Hier ist jetzt also der zweite Band, sozusagen die fehlenden 800 Seiten zum kompletten Doppelband, in dem der Historiker Sören Flachowsky die Geschichte der Deutschen Bücherei in der NS-Zeit aufarbeitet. Endlich, muss man sagen, denn auch aus Sicht der heutigen Deutschen Nationalbibliothek geht diese Aufarbeitung „über das bisherige Maß“ der offiziellen Hausgeschichte hinaus. Das eigentlich nie ein Maß war, eher nur eine Herumdruckserei und Übertünchung.
Was man zwar schon 2012 wusste, als die Nationalbibliothek ihren offiziellen 100. Geburtstag feierte. Aber es fehlten schlicht die historischen Aufarbeitungen. In der DDR-Zeit waren sie nicht wirklich opportun, auch weil mit Heinrich Uhlendahl auch jener Direktor bis 1954 im Amt blieb, der nicht nur die späte Weimarer Republik im Haus prägte, sondern auch die komplette NS-Zeit.
Und was das bedeutete, zeigt Sören Flachowsky in diesem zweiten Teil seines Doppelbandes. Im ersten hatte er ja schon die Bühne vorbereitet: Die neuen NS-Institutionen hatten sich formiert. Und damit war auch klar, in welch radikalem Ausmaß die neuen Herrscher auf alles, was im Reich gedruckt wurde, Einfluss nehmen wollten.
Denn elementarer Kern des Faschismus ist nun einmal die Propaganda – was auch die komplette Kontrolle über das Sag- und Druckbare bedeutet. Und damit auch die Deutung darüber, was alles verboten und ausgesondert wird. Eine erste Vorform der Geheimkammer in der DB gab es ja schon mit der für öffentliche Ausleihe nicht mehr zugänglichen Schriften der „Schund- und Schmutzliteratur“.
Und es verblüfft schon, wie schnell sich die Liste der nicht mehr erwünschten Literatur gleich nach Machtantritt der Nazis auch in der DB verlängerte – und wie bereitwillig die Bibliothekare im Haus diese Aussonderung mittrugen. Oft schon vorauseilend. Nicht in vorauseilendem Gehorsam. Da würde man die Bibliothekare dieser Zeit wohl verkennen, die zum größten Teil ganz ähnlich tickten wie auch die anderen Staatsangestellten im deutschen Reich: elitär und nationalkonservativ.
Und man vermisst eigentlich die einschlägigen Untersuchungen, die sich einmal mit den eigentlichen Trägern des Nationalsozialismus in Deutschland beschäftigen – mit genau jener konservativen bürgerlichen Elite, die im Grunde alle staatlichen Behörden dominierte und die immer auf Distanz zur Republik blieb, sich selbst aber stets als Träger des Wissens, der Kultur und der richtigen Einstellung verstand.
Man darf ja nicht vergessen, dass der Erwerb der Hochschulreife und der Zugang zu den Universitäten immer noch ein elitärer war, zugänglich fast nur Kindern aus gut verdienenden Familien und – da fast völlig männlich geprägt – auch von einem starken Korpsgeist durchdrungen.
Und das bedeutete eben auch ein tiefwurzelndes Misstrauen in Demokratie, in die „Volksmassen“, in eine libertäre Demokratie. Deswegen ist es auch falsch, den Nationalsozialismus als einen „Betriebsunfall der Geschichte“ zu betrachten – die nationalen Radikalen erfüllten auch eine extreme Sehnsucht genau jener konservativen Elite nach „Ordnung“, Reglement, Staat und Hierarchie.
Diese Leute fügten sich nicht unter, sondern ein. Und deshalb ging auch die „Bereinigung“ des DB-Personals fast reibungslos vonstatten. Konflikte bahnten sich eher um die Beschäftigung von Frauen an, die auf Druck der Nazis vor allem durch „Alte Kämpfer“ ersetzt werden sollten.
Ein Vorgang, den Flachhowsky so nüchtern erzählt, dass man gar nicht merkt, wie man hineingleitet in eine Weltvorstellung, die mit unserer heutigen kaum noch etwas zu tun hat – und die trotzdem so stringent wirkt, dass man eine Ahnung bekommt, wie NS-Denken funktioniert. Es ist eine in sich völlig logische, aber auch abgekapselte Welt – die erst in den Folgen zeigt, wie schizophren sie tatsächlich ist.
Angefangen vom stupiden Gefolgschaftsdenken bis hin zum allgegenwärtigen Denunziantentum, das auch Uhlendahl früh zu spüren bekommt. Zwar geht der alte Zwist mit der Preußischen Nationalbibliothek weiter, deren Direktor alles versucht, die Alleinstellung der DB zu verhindern, die vor seinen Augen ja, wie auch Flachowsky betont, zum „bibliographischen Zentrum Deutschlands“ heranwuchs.
Und nicht nur die PNB führte ihre alten Scharmützel um die erste Geige unter den deutschen Bibliotheken fort, auch der Börsenverein führte seinen ganz speziellen Krieg – obwohl er ja noch bis 1940 der eigentliche Träger der DB war. Aber beides nutzte Uhlendahl, um die Deutsche Bücherei näher an die einschlägigen Behörden heranzuführen, die sich in Deutschland für Schriftgut und Propaganda verantwortlich fühlten – angefangen vom neugeschaffenen Propagandaministerium von Goebbels über das Reichserziehungsministerium bis zum Sicherheitsdienst der SS.
Alle übrigens selbst miteinander in permanenter Konkurrenz stehend. Zuletzt kam dann auch noch die NSDAP hinzu, die hier den Zugang zur gesammelten NS-Literatur fand. Und sie alle fanden Räume in der DB und/oder prioritären Zugang zu den Beständen und den Neuzugängen.
Früh schon beginnt die Diskussion, welche Titel noch in den Periodika der DB auftauchen sollten und welche nur noch in gesonderten Schwarzen Listen. Von Anfang an nutzten die Reichsbehörden die Deutsche Bücherei und ihre bibliografische Kompetenz, um alles zu indizierende und auszusortierende Schriftgut in amtlichen Listen zu sammeln. Die DB wurde zum Ziel der NS-Zensurmaschinerie.
Und es deutet nichts darauf hin, dass die Bibliothekare im Haus sich gegen diesen Handlangerdienst sträubten. Und dabei blieb es nicht. Das weit hinten im Buch zu sehende Bild der von Bombentreffern gezeichneten Bücherei steht wie ein Sinnbild da – denn bevor die Fliegerbomben das Antlitz dieses Prachtbauwerks deutschen Geistes zeichneten, war dessen geistiger Kern längst genauso zerstört.
Man kann Uhlendahls Wirken durchaus auch als emsigen Kampf um den Erhalt der DB und ihre Sicherung durch staatliche Unterstützung sehen. Aber oft genug schoss er dabei übers Ziel hinaus, diente die Kompetenz seiner Bibliothekare den staatlichen und staatsnahen Stellen regelrecht an. Und spätestens als der SD des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, im Haus tätig wurde, machte man sich tatsächlich zum Handlanger eines Regimes, das den Sofortzugriff auf neue Literatur auch postwendend nutzte, Autoren, Verleger, unangepasste Gruppen zu verfolgen, zu verhaften, zu verurteilen.
Je detaillierter Flachowsky über all die Dienstbarkeiten der Deutschen Bücherei den Verfolgungs- und Propagandaorganen des NS-Reiches gegenüber berichtet, umso fremder wird einem dieses Haus. Denn diese Geschichte hat nichts mehr mit den weichgezeichneten Bildern der Nachkriegszeit zu tun, in der sich die Bibliothekare als völlig unpolitische Arbeiter des Geistes verkauften. Und sie waren auch nicht nur Diener einer Ideologie, die das komplette Geistesleben reglementierte und gleichschaltete.
Die Angestellten wurden selbst zu Tätern – und zwar spätestens 1938, als Österreich ans Reich „angeschlossen“ wurde und gleich mehrere Instanzen über die österreichischen, vor allem die Wiener Bibliotheken herfielen und sie plünderten. Die DB war mit ihrer „Bücherverwertungsstelle Wien“ direkt vor Ort und plünderte auf ihre Weise die beschlagnahmte Wiener Literatur – aus Bibliotheken genauso wie aus beschlagnahmten Antiquariaten und Verlagen. Denn bis 1938 konnte ja in Wien noch vieles veröffentlicht werden, was im Deutschen Reich schon verboten war. Und Wien war nur das Vorspiel.
Bei der Besetzung der Tschechoslowakei, von Polen, Belgien, den Niederlanden, Frankreich gingen die Besatzer genauso vor. Millionen Bücher wurden beschlagnahmt, viele vernichtet, viele aber wanderten auch in die Bestände deutscher Bibliotheken. Und in Leipzig wurden all diese Sendungen mit freudigen Augen angenommen. Man profitierte ganz direkt von einem gewaltigen Plünderungskrieg. Und Skrupel scheinen die Beteiligten dabei überhaupt nicht gehabt zu haben.
So gesehen war die DB ganz und gar keine Ausnahme in Deutschland. Wie berauscht bediente man sich an den geplünderten Schätzen. Und auch 1940 wiegte man sich in der DB in Großmachtphantasien, glaubte, jetzt ein ganz Europa umspannendes Sammelsystem etablieren zu können, obwohl sich schon 1940 abzeichnete, dass sich auch die Nazis – genauso wie einst der Kaiser – mit ihrem Krieg übernommen hatten. Marken wurden eingeführt, denn auch weite Bereiche der Versorgungswirtschaft waren für Kriegszwecke umgesetzt worden. Und Jahr um Jahr verschlechterte sich jetzt die Versorgungslage der Bevölkerung.
Und das Verblüffende ist, dass selbst die Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung im Krieg so seltsam vertraut wirkt, wenn ganz offiziell von einer „Leistungsgemeinschaft“ gesprochen wurde und der Verwaltungsrat der DB sogar von „sorgfältiger Menschenbewirtschaftung“ sprach. Da geistert die modernere Vokabel „Humankapital“ mit. Denn wenn die Leute rar werden, weil immer mehr dienstfähige Männer an die Front beordert werden und auch die Dagebliebenen immer mehr Zusatzdienste bei der Brandwache, in der Gesundheitspflege oder immer mehr Überstunden ableisten mussten, dann hat das mit der staatlichen Totalmobilisierung auch noch der letzten Reserven zu tun.
„Arbeit und Leistung“, so zitiert Flachowskys einen Brief der Deutschen Arbeitsfront (DAF) aus dem Jahr 1936, seien „einzige Wertmesser im Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens“. Was sich dann ab 1942, als es an allen Ecken und Enden zu fehlen begann, in Forderungen zu immer mehr Arbeitsleistung steigerte – die Arbeitszeiten verlängerten sich massiv, Urlaube wurden gekürzt und entfielen am Ende komplett.
Da flogen dann schon die angloamerikanischen Bomberverbände über Leipzig und die DB wurde mehrfach heftig getroffen. Die Verluste in den Beständen hielten sich relativ gering. Aber nicht nur das zerschossene Haus bekam zu spüren, dass der Krieg eben doch auf ganzer Linie gescheitert war – auch DB-Angestellte wurden ausgebombt, verloren Verwandte oder wurden selbst Opfer der Bomben. Das ruinöse Haus war nach 12 Jahren Größenwahn wieder in der Realität angekommen. Und es war dabei noch glimpflicher weggekommen als die alte Buchstadt Leipzig, die im Dezember 1943 in Flammen aufgegangen war.
Die Produktion der Verlage war schon kurz nach Kriegsbeginn deutlich zusammengeschrumpft, weil das Papier fehlte. Buchhandlungen waren regelrecht leer gekauft. Und ab 1944 stellte auch die DB ihren Betrieb fast komplett ein. Über 1,6 Millionen Bücher waren auf Schlösser und Burgen im weiteren Umkreis verteilt worden – und konnten damit gerettet werden. Und die letzten Seiten nutzt Flachowsky dann noch, um die neuen Kehrtwenden des Heinrich Uhlendahl zu skizzieren, der sich den amerikanischen Besatzern genauso eifrig andiente wie kurz darauf den russischen. Und den Amerikanern hat er in einem Akt echter Leistungsbereitschaft auch noch jenes Verlegerverzeichnis offeriert, mit dem die Amerikaner u. a. auch operierten, als sie die Leipziger Verleger zum Umzug nach Frankfurt und Wiesbaden aufforderten.
So wird ein Stück jener tief verwurzelten Willfährigkeit sichtbar, die nicht nur Uhlendahl auszeichnete, sondern viele Vertreter der staatlichen und kulturellen Elite Deutschlands, für die der Übergang von der Weimarer Republik zum NS-Staat ebenso fließend verlief wie der in die Nachkriegszeit. Auch weil die neuen Machthaber im Fall der DB die Legende von den unpolitischen Bibliothekaren nur zu bereitwillig schluckten. Eine Legende, die bis 1990 gepflegt wurde. Und 2012 tauchte das durchaus als Manko auf.
Aber die Bücher von Christian Rau („,Nationalbibliothek‘ im geteilten Land“) und nun von Sören Flachowsky mit ihrer enormen Quellenbreite belegen genau das, was bis 2012 eher nur als Vermutung im Raum stand: Wie dienstbereit die DB und ihr prägendes Personal staatlichen Eingriffen gegenüber in dieser Zeit waren.
Was man durchaus auch als ein Novum feststellen darf, denn vor diesem opulenten Werk von Flachowsky war nur skizzenhaft bekannt, wie sehr die NS-Instanzen die DB als idealen Zugriff auf das komplette deutschsprachige Schriftgut begriffen und diesen Zugriff auch nutzten, um damit sämtliche Veröffentlichungen im Land zu kontrollieren, unliebsame Autoren und Verlage auszuschalten und auch systematisch nach Kritikern und Unangepassten zu fahnden.
Bis 1939 gesteht Flachowsky den DB-Mitarbeitern (und damit dem gesamten akademischen Milieu im NS-Reich) noch eine „Zustimmung im Ganzen, oft verbunden mit Skepsis und Kritik im Einzelnen“ zu. Aber selbst davon blieb mit Kriegsbeginn nichts mehr übrig. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Bomberverbände begannen, auch Leipzig regelmäßig zu bombardieren.
Aus der „Skepsis“ wurde dann nach dem Krieg oft ein „Ich war ja eigentlich auch dagegen“. Aber tatsächlich zeigt ja gerade die Dienstwilligkeit der DB den neuen Machthabern gegenüber von Anfang an, wie schnell sich ein ganzes Staatswesen gefügig zeigt, wenn der Wind sich dreht. Auch weil sein akademisches Personal ganz ähnlich tickt und sich vor allem als Diener des Staates und nicht der Gesellschaft begreift. Was wir ja heute auch wieder in skurrilsten Formen erleben.
Und was einen zu Recht beängstigen darf.
Und fast zum Schluss erfahren wir auch noch, woher Sören Flachowsky diesen aufgerüsteten Titel vom „Zeughaus für die Schwerter des Geistes“ hat. Er stammt aus einem Artikel der stockkonservativen Leipziger Neuesten Nachrichten aus dem Jahr 1937. Und er schlägt genau den Ton an, mit denen die konservative Elite Deutschlands ihre kulturelle Sendung immer aufgebrezelt und glorifiziert hat. So lange, bis man sich auch noch geistig als etwas Besseres dünkte als die Bewohner der anderen europäischen Länder.
Sören Flachowsky Zeughaus für die Schwerter des Geistes, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 69 Euro.
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