„Das Bewusstwerden unserer Geschichte allein erklärt noch nicht unsere Haltungen“, schreibt Anja Reschke. „Die Frage ist vor allem, wie wir mit ihr umgehen, was wir aus den Erfahrungen unserer Vorfahren ziehen, was wir für unsere Gegenwart daraus machen.“ Seit August 2015 ist die ARD-Moderatorin vielen ein Begriff – als eine Frau, die keine Scheu zeigt, auch in ihren Moderationen Haltung zu zeigen. Natürlich fällt irgendwann der Name Luther: Für Haltung braucht man Mumm.
Und man wird angefeindet dafür. Nicht erst seit 2015, seit sich viele Deutsche gerade im Internet verbal austoben, als wären sie in der Kneipe und müssten jeden am Tisch, dessen Meinung ihnen nicht passt, niederbrüllen. Je lauter, je aggressiver, je niederträchtiger – umso rücksichtloser. Was Anja Reschke nach ihrem Kommentar seinerzeit sofort zu spüren bekam. Und bis heute erlebt. Sie ist prominent, steht als Journalistin permanent im Rampenlicht. Und sie eiert nicht herum, redet nicht um den heißen Brei herum.
Und fordert damit die Lärmer, Wüter und Beleidiger regelrecht heraus. Bergeweise Post bekommt sie – nicht nur von den Wütenden. Auch darüber schreibt sie jetzt in diesem kleinen Buch, das im Grunde die Bilanz für die vergangenen drei Jahre zieht. Denn sie hat nicht nur die Wut von Menschen erlebt, die ihre Wortmeldung als öffentliche Verunglimpfung verstehen, die so scharf formulieren, dass unübersehbar ist, wie sie die Angesprochene erniedrigen, beleidigen und niedermachen wollen.
Da hat sich etwas verschoben in unserem Land. Und zwar nicht erst seit 2015. Wer wirklich journalistisch Haltung zeigt, der hat diese Pöbeleien auch vorher schon erlebt. Nur mit der Ankunft jener Zufluchtsuchenden, die im Sommer 2015 in Deutschland ankamen, begann diese Wut überzuschwappen, begannen sich auch Bürger so zu äußern, die sich vorher mit den Pöblern aus dem rechtsradikalen Spektrum nie gemein gemacht hätten.
Womit schon wieder ein Stichwort gefallen ist, das auch Reschke aufgreift. Jenes Zitat von HaJo Friedrichs aus einem „Spiegel“-Interview, in dem er sagte, man dürfe sich mit keiner Sache gemein machen – auch keiner guten. Immer wieder missbraucht, nicht nur von Briefschreibern, die damit glauben, journalistische Sichtweisen, die ihnen nicht passen, von oben herab für unprofessionell erklären zu können. Es ist schon erstaunlich, wie viele Profis des Journalismus da draußen herumsitzen und unsereins immerfort belehren wollen, wie man objektiv berichtet.
Wir sind zu einer richtigen Placebo-Republik geworden, in der haufenweise Leute sich zu Richtern erheben (Land der Richter und Henker, schon vergessen?) und anderer Leute Arbeit be- und verurteilen, ohne je selbst auch nur den Finger gerührt und ähnlich Kompetentes geleistet zu haben.
Und dann wird der Satz von HaJo Friedrichs augenscheinlich auch an Journalistiklehrstühlen gepredigt, genauso aus dem Zusammenhang gerissen. Was dann auch unter vielen jungen Journalisten so einen mährigen, ungreifbaren Stil ergibt, der nach Bissigkeit klingt. Aber wenn man die Gründe sucht, warum und aus welcher Perspektive da berichtet und kritisiert wird, ist da nichts. Man hat ja gelernt, sich nicht gemein zu machen.
Aber Menschen, die sich mit nichts gemein machen, sind nur Opportunisten.
Sie haben keine Haltung. Und es ist erstaunlich, dass eine bekannte Moderatorin das ganze Land erst einmal daran erinnern muss. Wobei Anja Reschke das Kunststück fertigbringt, möglichst niemandem auf den Fuß zu treten, auch nicht den anpassungswilligen Kolleginnen und Kollegen, die ihre Haltungslosigkeit hinter falscher Objektivität verstecken, und nur ganz sachte jene Politiker, die seit drei Jahren nichts anders tun, als sich bei den Pöblern anzubiedern.
Weil sie so glauben, ihre Macht erhalten zu können. Wobei sie fast am Ende ihrer kleinen Streitschrift auch darauf eingeht, dass das ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Es beginnt nicht erst in den sozialen Netzwerken oder bei den Brüllern bei rechtsradikalen Demonstrationen. Man überliest es beinah, wenn Anja Reschke über all jene berichtet, die aufgrund ihrer mutigen Haltung verfolgt und getötet wurden. So wie Sophie Scholl. Oder ins Exil vertrieben wie Edward Snowden.
Schon die Kinder erfahren im Alltag: „Haltung zeigen lohnt sich nicht. Jedenfalls nicht für die, die es tun.“ Denn sie ernten nicht nur die Häme derer, die sie kritisieren. Sie werden auch noch oft genug allein gelassen. Erstaunlich, dass Anja Reschke nicht auch noch auf unsere Schulen zu sprechen kommt, wo das eingeübt und praktiziert wird, was unsere Gesellschaft wieder so aufnahmefähig für die alten Überheblichkeiten gemacht hat: Anpassungsdruck, Rücksichtslosigkeit, Mobbing und Verachtung für Schwächere.
Aber wie gesagt: Die Schule kommt nicht vor. Anja Reschke geht es vor allem um die Frage: Dürfen Journalisten Haltung zeigen?
Und die Antwort lautet schlicht: Ja. „Sie dürfen nicht nur, sie können gar nicht anders.“
Denn wie objektiv ihre Berichte sind, wird erst erkennbar, wenn auch ihre Haltung deutlich wird. Man kann über das Ertrinken von Menschen im Mittelmeer nicht ohne Haltung schreiben. Und auch nicht über prügelnde Rechtsradikale und zündelnde Politiker. Denn erst so ordnet sich das, was Journalisten berichten, ein in einen Kontext. Wir alle leben in einem Werte-Kosmos. Die meisten haben auch nicht vergessen, was sie daheim am Familientisch gelernt haben. Nicht nur das Geradesitzen und Haltung zeigen. Auch den Respekt zu anderen, den ehrlichen und aufrichtigen Umgang mit anderen.
Auch viele von denen, die Anja Reschke meist sehr wütende und teilweise verachtungsvolle Briefe geschrieben haben. Nur hat Anja Reschke etwas gemacht, was etliche von ihnen nicht erwartet hätten: Sie hat geantwortet und ist mit einigen davon ins Gespräch gekommen. Und sie hat etwas ganz Ähnliches erlebt wie Petra Köpping. Denn hinter den hingeschriebenen Vorwürfen steckt oft genug ein Stück Lebenserfahrung, das mancher für sich sehr seltsam einsortiert hat. Reschke schreibt über zwei Generationengeschichten zur Fluchterfahrung – und während ihre eigene Familiengeschichte ihr gezeigt hat, dass Frauen stark sind und man nur Mut und Haltung braucht, die Dinge anzupacken, hat ein anderer daraus gelernt, dass man sich (als Mann) verbarrikadieren und die Flüchtlinge von heute vertreiben muss. Motto: „Mann darf doch nicht schwach sein.“
Es wundert ja nicht, dass die meisten Kraftmeier im Wort Männer sind – Männer, die zu Hause am Computer sitzen und einfach draufloswüten. Und sich wundern, wenn sie gefragt werden, warum sie eigentlich so außer sich sind.
Es scheint eher am Rande auf, dass dieses Wüten der vermeintlich einfachere Weg ist. Man muss sich dafür nicht anstrengen. Man ist sofort Mitglied einer großen wütenden Gemeinschaft. Alle um einen herum wüten und lärmen.
Und dann stellt sich diese selbstbewusste Frau vor die Kamera und sagt allen Leuten ins Gesicht, dass das falsch ist.
Und im Buch erwähnt sie natürlich auch, dass die Wütenden gar nicht so allein sind. Unsere gesellschaftlichen Vorbilder sind ja selbst haltungslose Burschen – von korrupten Managern über Diesel-Trickser und betrügerische Bankiers, die auch nach der großen Finanzpleite von 2008 weitergezockt haben, ohne Rücksicht auf Verluste. Bis zu den Steuerbetrügern. Ohne Verantwortungsbewusstsein. Und das hört ja nicht auf. Unsere Regierungen zeichnen sich ja nicht wirklich dadurch aus, dass sie alle diese halblegalen Tricksereien beenden wollen und wieder Vertrauen herstellen wollen. Es ist auch keine Überraschung, dass das geballte Misstrauen ausgerechnet den politisch Verantwortlichen entgegenschlägt.
Zu Recht merkt Anja Reschke an, dass die Ankunft der Zufluchtsuchenden nicht die Ursache für die Wut- und Ohnmachtsgefühle ist, sondern nur der Anlass war, sie aufschäumen zu lassen. Das Objekt der Ablenkung, an dem sich nun viele Leute austoben.
Tatsächlich trat Anja Reschke ja stellvertretend vor die Kamera. Es war 2015 genauso wie nach den 2018er Ereignissen in Chemnitz: Die Leute, von denen man eigentlich erwartet hätte, dass sie öffentlich Haltung zeigen, waren stumm. Bestenfalls wiegelten sie ab. Sie zeigten weder Gesicht noch Haltung. Umso deutlicher war dann dieses 2-Minuten-Statement von Anja Reschke, die eine Haltung einnahm, die man auch von Fernsehleuten eher nicht gewohnt ist. Es fiel auf. Und es fiel auch auf, wie selten das deutsche Fernsehen wirklich Haltung zeigt und erklärt. Denn Haltungen kann man auch begründen. Muss man auch, wenn ein Teil der Gesellschaft immer mehr außer sich gerät und droht, die Stimmung im ganzen Land kippen zu lassen.
„Haltung zeigen erfordert sehr viel mehr Stärke, als man gemeinhin annimmt“, schreibt Reschke. „Ja, es ist geradezu anstrengend, von Rückschlägen geprägt, von Zweifeln gesäumt und von Widerstand gebremst.“
Da muss man nicht nur an Politiker und Journalisten denken. Da darf jeder an seinen eigenen Lebensweg denken, all die Kompromisse, die man oft nur eingegangen ist, weil man keine Kraft zum Widerstand hatte. Oder sich einschüchtern ließ, lieber mit der Truppe mitlief und nicht wagte, auf einmal im Mittelpunkt zu stehen und das dann aushalten zu müssen. Als Einzelne oder Einzelner einer geschlossenen Phalanx gegenüber. Oder nur einem aggressiven Chef, der gleich mal mit Rauswurf drohte. Oder einer Freundesclique, die ihre „Freundschaft“ auf einmal von absoluter Zustimmung abhängig machte. Natürlich gehen solche Gedanken über das Buch hinaus. Aber sie werden dadurch angeregt, weil manchmal wie beiläufig klingende Sätze genau das anrühren. Auch die elementare Frage, ob man denn tatsächlich sein eigenes Leben gelebt hat, oder sich immer nur gefügt und angepasst und mitgemacht hat.
Oh ja, das betrifft nicht nur den Osten, wo diese Frage auf einmal wieder auf dem Tisch liegt. Auch den Westen, die ganze Republik. Gerade weil der Eindruck entsteht, dass die Zeiten hart sind und die Probleme immer schwerer zu lösen.
Aber gerade dann braucht es: Haltung. Auch Haltung gegen etwas, denn vom Gebrüll profitieren nur die Ewiggestrigen, die jetzt wieder altes Nazi-Vokabular reaktivieren und mit Lärm versuchen, die ganze Diskussion zu übertönen. Und – das wird gern vergessen – die anderen, die Friedlichen und Nachdenklichen einzuschüchtern versuchen. Das war ihr Rezept vor 1933. Das ist ihr Rezept auch heute wieder: Angst machen.
Und wer Haltung zeigt, bekommt gerade von ihnen die volle Breitseite an Wut und Hass ab.
Und wünscht sich zu Recht, dass es mehr Menschen gibt wie Anja Reschke, die mit offenem Blick in die Kamera sagen, dass das nicht in eine ehrliche, offene und demokratische Gesellschaft gehört. Dass man für die Freiheiten, die wir uns erkämpft haben, Gesicht zeigen muss. Es gibt genug zu tun, was repariert und verbessert werden muss. Aber das geht unter, wenn man den Schreihälsen die Bühne überlässt.
Wenn man Haltung zeigt, bekennt man auch Farbe. Und man setzt – wie Martin Luther – seinen Anspruch und macht deutlich, dass man für etwas einsteht, weil es wichtig ist. Weil man es verteidigen muss. Weil es viel zu leicht verloren gehen kann. Und weil die Nichthaltung, die sich jetzt schon wieder breitmacht, dieses „Es nutzt ja doch nichts“, nichts anderes ist als ein rückgratloser Kotau vor den Angstmachern.
Und dass das Haltungannehmen ganz einfach ist und die Muskeln stärkt, erzählt Anja Reschke natürlich auch. Und natürlich wirkt es ganz anders, wenn man nicht herumdruckst, sondern mit Haltung einsteht für das, was es mit offenem Visier zu verteidigen gilt.
Anja Reschke Haltung zeigen!, Rowohlt Verlag, Reinbek 2018, 5 Euro.
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