Dichterdenkmäler kann man in Leipzig lange suchen – wenn man einmal von den durchgereisten Herren Goethe und Schiller und dem etwas abgeschiedenen Gellert absieht. Edwin Borman hat keins bekommen, Lene Voigt auch nicht und auch nicht der freche Hans Bötticher, der sich seit 1919, nach seinem Abschied von Krieg und Marine, nur noch Joachim Ringelnatz nannte. Für die Lyrikgesellschaft Anlass genug, dem Frechdachs ein ganzes Jahr, einen Wettbewerb und eine Lyrikauswahl zu widmen.

Und auch wer sich nicht mit einem Videoclip am Wettbewerb beteiligen möchte, bekommt mit dem Text-Hörbuch einen kleinen Einblick in die zutiefst poetische Welt dieses Dichters, der 1883 in Wurzen geboren wurde und ab 1887 mit seinen Eltern in Leipzig in der heutigen Gottschedstraße lebte. Bis 1901 besuchte er hier auch die Schule, bevor er sich als Schiffsjunge auf die große Reise begab. In Wurzen erinnert das Ringelnatz-Museum an den begabten Sohn eines ebenfalls schriftstellernden Vaters.

Aber Leipzig ist, was seine Dichter betrifft, eine höchst vergessliche Stadt. Ihr geschäftiger Kaufmannsgeist feiert sich zwar gern im Glanz großer Musik. Aber mit Worten hat es die jeweilige Obrigkeit nicht so. Gedichte lesen oder gar in Dichterlesungen gehen?

Das tut doch nur, wer eh schon aufmüpfig ist und die doppelten Böden liebt, das Abgründige, das selbst in der Sprache lauert. Und wie es lauert, das merkt man bei Ringelnatz alle Nase lang. Er gehört ja zu den großen mitfühlenden Spöttern, die sich in Leipzig mal kürzer oder länger aufhielten: Erich Kästner vorneweg. Und Ringelnatz mit Seemannsgang daneben.

Beide begnadete Autoren von Liebesgedichten, die nicht von Schmalz triefen, sondern von raubärtiger Herzlichkeit. Wem sie so ein Gedicht schrieben, der war wirklich gemeint.

Und auch seine Sachsen kannte Ringelnatz nur zu gut. Da schreibt er ein Gedicht über den Schnee. Und mittendrin erzählt er, wie er sie beim Gruppieren erwischt hat. Das kennt man so ungefähr auch von heute, auch ohne Schnee: „Wenn hundert Leute sich einig sind / Dann fühlen sich die als Giganten / Und schwafeln vor einem vernünftigen Kind / Wie taube verwunschene Tanten.“

Bekanntlich blieb er ja als erwachsener Ringelnatz nicht in Sachsen, sondern bevorzugte lieber große Städte wie München oder Berlin. Und so wünscht man sich vergebens, dass er heute einfach mal zu einem Gastauftritt an die Pleiße käme. Das wäre ein Hammer. Aber wahrscheinlich würde es keiner merken. Die große Werbung passiert für andere Dinge. Den Biss der 1920er Jahre hat auch Leipzig schon lange verloren. Die Kabaretts sind professionell geworden. Aber das Verruchte verschwand, das Hinter-Listige, das bei Ringelnatz aus jeder Strophe purzelt. Denn es sind allesamt Gedichte, die man eigentlich vortragen muss. Dann merkt man was.

„Der Mann mit dem unruhigen fahlen Gesicht begann Gedichte zu rezitieren. Gedichte von ihm selbst; aber von solch sprudelnder Lustigkeit, daß es mir unerklärlich war, wie ein Mensch, in dessen Zügen soviel Gram und innere Zerrissenheit lagen, überhaupt noch wissen konnte, was Heiterkeit und Lebensbejahung sei“, zitiert das Heft den Münchner René Leclére zu einem Auftritt aus dem Jahr 1910.

Dem Heft ist eine CD beigelegt, auf der Steffi Böttger, Johannes Gabriel, Mayjia Gille und Axel Thielmann die ausgewählten Gedichte so lesen, wie sie ihren Ringelnatz empfinden. Auch als Anregung. Denn die Auswahl ist ja pünktlich zum Ringelnatz-Wettbewerb erschienen, der jetzt ein Jahr lang die Phantasie anregen soll. Denn wie kann man die eh schon bildhaften Gedichte gar in eindrucksvolle Lyrik-Clips verwandeln? Die kesse Ironie des Schneeschnüppchen-Fängers in etwas verwandeln, was man angucken kann? Geht das überhaupt?

Etwa das so schön abgebrühte Gedicht „Im Park“, das man natürlich auch in der Auswahl findet und das Ernest A. Seemann (wie noch einige andere Ringelnatz-Gedichte) versucht hat ins Englische zu übersetzen.

Joachim Ringelnatz original: „Im Park“

Der Wettbewerb

Ende August eröffnete die in Leipzig ansässige Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. (GZL) ihr bislang größtes und langfristigstes Projekt: die Joachim-Ringelnatz-Jahre. Dem am 7. August 1883 in Wurzen geborenen Dichter soll dabei von seinem 135. Geburtstag bis zu seinem 85. Todestag (17. November 2019) durch Lesungen, Publikationen, Schülerbegegnungen und einen Gedichtfilmwettbewerb vielfältige Würdigung zukommen.

Ein äußerst erfolgreicher Auftakt gelang dem Leipziger Poesieverein mit einem Vortrag von Texten von und zu Joachim Ringelnatz in der Leipziger Stadtbibliothek. Über 130 Zuhörer lauschten den Bremer Radioredakteuren Michael Augustin und Walter Weber bei ihrer audiovisuellen Reise durch das Ringelnatz-Universum. Neben Texten aus der spitzen Feder des sächsischen Poeten kamen Originaltonaufnahmen von Ringelnatz zu Gehör, ergänzt um Widmungen und Interpretationen von Zeitgenossen und Nachgeborenen.

Am Abend darauf kamen weitere Ringelnatz-Texte zur Aufführung. Im Botanischen Garten hatten sich 90 Gäste eingefunden, um die Schauspieler Tina-Nicole Kaiser und Jürgen Wegscheider bei ihrer mitunter szenischen Darbietung von Gedichten und Aphorismen unter dem Titel „Ich bin so knallvergnügt erwacht“ zu erleben. Umgeben von tropischem Blattwerk entstand dabei eine erfrischende Stimmung, die die zweistündige Veranstaltung mit Imbiss kurzweilig und abwechslungsreich machte.

 

Ringelnatz-Lesung im Botanischen Garten. Foto: Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik
Ringelnatz-Lesung im Botanischen Garten. Foto: Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik

Die GZL lädt ab sofort und bis zum 15. Juli 2019 interessierte Filmschaffende und Laien dazu ein, sich an ihrem Gedichtfilmwettbewerb „Wassertropfen und Seifenblase“ zu beteiligen. Das zugehörige Text- und Hörbuch mit ausgewählten Ringelnatzgedichten ist neben weiteren Informationen zu Prämien und Teilnahmebedingungen direkt beim Verein erhältlich. Die Projektpartner in Wurzen und Cuxhaven, der Joachim-Ringelnatz-Verein, die Ringelnatz-Gesellschaft und das Ringelnatz-Museum bzw. die -Sammlung, gewährleisten die spätere Präsentation der Siegerfilme an mehreren Orten in Deutschland. Mehr zur Ausschreibung hier: www.lyrikgesellschaft.de

Joachim Ringelnatz „Wassertropfen & Seifenblase. Ein Text-Hörbuch“, edition kunst & dichtung, Leipzig 2018, 9,95 Euro

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