideen für sich umsetzte. Man darf durchaus verblüfft sein, was sich hinter der scheinbar so einfachen Straßenfassade verbirgt, auch wenn vieles aus dem inneren Gestaltungsprogramm im Lauf der zweieinhalb Jahrhunderte verschwunden ist.
Es haben ja Menschen drin gewohnt, die das Haus auch wieder für ihre Zwecke umbauten, aber auch die Eingriffe der Stadt, die das Haus später als Standesamt nutzte, waren nicht unerheblich. Und auch die Sanierung nach 1990 ging nicht ohne Verluste vonstatten, über die Ilchmann vor allem deshalb berichten kann, weil viele damalige Befunde sorgsam fotografiert und archiviert wurden.
Aber ihm geht es ja um etwas anderes. Denn gerade die Restaurierung des Hauses brachte ja erst die Beschäftigung mit der einzigartigen Kunstepoche mit sich, aus der Stalforth seine Ideen für das Haus seiner Träume bezog. Das hat nun einmal mit der lange Zeit gültigen Abwertung und Verkennung des Rokoko zu tun. Was in den Köpfen der Kunsthistoriker keinen großen „Wert“ hat, wird unachtsamer behandelt.
Oder es wird verfälscht, weil die Prinzipien dieses besonderen Architekturstils nicht bekannt sind. Und das sind – nicht ohne Grund schreibt ein Mathematiker dieses Buch – nun einmal durchdachte mathematische und geometrische Prinzipien. Und natürlich wundert man sich darüber überhaupt nicht mehr, denn auch die Begeisterung für geometrische Harmonien gehört zur Aufklärung. Wer so baute zeigte auch, dass ihm Klarheit, Ausgewogenheit und Symmetrie wichtig waren.
Aber eben nicht so, wie es später der Klassizismus verstehen würde, sondern als Grundprinzip eines bewussten Lebens, das neben der Ratio die Gefühle ganz und gar nicht ausschloss. Im Gegenteil: Das, was verbiesterte Kunsttheoretiker als Décadence begriffen, war tatsächlich bewusste Lebensfreude. Aber das begreift man nur, wenn man am humanistischen Gymnasium die alten Griechen nicht abgewählt hat. Deshalb ist der erste Teil des Buches, mit dem Ilchmann in die Denkweise des Rokoko einführt, deutlich länger geraten als die Betrachtung des Hauses.
Denn er muss bis zu Platon zurück und dessen Definition des Eros, die in der heutigen ziemlich platten Interpretation kaum noch wiederzufinden ist. Ilchmann bezieht sich stark auf Hegel und seine Weiterentwicklung Platons. Es wird hochphilosophisch. Aber das muss wohl sein, um den Rokoko aus seiner Denkfalle zu befreien und ihn als eine Kunstform zu begreifen, die eben nicht nur „verspielt“ war, sondern sehr dynamisch. Logisch, dass Ilchmann einen ganzen Abschnitt auch der Linie widmet, die in den aufbrechenden Formen der Rocaille regelrecht verloren zu gehen scheint. Was viel damit zu tun hat, dass Entgrenzung und Aufhebung des starren Raumes zentrale Kategorien des Rokoko-Stils sind.
Nicht nur zu finden in der Architektur, sondern auch in der bildenden Kunst und – das Stichwort „mikromegalisch“ fällt – in der Literatur. Wofür eben die berühmte Erzählung „Mikromégas“ von Voltaire aus dem Jahr 1752 steht. Wer diese Beinahe-Science-Fiction-Geschichte liest, begegnet dem sehr modernen Problem der Relativität. Und kommt der Welt, in der ein Richter oder ein Stalforth lebte, wahrscheinlich recht nahe. Mal von Voltaires ironischer Kritik an jeder in Stein gemeißelten Religion ganz zu schweigen. Es steckt also auch eine sehr neugierige, skeptische Welthaltung dahinter. Wer Aufklärung immer nur auf das gefühllos Rationelle beschränkt, hat wirklich nicht aufgepasst.
Und der lange, sehr philosophisch geprägte erste Teil ist natürlich wichtig, um dann das so liebevoll restaurierte Haus mit den Augen des Rokoko sehen zu können, wahrzunehmen, wie sich hier ein gebildeter Mann ein modernes, lebenswertes Refugium schuf, das mit der Strenge und Enge der Renaissance-Bauweise nichts mehr zu tun hatte, dafür viel mit einem Lebensgefühl des Werdens und Entgrenzens. Und damit elementar für diese Zeit, in der einige kluge Leute daran arbeiteten, die Menschheit aus den engen Verbotszonen des mittelalterlichen, nicht-aufgeklärten Denkens herauszuholen.
Und Menschen wie Stalforth verwandten dabei sehr viel Aufmerksamkeit auf die Details. Und sie konnten dabei auf exzellente Handwerker zurückgreifen, die die modernen Ansprüche in höchster Qualität umsetzen konnten. Gerade der Blick ins Haus ist ein regelrechtes Achtungs-Kapitel für die Leistungen der damaligen Handwerker und die heutigen, die viele Details kunstfertig restaurieren oder nachempfinden konnten.
Am Ende empfiehlt Ilchmann noch einen dicken Packen Literatur. Man hat mit ihm gelernt, die eigentlich unübersehbaren Details des Rokoko wahrzunehmen. Und man hört auf, diese Kunstepoche als eine Art „heruntergekommenen Barocks“ zu betrachten. Eher ist es wohl eine eigenständige Kunstepoche, die den Barock mit dem Klassizismus verbindet, der dann mit der Entgrenzung zu hadern begann und meinte, die Geometrie wieder sichtbarer machen zu müssen.
Wofür ja insbesondere Johann Joachim Winckelmann warb, der wie kein anderer das, was er als antike Maßstäbe begriff, in Deutschland propagierte. Winckelmann starb just in dem Jahr, in dem Stalforth sein eindrucksvolles Bürgerhaus vollendete. Die kleine Tragik dabei: Schon 1769 starb Stalforth. Er konnte sein Rokoko-Kleinod also kaum genießen.
Aber so wie es in Erfurt steht, hat es nun einen philosophisch gebildeten Mathematiker angeregt, für eine ganze Kunstepoche eine Lanze zu brechen, die zu unrecht ins Abseits verbannt war. Da gehört sie nicht hin.
Achim Ilchmann Das bürgerliche Stadthaus im Rokoko, Verlag, Tübingen 2018, 39,80 Euro.
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