Als Franziska Gehm 1974 geboren wurde, gab es noch keine Schlussakte von Helsinki, war Wolf Biermann noch nicht ausgebürgert und Renft noch nicht verboten. Es wehte ein Hoffnungslüftchen durch das Land, in dem sie geboren wurde – dicht an der Grenze, in Sondershausen im heutigen Kyffhäuserkreis. Das Land ist verschwunden. Aber nicht ganz. Deswegen spielt es in Franziska Gehms Kinderbüchern eine wichtige Rolle.

Vor zwei Jahren veröffentlichte sie im Klett Kinderbuch Verlag schon ihr filmreifes Abenteuer für Jugendliche „Pullerpause im Tal der Ahnungslosen“. Ein Buch, das noch richtig nach DDR roch. Und damit einen Nerv traf, ein Gefühl. Denn für alle, die dieses Land bis 1989 erlebt hatten, hatte es einen Geruch (oder mehrere), eine Farbe (verwaschenes ORWO-Color), einen Geschmack (oder auch mehrere), eine Stimmung (tieftraurig wie die meisten DEFA-Filme) und ein Bündel an Prägungen, die bis ins hohe Alter nachwirken. So wie bei den grimmigen Altpionieren, die da in Sachsen demonstrieren auf „Trauermärschen“.

Und warum? Weil sie nie wirklich getrauert haben.

Zwar waren die „Trauermärsche“ in Chemnitz und Köthen perfide Veranstaltungen ausgebuffter Rechtsradikaler (zumeist mit westdeutscher Herkunft), aber die Einladung funktionierte. Weil sie das Ungesagte ansprach.

Man verlässt ein Land nicht einfach, ohne wirklich Abschied zu nehmen. Es lebt sonst als Geist fort, erzeugt immer wieder das Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben. Aber statt es zu suchen und zu benennen, wird die Ursache allen Schmerzes wieder „da oben“ gesucht. Die da oben sind wieder schuld.

So große Gedanken zu einem Bilderbuch?

Irgendwie schon. Mit diesem Hübendrüben-Bilderbuch, das Franziska Gehm zusammen mit dem westdeutschen Grafiker Horst Klein gestaltet hat, werden auch Gefühle und Assoziationen aufgerufen. Auch Verlustgefühle. Hüben wie drüben. Denn wer in die alltäglichen Details schaut, sieht, dass da über 40 Jahre zwei unterschiedliche Länder entstanden sind. Die zerstörerische Vorgeschichte zeigen die beiden Bucherschaffer auch. Denn Kinder wissen ja gar nicht, wie es dazu kam, dass nach dem Desaster des 2. Weltkriegs zwei verschiedene deutsche Staaten entstanden, also quasi zwei Deutschland. Mit unterschiedlichen Regierungen, unterschiedlichen Lebensverhältnissen, unterschiedlichen Produkten und Lebensläufen.

Stellvertretend werden Max und Maja gezeigt – Maja im Osten lebend mit Vati und Mutti, ihr Cousin Max im Westen aufwachsend mit Papa und Mama. Schon bei der Wortwahl wird klar, wie weit die Unterschiede reichen und wie sehr im Osten die allwaltende SED es schaffte, einen Teil ihres Denkens auch über Worte in die Köpfe der Menschen zu prägen. Nur so am Rande: Bevor die Demonstranten 1989 riefen „Wir sind das Volk“, war den DDR-Bürgern ja systematisch eingehämmert worden, dass sie „das Volk“ sind. Eine große, homogene Gemeinschaft, aus der nur die Dissidenten herausfallen, weil sie nicht uniform sein wollen.

Nur so ein Gedanke. Denn warum schaffen Gehm und Klein so ein Buch, mit dem die heutigen Kinder nacherleben können, wie ihre Eltern aus zwei völlig verschiedenen Welten kamen? Nicht nur, weil diese Erinnerungen zu verschwinden drohen. Das auch. Denn einzig gültig ist ja nur die Geschichte von Einheit und Einigkeit. Eine Geschichte, die die Unterschiede zwischen Ost und West zuschmiert. Mit dem Ergebnis, dass Ostdeutsche immer wieder erleben, dass ihre Herkunft und ihre Geschichte als Manko begriffen werden. Erst recht, wenn sie sich anders benehmen als erwartet. Dann werden sie ruckzuck zu Deutschen, die den Schritt zur Deutschen Einheit nicht geschafft haben, also zu Deutschen mit einem sichtbaren Handicap.

Nie habe ich auch nur eine einzige Geschichte gelesen, in der Westdeutschen vorgeworfen wurde, sie hätten den Schritt in die Einheit nicht geschafft.

Das wird nur von Ostdeutschen erwartet. Und logisch: Viele erleben das als die permanente Aufforderung zum Verzicht auf die eigene Geschichte. Deswegen wird an vielen DDR-Produkten (die auch in diesem Buch in erstaunlicher Vielzahl zu sehen sind) auch schon aus Trotz festgehalten. Sofern es diese Produkte noch (oder wieder) gibt.

Ostdeutsche wissen, was Produkte bedeuten. Denn dass es nichts gab, ist ja ein Märchen. Es gab nur nicht immer alles und von manchem viel zu wenig. Aber wer aus seinen Kindheitserinnerungen Kaba, Nudossi, Fetzer, Bambina, Broiler und Vita-Cola auskramen kann, der hat zwar eine nicht halb so bunte und reiche Warenwelt im Kopf wie die frechen Cousins im Westen. Aber sie ist in den Erinnerungen darum wahrscheinlich sogar noch markanter.

Maja hat keine arme Kindheit gehabt. Eine indoktrinierte – das schon. Aber bei dem Thema ist Franziska Gehm dann doch erstaunlich zurückhaltend. Man findet Pioniernachmittage und Sero-sammelnde Kinder, „Timur und sein Trupp“ und die Olsenbande. Auch ein Ferienlager. Aber keinen Pionierappell, keinen Blick in so eine ostdeutsche POS, während man Max fröhlich über den Schulhof turnen sieht.

Die beiden Geschichten laufen ja nebeneinander. Und die wichtigste Botschaft ist natürlich: Kinder waren in Ost und West gar nicht so verschieden. Sie mussten nur aus den Dingen, die ihnen zur Verfügung standen, etwas machen. Und vielleicht unterschieden sich ihre Heldinnen (Steffi Graf und Kati Witt) und Helden (Astronauten und Kosmonauten) und auch die Abenteuer in den Ferien. Aber Kindheit war hier wie da voller Abenteuer, Träume, Wünsche und auch mal Langeweile. Ist also das, was Maja erlebt an Unfreiheit und Bevormundung, nur Folie? Fällt das einfach ab?

Und wie ist das mit Max in seiner reichen Warenwelt, in der Mama zu Hause putzt, während Papa so viel verdient, dass sich die Familie ein Eigenheim und ein Auto leisten können?

Es ist auch eine Geschichte über Prägungen und Selbstverständlichkeiten. Wobei viele ostdeutsche Selbstverständlichkeiten ja keine waren – weder die Mauer noch die diebischen Zollbeamten. Logisch, dass am Ende ein riesiges Wiedervereinigungsbild steht, in dem einmal im Leben dieses Volkes die pure Lebensfreude auf der Mauer tanzen durfte. Max und Maja können endlich gemeinsam auf Klingelzug gehen – obwohl sie beide längst viel zu alt dafür sind. Schätzungsweise 15.

Womit die Geschichte ja eigentlich erst beginnt, auch wenn man jetzt zu Ende geblättert hat. Denn ein Stück von Maja steckt ja in Franziska Gehm. Die nicht die einzige Autorin aus dem Osten ist, die das drängende Gefühl hat, dass hier etwas ganz und gar nicht zu Ende erzählt wurde. Dass der Osten vielleicht auf dem Papier dem Westen irgendwie beigetreten ist. Aber das ist wohl die größte Fiktion der Gegenwart. Denn: Warum ist er dann noch da, dieser Osten? Mit all seinen Erinnerungen, Prägungen, Erwartungshaltungen?

Und natürlich werden viele Eltern, die damals noch Kind waren, das ruhelose Gefühl haben, dass es da auch den eigenen Kindern etwas zu erzählen gibt. Ein richtiges Stück Geschichte, das eben am 2. Oktober 1990 nicht einfach verschwunden ist. Geschichte verschwindet nicht – man sperrt sie bestenfalls weg und wundert sich dann, dass sie als Gespenst wieder auftaucht.

Auf dem Cover stehen Max und Maja frech wie echte Kinder eben nebeneinander und halten ihre Fähnchen hoch. Es ist ein Idealbild, das etwas voraussetzt, was es so augenscheinlich nie gegeben hat – ein richtiges Zusammenwachsen. Denn das setzt voraus, dass beide sich verändern. Jeder ein Stück weit. Das schließt aus, dass einer sich immerfort als wahrer Maßstab und Sieger der Geschichte feiert und erwartet, der (oder die) andere müsste sich an seine Erwartungen anpassen.

Daran scheitern bekanntlich die meisten Ehen.

Und eben das erzählt diese deutsch-deutsche Co-Produktion auch: Dass Majas Geschichte genauso reich, lebendig und erinnernswert ist wie die von Max. Es steckt ein nachvollziehbares Stück Trotz und Selbstbewusstsein darin. Maja muss sich nicht verstecken und so tun, als wäre ihre Geschichte etwas, wofür sie sich schämen muss. So sehr, dass das alles im Vergessen verschwindet.

Und wer jetzt ein paar Gefühle grollen spürt im Bauch, dem geht es ganz gewiss genauso. Bis hin zur umklappbaren Mauer hinten im Buch, die uns unsere geliebten Schnösel West immer vorwerfen, als hätten wir ihnen damit einen Tort angetan. Haben wir nicht: Diese Mauer war immer gegen uns gerichtet. Wir haben sie zum Einsturz gebracht. Und in vielen Köpfen steckt sie noch immer – als Korken, der lauter Gefühle der Wut, der Freude, der Hoffnung und der Verluste zurückgehalten hat. Mit all den Folgen, die wir heute sehen.

Diese Einheit ist irgendwie in die Hose gegangen, möchte man meinen. Höchste Zeit, darüber zu sprechen und Max und Maja zu Wort kommen zu lassen.

Franziska Gehm, Horst Klein Hübendrüben, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2018, 14 Euro.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 59 ist da: Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

Zwischen Überalterung und verschärftem Polizeigesetz: Der Ostdeutsche, das völlig unbegreifliche Wesen

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar