In der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges spielte Leipzig am Rand immer eine Rolle. Hier fanden drei der wichtigsten Schlachten dieses Krieges statt: die Schlachten bei Breitenfeld 1631 und 1642 und die bei Lützen 1632. In allen dreien siegten die Schweden. Bei Lützen starb auch noch ausgerechnet der Schwedenkönig Gustav Adolf in der Schlacht. Reicht doch eigentlich, könnte man meinen. Aber mit „reicht doch“ lässt sich ein echter Historiker nicht abspeisen.
Denn wer die üblichen Kurz-Historien zur Leipziger Geschichte kennt weiß, dass das alles nur oberflächliche Gaukelei ist. Die wirklich spannenden Fragen stecken allesamt in den „dunklen“ Kapiteln, denen, die frühere Sensationshistoriker gar nicht erst angeguckt haben, weil ja der nächste Schlachtenaufguss mit König Gustav Adolf viel telegener ist. Deswegen stehen in der Regel nur diese drei Daten da. Und meist eher verschämt noch der Hinweis darauf, dass Leipzig von 1642 bis 1650 von den Schweden besetzt war.
Aber wo die Abschreiber aufhören, werden Historiker erst munter. Denn was bedeutet das eigentlich? Kamen die Schweden einfach mit Kanonengewummer, quartierten sich in den Gasthöfen ein und genossen bis zu ihrem Abzug einfach das schöne Leben in der Messestadt? Und warum 1650? Lernen wir nicht im Unterricht, dass der Westfälische Friede 1648 geschlossen wurde und dann hatte das große Morden ein Ende?
Dass die Sache damit noch gar nicht zu Ende war, hat ja schon Peter H. Wilson festgestellt, der ja zu seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges über 1.000 Seiten brauchte. 1.000 Seiten, die sehr anschaulich machten, wie sehr dieser lange Krieg ein Krieg um die Machtverhältnisse im Heiligen Römischen Reich war, verbunden mit frühen Nationalbewegungen und fast schon modernem Großmachtdenken, wie es gerade die fremden Mächte Dänemark, Frankreich und Schweden einbrachten.
Und deshalb war mit den Friedensdeklarationen von Münster und Osnabrück gar nicht alles zu Ende. Um die Details wurde nämlich noch bis 1650 in Nürnberg gefeilscht. Denn – Wilson hat es ja sehr schön aufgeblättert – der Dreißigjährige Krieg war auch ein ökonomischer Krieg. Modernste Kriegsführung quasi mit den damals modernsten Mitteln und Armeen, die wie Wirtschaftsunternehmen geführt wurden.
All die berühmten Heerführer waren nicht erfolgreich, weil sie besonders gute Strategen waren, sondern weil sie wussten, wie man genug Leute für seine Kompanien rekrutiert, wie man sie ausrüsten und fouragieren muss und vor allem: Wie man das alles finanziert. Wilson hat mit einer Menge falscher Vorstellungen über diesen Krieg aufgeräumt, was ihm nichts von seinen Schrecken nimmt.
Doch hinter den Schrecken wurde erst einmal plastisch sichtbar, wie die Kriegsökonomie damals funktionierte und welche entscheidende Rolle das Geld spielte.
Und genauso macht es Alexander Zirr. Das Buch ist im Grunde die gekürzte Variante seiner Doktorarbeit. Es sind – mit vielen Tabellen, Biografien, Literaturverzeichnis und Personenregister – trotzdem noch fast 1.000 Seiten. Und wie das so ist bei guten Doktorarbeiten: Der künftige Träger eines wirklich verdienten Doktortitels sucht sich ein Forschungsgebiet, wo vor ihm noch keiner geforscht hat.
Zum Beispiel die Besatzerzeit der Schweden in Leipzig. Und wo möglicherweise vor ihm andere nicht fündig wurden, weil sie nur in den Leipziger (Rats-)Archiven suchten, hat Zirr ein ganzes Universum von Dokumenten aufgemacht – in den Dresdner Staatsarchiven genauso wie in den schwedischen. Womit er schon einmal für den ersten Aha-Effekt sorgt: Der Dreißigjährige Krieg war ein Tummelplatz der Schreiber und Bürokraten. Und zwar gerade deshalb, weil die Armeen und Generalfeldmarschälle ständig unterwegs sein mussten.
Das war ja die Lehre, die man schon bei Wilson lesen konnte: Da der Krieg sich selbst finanzieren musste, konnten Armeen selten länger an einem Ort bleiben, denn dafür war keine Landschaft im damaligen Deutschland geschaffen. Wenige Monate genügten, und alle Ressourcen waren aufgefressen und verbraucht. Nicht unbedingt verwüstet, auch wenn bis heute die Bilder verwüsteter Landschaften unsere Vorstellung vom Dreißigjährigen bestimmen.
Es wird auch bei Zirr sichtbar, der Berge von schwedischer Kriegskorrespondenz ausgewertet hat, die die jeweiligen schwedischen Statthalter und Kriegskommissare mit ihren Vorgesetzten austauschten. Um in einem besetzten Land, wo die Armeen permanent unterwegs waren, um mal den Feind zu stellen, mal dessen reichste Städte und Regionen zu bedrohen, mal einfach Quartiere für den Winter zu finden oder sich in einer reicheren Landschaft neu zu verproviantieren, waren auch permanent Melder unterwegs, wurden Berichte geschrieben, stellten die Generäle ihre Mahnungen an die Bürgermeister in ordentlich sortierten Befehlen klar, wurden die zuständigen Fürsten ermahnt, welchselbe wieder mit Briefen und Beschwerden antworteten.
Und die ordentlichen Schweden haben das alles aufgehoben. Man musste ja einer Königin Rede und Antwort stehen können. Erst recht, wenn es um die Kosten dieses Armeeeinsatzes ging. Da konnte niemand einfach mal ein paar Reichstaler aus Stockholm kommen lassen. Die Feldherren mussten die Versorgung ihrer Truppen schon vor Ort organisieren. Und zwar auf Taler und Pfennig genau. Dieses Versorgungswesen im damaligen Obersachsen nennt Zirr der Einfachheit halber Kriegsetat.
Und da ändert sich der Blick natürlich auf die Schweden und die zweite Schlacht von Breitenfeld im Jahr 1642, in der eine zwar zahlenmäßig unterlegene Schwedische Armee die kaiserlichen Truppen aber vernichtend schlug. Der Kaiser hatte danach erst mal keine einsatzfähigen Truppen mehr. Und die Schweden beendeten mit dem Sieg das ständige Lavieren des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I., der Kursachsen unbedingt an der Seite des Kaisers halten wollte.
Das war alte sächsische Politik. Und sie half dabei, Sachsen lange Zeit aus dem Krieg herauszuhalten. Aber man merkt den Schriften, die Zirr auswertet, schon an, dass die Schweden 1642 schon auf das Ende des Krieges hin dachten. Den nordeuropäischen Konkurrenten Dänemark hatten sie ja quasi abgelöst als Schutzmacht der Protestanten in Deutschland. Doch längst zeichnete sich bei allen Kriegsparteien die Kriegsmüdigkeit ab.
Auch der Kaiser, der im Verein mit dem bayerischen Kurfürsten noch wenige Jahre vorher geglaubt hatte, die protestantischen Fürsten niederwerfen und die Ergebnisse des Augsburger Religionsfriedens rückgängig machen zu können, konnte nicht mehr. Dieser Krieg überforderte auch die finanziellen Möglichkeiten der Habsburger.
Ab 1643 würde man über die Einleitung von Friedensverhandlungen sprechen. Und eines wollten die Schweden auf keinen Fall: Aus diesem Krieg ohne Faustpfand gehen. Sie brauchten ein Druckmittel auf die kaiserliche Partei. Und das fanden sie im reichen Sachsen. Und Johann Georg, den die Sachsen wegen seiner Lebensart auch „Bierjörge“ nannten, machte es ihnen leicht. Er wollte nicht wieder an die schwedische Seite wechseln.
Und auf einmal lernen wir mit Zirr eine schwedische Militärführung kennen, die jeden Schachzug daraufhin überlegte, wie sie den Kaiser am Besten unter Druck setzen konnte. Und mit der Besetzung Leipzigs und weiterer Orte in Kursachsen sorgten sie zuallererst dafür, dass Kursachsen als Kriegspartei aus dem Rennen war. Ein Land, das hunderttausende Reichstaler aufbringen muss, um einige hundert schwedische Kompanien zu versorgen, hat kaum noch Spielräume, um eine eigene Armee auf die Beine zu stellen.
Und besonders zur Kasse gebeten wurde natĂĽrlich die Handelsstadt Leipzig. Die Belagerung und Besetzung war kein Zufall. Die Stadt war ein Geldbringer, auch wenn sie seit ihren verunglĂĽckten Spekulationen tief in den Schulden steckte.
Mehrfach versucht Zirr aus den damaligen Aufstellungen die Kosten zu berechnen, die die Stadt aufbringen musste. Ganze Berge von Schriftstücken haben die Sorgen und Beschwerden des Rates, die Forderungen und Verhandlungen der Schwedischen überliefert. Man erfährt, welche Rolle das Umland spielte, um genug Vorräte für die Besatzung zu beschaffen und warum der ungeplante Durchzug anderer Armeen verheerende Folgen hatte.
Man erfährt aber auch, wie die Schweden sich um den Erhalt der Messe bemühten. Denn sie wussten genau, dass sie nur weiter Geld kassieren konnten, wenn der Handel weiterlief. Was durchaus ein überraschendes Bild ergibt, denn abseits der Kriegshändel ging das Leben in Deutschland weiter. Die Felder wurden bestellt, Bier wurde gebraut, Messen fanden statt.
Und auch die Schweden selbst kommen teilweise ins Bild. Die nicht alle Schweden waren. Auch die schwedische Armee warb ihre Soldaten zum großen Teil direkt in den Ländern, in denen sie unterwegs war. Und für viele junge Männer war die Stellung als Soldat attraktiv, weil sie – anders als viele andere Lebensstellungen – sogar relativ sichere Einkünfte versprach und sogar die Basis für Familiengründungen. Deswegen zogen im Tross der Armeen auch hunderte Frauen und Kinder mit.
Und Zirr versucht natürlich auch herauszubekommen, wie viele Schweden – oder besser: Schwedische – in Leipzig eigentlich unterkamen. Und wo. Denn auf der Pleißenburg hatte ja eigentlich nur eine Besatzung von 200 Mann Platz. Die meisten Schwedischen wurden in der Stadt einquartiert. Einer Stadt mit gerade einmal 15.000 Einwohnern, wohl eher noch ein paar Tausend weniger, denn mehrere Seuchen hatten ja auch in Leipzig schon zugeschlagen. Zirr kommt auf über 2.000 Schwedische, die in der Stadt untergebracht waren.
Man bekommt das Bild einer Stadt, die sich zwar acht Jahre lang schwedischen Forderungen beugen musste – aber man sieht auch, wie beide Seiten versuchen, ein gemeinsames Prozedere zu finden. Und man sieht, dass diese acht Jahre keineswegs so ruhig waren, wie man bislang dachte. Die Befehlshaber wechselten, die Kriegskommissare, die Statthalter. Und immer wieder zogen auch die Truppen aus, weil sie zu militärischen Operationen gebraucht wurden, sodass auch in den Quartieren ein häufiger Wechsel war. Und das hörte 1643 nicht auf und auch nicht 1646, als die Friedensverhandlungen in Westfalen tatsächlich begannen, nachdem der Kaiser kurzzeitig glaubte, sie doch nicht zu brauchen.
Gerade jüngere Historiker haben ja schon mehrfach beschrieben, wie gerade diese Endzeit des Krieges vor allem ein Sichern von Druckpotenzial in den Friedensverhandlungen war. Und gerade mit ihren Einfällen in Böhmen zwangen die Schweden den Habsburger, die Verhandlungen ernsthaft aufzunehmen und auch auf viele schwedische Forderungen einzugehen. Zwar zogen bis zuletzt die beiden großen Armeen immer wieder durch das Reich – aber zuletzt war klar, dass keine Partei stark genug war, die andere zu besiegen. Man tastete einander nur noch ab, versuchte aber verlustreiche Schlachten wie noch 1642 zu vermeiden.
Und wie sehr Krieg längst als „Geschäft“ betrachtet wurde, zeigen dann auch die vielen Dokumente, die das zähe Ringen der Schweden mit dem sächsischen Kurfürsten erkennen lassen, von ihm die finanzielle Versorgung der Truppen garantiert zu bekommen. Und beim Feilschen ums Geld war Johann Georg augenscheinlich ein Meister. Es wurde wohl richtig zäh, erst recht, als die Friedensverhandlungen aufs Ende zugingen und klar war, dass die Truppen aufgelöst werden würden und die fremden Mächte abziehen würden.
Aber auch das erst, nachdem die Schweden ihre Forderungen nach 5 Millionen Reichstalern durchgesetzt hatten – die sich aber beim Lesen dann überhaupt nicht als Beute herausstellen, sondern als zwingende Grundbedingung dafür, die geworbenen Truppen abdanken zu lassen. Und das ging nur mit Geld. Sogar die Angst, dass die Soldaten ohne Abfindung einfach wild ins Land fliehen könnten, wird spürbar.
Im Grunde macht Zirr sichtbar, wie viel Kalkulation und Verwaltungsbürokratie hinter diesem Krieg steckte. Und wohl auch hinter allen anderen Kriegen der Zeit. Der Dreißigjährige ist ja nur der berühmteste unter den Kriegen des 17. Jahrhunderts. Und alle funktionierten sie ähnlich. Hier kann man mit sehr vielen Details einmal Einblick nehmen in die Funktionsweise dieser Militärmaschine. Man lernt die wichtigsten schwedischen und sächsischen Akteure kennen. Man sieht die Soldaten beim Schanzenbauen, nachdem die Schweden vorher erst einmal die halbe Pleißenburg zerschossen hatten.
Man sieht die Reitertrupps beim Fouragieren und am Ende den gewaltigen Bagagetross der schwedischen Offiziere, als am 30. Juni 1650 endlich (und pünktlich) auch die Leipziger Besatzung auszieht. Da hat man schon längst erfahren, dass es überhaupt keine Besonderheit war, dass die Schweden so lange im Land blieben, sondern dass es überall so war, denn es brauchte mehr als ein Jahr, um die Gelder aufzubringen, damit die Truppen tatsächlich nach und nach entlassen werden konnten. Und Sachsen zahlte davon einen gewaltigen Anteil – und auf einmal konnte auch Johann Georg spendabel werden, um die Besatzer nur schnell genug loszuwerden.
Natürlich ist Zirr richtig glücklich darüber, dass die Schweden so viel Post verschicken mussten. Dadurch ist ihr Aufenthalt in Sachsen und Leipzig erstaunlich detailreich dokumentiert. Und dann stolpert man am Ende noch über diesen 30. Juni, an dem die Schweden den Leipzigern auch ihre Selbstverwaltung zurückgaben – und auch die Poststation. Und dann folgt dieser legendäre 1. Juli 1650, der Tag, an dem Postmeister Timotheus Rietzsch wieder die Post übernahm und noch am selben Tag auch die erste Tageszeitung der Welt gründete. Dass diese beiden Ereignisse so ursächlich zusammenhängen, muss einem erst einmal bewusst werden.
Es gehen erstaunlich viele Zusammenhänge verloren, wenn Geschichte immer nur auf ihre „Höhepunkte“ eingedampft wird. So wie die Schweden-Geschichte in Kursachsen auf Gustav Adolf und „dessen Verklärung als Glaubensretter“ eingedampft wurde. Was so nicht stimmt und was auch die unübersehbaren Ambitionen der Großmacht Schweden ausblendet, die in diesem Krieg eine herrliche Gelegenheit sah, nicht nur im Ostseeraum ihre Vormachtstellung auszubauen, sondern auch im Heiligen Römischen Reich. Was ja bekanntlich gelang. Man muss die Geschichte nicht umschreiben. Aber man muss den Blickwinkel ändern und mit der Neugier eines Doktoranden auch mal in den Maschinenraum der Geschichte schauen, wo so nebenbei auch eine brodelnde und zuweilen wütende Bürgerschaft (Rat der 60) sichtbar wird, die mitten in diesem Krieg gegen den alten Rat aufbegehrte.
Und ganz am Ende erfährt man auch noch, dass die Belastung für die Leipziger mit dem Abzug der Schweden nicht endete. Denn jetzt legte der Kurfürst seine Truppen fast in gleicher Stärke in die Stadt. Bis 1661 muss Leipzig deshalb das Bild einer vom Militär okkupierten Stadt geboten haben. Und erst der Nachfolger des Bierjörge hatte ein Nachsehen und begriff, dass man das Geld, das für die Besatzung ausgegeben wurde, nicht als Steuer kassieren konnte.
Irgendwie versteht man die wütenden Bürger – die auch ein bisschen wütender sein durften als die Herren im Rat, denn die waren in der Regel sehr reich und bei den diversen Erhebungen für die Schweden auch mit großen Summen dabei, während die normalen Bürger sich jeden Reichstaler vom Mund absparen mussten. Man darf immer wieder staunen, was alte Bürokratenpost so für Informationen preisgibt, wenn sich einer wie Alexander Zirr hinsetzt und sich durch tausende Schriftstücke aus dem schwedischen Staatsarchiv arbeitet.
Und weil er nicht nur die Vorgänge in Leipzig zeigt, sondern alles, was hier geschah, in die großen Feldzüge der Schweden und die sich anbahnenden Friedensverhandlungen einbettet, bekommt man ein Gefühl dafür, wie wichtig die Handelsstadt Leipzig für die Schweden war, um am Ende halbwegs erfolgreich aus diesem Krieg aussteigen zu können.
Eine Menge Lesefutter. Aber eins steht fest: Die Schwedenzeit in Leipzig ist jetzt viel detailreicher aufgearbeitet als justament die ganze Zeit davor – von 1618 bis 1642. Aber fast kann man wetten: Da findet sich auch noch ein Doktorand, der sich vor altem Papier nicht fürchtet.
Alexander Zirr Die Schweden in Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2018, 98 Euro.
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