Als Roger Melis’ Fotoband „In einem stillen Land“ 2007 als Band 3 in der Reihe „Bilder und Zeiten“ bei Lehmstedt erschien, war noch nicht abzusehen, dass dieser Fotoband ein richtiger Bestseller werden würde. Obwohl Roger Melis nun wirklich kein Unbekannter war. Jedenfalls bei all jenen, die seinen genialen Fotoband „Paris zu Fuß“ von 1987 kannten. Aber war die Zeit wirklich schon reif für die wirklich gute Dokumentarfotografie aus der DDR? Tatsächlich war sie überreif.
Viele weitere Fotobände, die Matthias Bertram im Lehmstedt Verlag herausgab, beweisen es. Und auch die enthusiastischen Kommentare selbst im bundesweiten Feuilleton. Denn erstmals wurde sichtbar, dass dieses Land hinter der Mauer nicht nur eine Propagandafläche der Partei war mit all seinen Aufmärschen, Losungen, gestellten Bildern. Und auch, dass es nicht nur aus Funktionären und Gläubigen einer plakativen Ideologie bestand.
Aber noch 1999, so kann Matthias Bertram im Nachwort zu dieser Neuauflage des vergriffenen Bandes erzählen, dominierten die Propagandabilder aus dem ADN-Archiv. Worüber sich Bertram und Melis beim Jahreswechsel 1999/2000 zu Recht ärgerten. Weil es so typisch war und so deutlich machte, dass gerade der Westen auch zehn Jahre nach dem Mauerfall noch immer seine alten Bilder vom Osten pflegte.
Aber wie nimmt man einen Landstrich wahr, der hinter den gestellten Bildern der einstigen Parteipropaganda verschwand?
Gar nicht.
Und zum Teil darf man auch heute noch das Gefühl haben: Daran hat sich nichts geändert. Egal, wie sich die Ostdeutschen benehmen – sie werden mit den alten Propagandabildern gleichgesetzt. Und man muss schon die intensiven Romane der wirklich klugen ostdeutschen Autorinnen und Autoren lesen, um die andere Welt kennenzulernen, in der die meisten Ostdeutschen tatsächlich lebten, jenes graue, aber auch stille Land, in dem sie einen zwar kargen, aber stolzen Alltag lebten.
Eben jenen Alltag, den Roger Melis so exemplarisch eingefangen hat. Das Buchprojekt wurde eigentlich in jener Silvesternacht geboren, erzählt Bertram. Aber dann hatte Melis erst keine Zeit. Und am Ende brauchte es den kleinen Ansporn aus dem Lehmstedt Verlag, dass er die Idee, sein Archiv zu durchforsten, doch noch aufgriff und in Team-Arbeit diese beeindruckende Auswahl entstand, die seitdem zu einem Synonym für die zunehmend reicher sichtbar gewordene Dokumentarfotografie aus dem Osten wurde.
Denn was Melis entdeckte, wird auch in den Fotoserien seiner Kolleginnen und Kollegen sichtbar: Es ist nicht nur das Graue, Triste an diesem Land, das sich 40 Jahre lang emsig herunterwirtschaftete, was es so unverwechselbar machte. Die Fotos erzählen tatsächlich von einem stillen Land – mit sehr leeren Straßen, flugzeuglosen Himmeln, ohne schreiende Werbung an den Straßenrändern, ohne schreiende Farben.
Alles war gedämpft. Aufs Eigentliche reduziert. Selbst die Arbeitsorte, die Melis ablichtete, tragen Patina. Unter rustikalsten Bedingungen wird gearbeitet, egal, ob es die Kohlenträger sind, die Arbeiter im Gummiwerk oder die Bauern in der LPG. Und trotzdem schauen die Abgelichteten direkt in die Kamera, erfüllt von einer inneren Gelassenheit. Niemand stellt sie als Person infrage. Sie müssen sich für niemanden optimieren oder gar inszenieren.
Was jetzt, da der Band nach elf Jahren wieder vorliegt, erweitert um das Nachwort und englische Übersetzungen, noch mehr auffällt. Melis betonte es sogar 2007 in seinem Vorwort. Und nun sieht man es noch deutlicher: Solche Arbeiter wird man nicht mehr finden. Menschen, die in ihrer Arbeit ihre Würde nicht verlieren, weil jede Arbeit anerkannt ist. So seltsam das wirkt, denn oft genug übte ja der Staat regelrecht Zwang aus, die Menschen auch an die ungesündesten Arbeitsplätze zu bekommen.
Aber die Arbeit selbst galt nicht als entwürdigend. Selbst dann nicht, wenn die Bezahlung ganz und gar nicht fürstlich war. Der Arbeitsplatz war Teil funktionierender sozialer Beziehungen. Und über niemandem hing das Damoklesschwert drohender Entlassung, weil irgendwo in einem fernen Aktionärsrat die Reduzierung der Arbeitkräfte beschlossen wurde.
Man kommt schon ins Grübeln: Ist es vielleicht das, was so viele Ostdeutsche zermürbt? Dass sie genau diese Würde aufgeben mussten und seitdem die ganze Breitseite prekär gemachter Beschäftigung erlebten? Kann es sein, dass Arbeit tatsächlich mehr ist als nur ein Produktivitätsfaktor? Dass sie Lebenssinn stiftet und sozialen Rückhalt? Und: Menschenwürde. Selbst dann, wenn im Hintergrund die ungefilterten Abgase von Senftenberg in den Himmel geblasen werden und sich grau über die Landschaft legen?
Wobei Melis ja auch jene Menschen porträtiert hat, die eigentlich für das Heroische in der Gesellschaft stehen sollten: Gewerkschaftsmitarbeiter, den Parteisekretär, die Offiziere beim Warten auf den Beginn der Parade, die Parteitagsdelegierte … Und mittendrin tauchen dann die Ruinen auf, die jahrzehntelang nicht beräumt wurden, die der Kreuzkirche in Dresden oder die vom Gendarmenmarkt in Berlin. Hinter den Propagandakulissen zeigte das Land seine arme Seite, seine Knappheit, aber auch die ganze Selbstverständlichkeit des Lebens unter solchen Bedingungen. Wo nichts drängt, keine Karriere Druck ausübt, da hat man Zeit. Kinder spielen auf den Straßen, Radfahrer bleiben stehen und unterhalten sich.
Und selbst Wolf Biermann lehnt als „Preußischer Ikarus“ auf der Weidendammer Brücke und schaut in die Kamera, als könnte er 40 Jahre lang dort stehen, das ND in der Manteltasche und das nächste Gedicht im Kopf. Trocken und mit bitterem Ernst das Land so zu beschreiben, wie er es sah. Und eigentlich – auch das stellt man erst aus der Distanz so fest – hat er es genauso liebevoll-rotzfrech porträtiert, wie es Melis mit seinen Fotos tut. Die Poesie liegt genau da, wo man das Vorgefundene nicht mehr verklärt. Niemandem beweisen muss, dass man irgendeinen goldenen Schimmer sieht, wo keiner ist.
Da wirken die mit stolzgeschwellter und ordensgeschmückter Brust marschierenden Kampfgruppenkommandeure wie ein seltsamer Kommentar. Eine längst vergrabene Erinnerung an die Ängste des 1989er Herbstes, als man diesen uniformierten Brigadieren zutraute, sie könnten bereit sein, in die Menge zu schießen.
Aber die grimmigen Herren vom Foto blieben augenscheinlich lieber zu Hause. Wenn sie denn überhaupt noch an das glaubten, für das sie 1981 so stolz an der Tribüne vorbeimarschierten. Und die anderen standen verwirrt in ihren Uniformen da und wären lieber bei den Demonstranten mitgelaufen.
Und dass einen heute die mitgeschleppten Parteifunktionäre-Bilder bei der Berliner Mai-Demonstration ausgerechnet an einen „Trauermarsch“ der AfD erinnern, gibt doch zu denken. Ein Teil dieses Völkchens im Osten hat augenscheinlich nicht nur den alten Stolz verloren, sondern auch den kritischen Blick auf Propaganda aller Art. Aber vielleicht sieht man da schon wieder zu viel hinein in diese Fotografien aus einem ja tatsächlich verschwundenen Land.
Einem Land, das sich selbst nicht kennen durfte, denn die meisten dieser Fotos durften in DDR-Publikationen gar nicht erscheinen. Und wenn, dann war das eine Lücke, einer jener seltenen Momente, in denen gewitzte Redakteure mit den Fotografen gemeinsam eine Chance nutzten, das Ungezeigte doch einmal abzubilden. Was, wenn es die Leser erreichte, natürlich wie eine Flaschenpost wirkte, wie eine Botschaft aus einer Welt, die hinter den staatlich aufgebauten Kulissen existierte. Und wo die meisten wirklich zu Hause waren – in Lieb und Leid, stolz und lebenshungrig.
Was noch immer zu zeigen ist. Deshalb macht auch die Neuauflage in zwei Sprachen Sinn. Auch das eigentlich eine Flaschenpost in einer Zeit, in der wieder alles nur auf die Fassade starrt, aber das Leben hinter der – heute verdammt laut gewordenen – Fassade fast ungesehen passiert, abgesperrt und versteckt. Auch weil dieser alte Stolz verschwunden ist, der in den Fotos von Melis überall präsent ist.
Vielleicht hätte man diesen Stolz nie verschwinden lassen dürfen. Aber wem sagt man das?
Mathias Bertram In einem stillen Land / In a Silent Country, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2018, 28 Euro.
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