Forschungen zur sächsischen Wirtschaftsgeschichte sind nach wie vor eine sehr junge Forschungsdisziplin, auch wenn das Sächsische Wirtschaftsarchiv mit zwölf Bänden mittlerweile eine recht imponierende Reihe von „Beiträgen zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens“ vorweisen kann. Dieser zwölfte Band ist eine weitere Fleißarbeit des Historikers Wolfgang Uhlmann. Den ersten Teil zur Chemnitzer Unternehmensgeschichte 1800 bis 1871 hat er schon 2010 vorgelegt.
Das ist Stoff, mit dem er sich auskennt. Denn er hat das Sächsische Industriemuseum in Chemnitz mit aufgebaut. Was aber noch nicht heißt, dass man den Stoff damit gebändigt bekommt. Schon die Packung in ganze Zeitepochen zeigt, dass allein die alte Industriestadt Chemnitz eine ganze Mannschaft von Wirtschaftshistorikern beschäftigen kann – und sie würden nicht fertig werden damit.
Wobei natürlich die Epoche von 1871 bis 1914 eine besonders markante ist, in Leipzig gern „Gründerzeit“ genannt, weil Leipzig kaum noch – anders als Chemnitz – einen starken Bezug zu seiner eigenen Industriegeschichte hat. Fast alles wurde ja ab 1990 abgeräumt, darunter auch die legendären Unternehmen, die Leipzig zu einer reichen Stadt machten, damals, in der „Gründerzeit“.
Die ja so heißt, weil vor allem mit den gewaltigen Kriegsreparationen, die sich das siegreiche Deutschland von Frankreich zukommen ließ, eine riesige Gründerwelle durchs Reich lief. In einem wilden Geldrausch wurde drei Jahre lang gegründet und investiert, was das Zeug hielt. Bis 1874, bis der sogenannte Gründerkrach für eine gewaltige Ernüchterung sorgte. Dem großen Jubel folgte der Katzenjammer.
Auch Chemnitz blieb davon nicht verschont. Der Gründerkrach war die erste richtige Nagelprobe auf die Bestandsfähigkeit der anfangs durchaus noch bescheidenen Fabrikneugründungen.
Uhlmann liefert eine ganze Menge statistischer Zahlen, die zeigen, wie sich aus der großenteils noch handwerklich und von Manufakturen geprägten Stadt in den ersten Jahrzehnten nach 1871 hunderte markanter Industriebetriebe entwickelten. Die Nähe zu den mitteldeutschen Braunkohlevorkommen befeuerte diese Entwicklung in Chemnitz besonders, sodass sich mitten in einem Sachsen, das sich damals zur „Werkstatt Deutschlands“ entwickelte, das von rußenden Essen überragte Chemnitz zum Herz dieser Industrieregion mauserte.
Und schon früh entwickelten sich gerade jene Industriezweige, die Chemnitz teilweise bis heute zu einem Schwergewicht der sächsischen Industrie machen. Der Werkzeugmaschinenbau ist bis heute der wichtigste Industriezweig. In der Phase der Hochindustrialisierung, die Uhlmann hier beschreibt, gehörten auch noch Gießereien, Fahrzeugbau, Textilindustrie, Zuliefererbetriebe und Chemieproduktion dazu.
Jedem Industriezweig widmet Uhlmann ein eigenes Kapitel und stellt komprimiert die profilbildenden Unternehmen und Unternehmer vor. Wer also alles, was Rang und Namen hatte im damaligen Chemnitz, irgendwo komprimiert sucht, findet es hier. Mittendrin natürlich Männer wie Richard Hartmann und seine Nachfolger, die seine 1837 gegründete Sächsische Maschinenfabrik zum führenden Lokomotivenbauer in Sachsen machten.
Gleich hier kann Uhlman anschaulich werden, denn ausgerechnet diese Lokomotivenfabrik war jahrzehntelang nicht ans Eisenbahnnetz angeschlossen – die fertigen Lokomotiven mussten mit Pferden durch die Straßen zum Bahnhof gezogen werden, ein Schauspiel, das in Chemnitz bis heute Gesprächstoff ist.
Aber an solchen Stellen merkt man auch, dass Uhlmann immer auch die Struktur so einer Industriestadt im Hinterkopf hat und versucht, die Standortentscheidungen der Unternehmen zu begreifen. Denn anders als in Leipzig, wo ein Carl Heine den Westen strategisch zum Industrierevier ausbaute, gab es in Chemnitz keinen so tollkühn in die Zukunft denkenden Mann. Die Folge waren bei vielen Unternehmen mehrere Umzüge – erst raus aus der zu klein gewordenen alten Stadt hinaus in die Dörfer, die im Lauf der Zeit zu Industrievororten wurden, und dann möglichst da hin, wo es Gleisanschlüsse gab.
Ein Thema, auf das Uhlmann dann im Kapitel „Standortwahl“ noch einmal gesondert eingeht. Und wo er schon einmal bei Betriebsstrukturen ist, erzählt er auch über den sich erst langsam ausbildenden Brandschutz, über Arbeitskräfte und Fabrikgröße und eine Änderung, die selten so geschildert wird, weil wir heute den hochqualifizierten Facharbeiter vor Augen haben, aber längst verdrängt haben, dass die Industriestädte dieser Zeit auf ungebildete zugewanderte Arbeitskräfte (auch auf Frauen und Kinder) zurückgreifen mussten.
Teilweise noch ganz klassisches Wanderproletariat, das den Inhabern der teuren Maschinen entsprechende Sorgen bereitete. Es ist eben auch die Zeit, in der diese Not die Unternehmer dazu zwang, erste Stammbelegschaften aufzubauen. Was einherging mit der Entwicklung der ersten Gewerkschaften und der Sozialdemokratie.
Und da ist man schon mittendrin in Uhlmanns Skizze zu den Unternehmern, die in dieser Beziehung augenscheinlich noch viel konservativer waren als die Leipziger Industriebarone. Mit radikalen Maßnahmen versuchten sie, ihre Arbeiter daran zu hindern, sich in der SPD zu organisieren. Und einmal gelang es ihnen damit auch, dem konservativen Kandidaten das Reichstagsmandat zu verschaffen. Denn für gewöhnlich gewannen in Chemnitz die Sozialdemokraten.
Und so kommen auch kleine und große Streiks ins Bild, mit denen die Arbeiter bessere Arbeitszeiten und mehr Rechte erkämpften. Manchmal auch die Arbeiterinnen insbesondere aus den Spinnereifabriken – doch gerade sie hielten Streiks nicht lange durch. Denn sie wurden noch deutlich schlechter als die Männer bezahlt. Man ahnt, warum Chemnitz lange Zeit den Titel „Sächsisches Manchester“ trug, denn hier herrschten ganz ähnlich harte Arbeitsbedingungen wie im legendären englischen Manchester, das dem Manchester-Kapitalismus seinen Namen gab.
Und der Großteil der Chemnitzer Unternehmer wehrte sich lange gegen die Abschaffung der Kinderarbeit. Frauen beschäftigte man eindeutig vor allem deswegen gern, weil die deutlich weniger Lohn bekamen. Mit dem Ergebnis, dass nicht die eigentlich viel erfolgreicheren Maschinenbauer die reichsten Leute waren in Chemnitz, sondern die Textilfabrikanten.
Uhlmann lässt es zum Glück nicht dabei, einfach alle namhaften Fabriken aufzuzählen. Wobei einige Produkte bis heute legendär sind – man denke nur an die Wanderer-Fahrräder oder -Motorräder. Oder das erste bezahlbare Auto für den „kleinen Mann“, den Wanderer Puppchen. Aber der Ruhm der großen Unternehmen allein macht nun einmal keine Industriestadt.
Deswegen lässt Uhlman diesem kleinen Lexikon der Branchen einige noch recht skizzenhafte Kapitel folgen, die sich mit den Rahmenbedingungen der Chemnitzer Industrie beschäftigen. Auch mit der auffälligen Tatsache, dass sächsische Unternehmensgründer ganz und gar nicht darauf erpicht waren, ihr Unternehmen in der Familie zu halten und den Kindern zu vererben. Nirgendwo sonst wurden erfolgreiche Industriebetriebe so schnell und so systematisch in Aktiengesellschaften verwandelt. Was natürlich einer der Gründe dafür ist, dass gerade Sachsen die rauchende Werkstatt des Reiches wurde.
Aber Uhlman schaut sich auch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten an, ihre Wohnverhältnisse, die Entstehung der Börse und der Interessenvertretungen der Industrie. Denn gerade sächsische Unternehmer haben schon früh und mit aller Kraft versucht, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, sie haben Parteien gegründet und eine extrem konservative Politik vertreten. Aber sie traten auch als Mäzene auf, wovon die Kulturlandschaft in Chemnitz bis heute zehrt.
Und 1914 standen sie auch Gewehr bei Fuß, als Deutschland in den Krieg eintrat und die sächsische Armee aus dem eigenen Depot nicht mehr versorgt werden konnte. Da stellten nicht nur die Werkzeugbauer ruckzuck auf Kriegsproduktion um. Uhlmann lässt mit dem Jahr 1914 seine Überschau erst einmal enden. Denn der Erste Weltkrieg bedeutete natürlich auch für Chemnitz ein Ende der Aufwärtsentwicklung. Ein ganzes Jahrhundert voller Brüche würde folgen.
Aber einen schönen Nebeneffekt hat das Buch auch: Es zeigt, dass die gern als sehr erratisch dargestellte „Gründerzeit“ ganz und gar nicht so harmonisch war, sondern ein fortwährender Prozess mit zuweilen sehr scharfen Wendungen. Und es zeigt, dass Industriekapitäne ganz und gar keine freundlichen Herren sind, die zimperlich sind, wenn es um das Durchsetzen ihrer Interessen geht.
Und man begegnet Dingen, die erstaunlich vertraut wirken so in der Rückschau, bis hin zur gezielten Stimmungsmache und dem Streuen von Fakenews, wenn es darum ging, die ungeliebte SPD zu diskreditieren. Die Argumentation ist noch heute verblüffend: Weil die SPD gegen Kriegskredite stimmte, sei sie die Partei, mit der man den Krieg bekommen würde, argumentierten die konservativen Wirtschaftsvertreter. Das glaubten viele Chemnitzer kurzzeitig tatsächlich.
Aber logischerweise bleiben diese vielen Einzelkapitel noch skizzenhaft. Da steckt noch jede Menge Stoff für thematische Forschungen drin. Über den Handel, den Uhlmann selbst mit den berühmten Kaufhäusern nur anreißen kann, bis hin zu Elektrifizierung, Wasserversorgung und Eisenbahnwesen. Und eine Karte wünscht man sich eigentlich auch, um sich die Dimension dieser Industriestadt überhaupt einmal bildhaft machen zu können. Denn die meisten Fabriken, die Uhlmann porträtiert, sind große Industrieunternehmen.
Ganze Stadtquartiere waren von ihnen geprägt und prägen zum Teil heute noch das Chemnitzer Stadtbild. Das Cover-Bild gibt davon einen kleinen Eindruck, obwohl es eigentlich nur die Sächsische Maschinenfabrik aus der Vogelperspektive zeigt – eigentlich eine kleine Stadt mit dutzenden Fabrikgebäuden und rauchenden Essen. Die zugehörigen Arbeitermassen, die zum Schichtschluss aus dem Werktor strömen, sieht man dafür später im Buch.
Wolfgang Uhlmann Chemnitzer Unternehmen während der Hochindustrialisierung, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2018, 29,80 Euro.
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