2012 hat die Deutsche Nationalbücherei ihren 100. Geburtstag gefeiert. Passiert eben. Es gab eine Sonderausstellung in Leipzig. Und gewürdigt wurde das Jubiläum mit vier Jubiläumsheften mit dem sinnigen Titel „HUNDERT“. Aber nicht nur Kenner der Nationalbibliothek waren ein bisschen enttäuscht. Warum blieb die eigene Geschichte so auffällig unterbelichtet? Die Kritik kam an. Die Leitung der Nationalbibliothek gab zwei richtige Forschungsaufträge raus. Das Ergebnis liegt jetzt vor.
Eigentlich waren es nur zwei Forschungsaufträge. Und zwar zu jenen Kapiteln in der Geschichte der Deutschen Bücherei (die seit 2006 Deutsche Nationalbibliothek heißt), die besonders umstritten waren. Da der erste Band – Christian Raus „,Nationalbibliothek‘ im geteilten Land“ – früher in unserer Redaktion eintrudelte, haben wir ihn auch schon als erstes besprochen. Obwohl er eigentlich zeitlich an dritte Stelle gehört.
Dritte Stelle deshalb, weil aus Sören Flachowskys Forschungsprojekt zwei dicke Bände geworden sind. Der Berliner Historiker sollte und wollte sich eigentlich mit dem wirklich finsteren Kapitel, der Deutschen Bücherei im Nationalsozialismus, beschäftigen. Aber es deutete sich schon bei Christian Rau an: Man kann die Geschichte dieser Bibliothek nicht erzählen, wenn man die Anfänge weglässt. Einerseits, weil es unübersehbare personelle Überlappungen gibt – etwa in der Person des Direktors Heinrich Uhlendahl, der 1924 ins Amt kam und die Bibliothek bis in die DDR-Zeit leitete. Und natürlich ging es ihm da wie tausenden anderen Amtsträgern, die irgendwie ihre Rolle in der NS-Zeit erklären mussten – sie schufen Legenden, schrieben sich selbst eher unparteiische Rollen zu.
Denn das war ja hüben wie drüben nicht wirklich unerwünscht. Es gab in beiden deutschen Staaten, die sich 1949 gründeten, keine wirklich transparente Aufarbeitung. Schon gar nicht zu den lastenden Schuldgefühlen und den millionenfachen Strategien der Verleugnung. Was es dann freilich auch zur echten Archivarbeit der späteren Historiker machte, die tatsächlichen Vorgänge, Abhängigkeiten und Verstrickungen der vergangenen Epochen herauszuarbeiten. Und so nebenbei die durchaus diffizile Frage von Schuld und Nichtschuld zu klären. Wobei man da ja schon in eine uralte Denkfalle tappt. So ist der Mensch nicht.
Dazu sind Menschen von viel zu vielen Ängsten und Motiven getrieben.
Und als sich Sören Flachowsky mit der NS-Zeit an der DB in Leipzig beschäftigte, merkte er schnell: Das lässt sich nicht wirklich erzählen, wenn das Fundament fehlt. Und irgendwie hatte die DNB ja auch vergessen, den ersten Band in Auftrag zu geben. Vielleicht, weil man in Leipzig und Frankfurt glaubte, das sei ja alles schon fundiert aufgearbeitet. War es aber augenscheinlich nicht.
Was Sören Flachowsky dann dazu brachte, dieses erste Kapitel als Grundlage für sein eigentliches Anliegen noch einmal ordentlich aufzuarbeiten. Das Ergebnis: Aus angedachten 500 Seiten wurden 1.200. Der Band musste geteilt werden. Nicht nach Epoche exakt. Aber selbst die Vorgeschichte umfasst 460 Seiten und vier komplette Kapitel, die wichtig sind, denn sie erklären die Frontverläufe, die auch die Bibliothekspolitik in der NS-Zeit bestimmten. Aber um den zweiten Teilband nicht auf 800 Seiten anschwellen zu lassen, hat Flachowsky noch nicht mit dem Ende der Weimarer Zeit die Zäsur gesetzt, sondern noch das Grundlagenkapitel zur Kultur- und Zensurpolitik des frühen NS-Staats mit dazugetan.
Deswegen ist das hier zwar irgendwie nur die Besprechung des 1. Bandes – der 2. muss noch gelesen werden. Aber gerade dieses ungeplante Vor-Kapitel zeigt, wie sehr auch die vom Börsenverein gemeinsam mit dem Königreich Sachsen und der Stadt Leipzig gegründete Deutsche Bücherei von Anfang an ein Spielball der Politik war, ersehnt von den einen, bekämpft von den anderen. Und in der Leipziger Stadtgeschichtsschreibung meistens verklärt. Als wären die 100 Jahre eine Fahrt ohne Stürme, Flauten oder Zickzackkurse.
Und das ist wohl das Wichtigste, was auch bei Flachowsky sichtbar wird: Die frühen Jahre der DB waren hochgradig gefährdete Jahre. Und sie war ganz und gar nicht der Traum der Deutschen, schon gar nicht der Kultusminister und Bibliothekare. Zwar gehört es zu den selbstgestrickten Legenden, dass die Deutsche Bücherei ihren Ursprung in der Nationalbibliothek der Deutschen Nationalversammlung von 1848 sehen kann. Zumindest faktisch stimmt es nicht. Ideell schon. Denn gerade im Deutschen Börsenverein der Verleger und Buchhändler schaute man zu Recht neidisch nach Frankreich und England, wo es schon längst große, stolze Nationalbibliotheken gab, die das ganze Schriftgut des Landes sammelten.
In Deutschland stand die Schaffung einer großen, gemeinsamen Nationalbibliothek spätestens seit 1871 auf der Tagesordnung, nach der sogenannten Bismarckschen Reichseinigung. Aber auch an dieser Stelle wird wieder die Fehlkonstruktion dieses Reiches sichtbar: Es war kein gemeinsames Projekt, sondern ein preußisches. Preußen dominierte zwei Drittel des Reichsgebietes. Der preußische König war deutscher Kaiser. Und es waren die Direktoren der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin, die über 30 Jahre lang den Zwist am Kochen hielten, welche Bibliothek denn nun die eigentliche deutsche Nationalbibliothek sein sollte.
Und da diese Bibliothek (heute Staatsbibliothek zu Berlin) schon das gesamte Schriftgut aus den Preußen zugehörigen Gebieten sammelte, kämpfte das Haus unter den Direktoren Harnack und Krüss spätestens seit 1906 gegen die Neugründung in Leipzig, nutzte auch ihre kurzen Drähte in die preußisch-deutsche Regierung und verhinderte so auch, dass das Deutsche Reich in die Finanzierung der Konkurrenz einstieg.
Glück für die Nachfahren: Auch deutsche Streithähne heben alle Schriftstücke auf. Man muss ja was beweisen können, egal wem.
Der Riss ging genauso durch den Börsenverein des deutschen Buchhandels, der zwar mehrheitlich eine solche Sammelstätte für alle deutschen Druckerzeugnisse wünschte und sich bis zum Ende der Weimarer Republik auch finanziell bis zur Überlastung für die DB engagierte. Aber schon bei der Lieferung kostenloser Belegexemplare ging es los. In einigen deutschen Ländern gab es Regelungen für Pflichtexemplare – aber nur für die eigene Staatsbibliothek. Jedes Land im Deutschen Reich unterhielt ja schon aus historischen Gründen eine eigene Staatsbibliothek. Und jedes beharrte auf seiner Kulturhoheit, auch da, wo man gemeinsam wirklich mal ein Zeichen hätte setzen können.
Dahinter taucht die ganze verkorkste Beziehung der Deutschen zum Nationalismus auf: Sie haben nie einen Kanon wirklich tragender nationaler Symbolorte entwickelt, sondern sind immer in ihrem kleinstaatlichen Grenzenziehen stecken geblieben. Es gibt kein Nationaltheater (auch wenn das in Weimar so heißt), keinen nationalen Pantheon. Der Bundestag heißt Bundestag und nicht Nationalversammlung. Die Bildungspolitik ist ein Flickenteppich. Nur die Nationalbibliothek ist dann doch irgendwie in die Rolle hineingewachsen, die 1906, als man das Projekt wirklich ernsthaft plante, keiner so richtig wollte. Denn der nationale Geist, der hier eigentlich einziehen sollte, war ja wirklich der von 1848: ein Haus für das gesamte Schriftgut in deutscher Sprache.
Dass die DB, für die 1912 in Leipzig der Grundstein gelegt wurde und die dann 1916, mitten im Weltkrieg, die Türen öffnete, auch bis 1933 aus dem schweren Fahrwasser und den Scharmützeln mit der Preußischen Staatsbibliothek nicht herauskam, hat mit genau diesem Geburtsfehler des Bismarckschen Reiches zu tun, der auch 1919 mit Gründung der Republik nicht wirklich ausgemerzt wurde. Im Gegenteil. Da gerade das deutsche Bürgertum sich im wilhelminischen Konservatismus zu Hause fühlte und alle liberalen Strömungen als „links“ verteufelte (was ja irgendwie bis heute so ist), war die Weimarer Republik bis 1932 immer unter Legitimationsdruck gegenüber einem verklärten Kaiserreich, dem dessen große Niederlage im Weltkrieg nicht angerechnet wurde.
Gerade die bürgerlichen Eliten fanden bis zuletzt keine positive Beziehung zur Republik und ihre Parteien suchten schon früh den Schulterschluss zur NSDAP, um die Republik schnellstmöglichst wieder zu demontieren und ein Rollback hin zu einer autoritären Regierung zu starten, die die Tradition des Kaiserreichs wieder fortführte.
Und das Verblüffende ist: Flachowsky kann das ausgerechnet an den hochgebildeten Bibliothekaren, Verlegern und Schriftstellern dieser Zeit aufzeigen, von denen die Verantwortungsträger 1933 fast alle nur zu bereit waren, sich gleichschalten zu lassen, das „Führerprinzip“ einzuführen, die jüdischen Kollegen zu entlassen und sich den neu entstehenden Propaganda- und Zensurinstanzen der Nazis entweder zu unterwerfen oder sich gleich mal selbst als kompetente Vollstrecker zu empfehlen.
Schon weit vor 1933 muss der Börsenverein ganz ähnlich wie der Freundeskreis der DB von zutiefst konservativen Verlegern dominiert worden sein. Und auch schon weit vor 1933 – nämlich 1927 – führte die DB ihre später so berühmte „Giftkammer“ ein, in der alles Schriftgut landete, das man dem normalen Leser nicht zumuten wollte. Das, was damals so unter „Schund und Schmutz“ lief.
Freilich lernt man bei Flachowsky auch die ersten Direktoren der DB näher kennen, ihre durchaus schwierigen Charaktere, wenn man etwa an Adolf Minde-Pouet denkt, der mit seiner zupackenden Art durchaus eine Aktie daran hat, die Deutsche Bücherei durch die Krisenjahre 1918 bis 1923 geführt zu haben – letztlich aber aufgrund mehrerer Amtsverstöße gehen musste. Und eine durchaus vielschichtige Gestalt war auch sein Nachfolger Heinrich Uhlendahl, der zeitlebens stolz auf seine Weltkriegserlebnisse war und erst später versuchte, seinen freiwilligen Einsatz bei den Freikorps kleinzureden.
In den Jahren 1924 bis 1933 war seine Arbeit stark geprägt von den bibliothekarischen Fehden mit den immer wieder intrigierenden Kollegen der Preußischen Staatsbibliothek, die mit immer neuen Vorstößen versuchten, den deutschen Gesamtkatalog an sich zu ziehen und damit der DB die Arbeitsgrundlage zu entziehen. Denn der Hauptgrund für die meisten Verleger, ihre Freiexemplare einzuschicken, war ja die schnelle Veröffentlichung im zentralen einheitlichen Titelverzeichnis. Erst dann waren ja auch Buchhändler und Bibliothekare informiert, dass die Bücher auf dem Markt waren und bestellt werden konnten.
Dieser Kampf war 1933, als Hindenburg die Macht an die Nazis übergab, noch lange nicht ausgestanden, ordnete sich nun aber in völlig andere Rahmenbedingungen ein. Denn das von Goebbels geschaffene Propagandaministerium, das auch seinen Zugriff auf die DB suchte, war in der deutschen Geschichte etwas Neues. Das NS-Reich war – so zitiert auch Flachowsky – die erste Mediendiktatur der Welt. Und das gar nicht Erstaunliche ist, wie bereitwillig sich auch die Akademiker aus der Buchwelt diesem Regime einfügten. Fast zum Schluss zitiert Flachowsky aus einem Artikel des ehemaligen Vorsitzenden des Vereins der Deutschen Bibliothekare Richard Fick aus dem Frühjahr 1933, in dem Fick sehr deutlich macht, wie sehr die Akademiker der Zeit sich als einer geistigen Elite zugehörig fühlten, „die zu allen Fragen des Lebens die richtige Meinung besitzt“ und in ihrem elitären Denken hoffte, von den neuen Machthabern darin auch noch unterstützt zu werden.
Also so gesehen: Ein zu erwartender Befund. Die konservative Akademiker-Elite hatte sich nie mit der neuen Republik anfreunden können, hielt noch immer an einem Standesdünkel aus wilhelminischen Zeiten fest und war nur zu bereit, sich einer neuen Macht bedingungslos anzudienen. Mit dem letzten Kapitel in diesem Band lässt Flachowsky das NS-Reich schon einmal wetterleuchten.
So gesehen kein schlecht gewählter Abschluss für diesen eigentlichen Teilband, der schon einmal ahnen lässt, dass es auch im zweiten Teilband eine Menge Kritisches über die Rolle der DB im Reich der Nationalsozialisten zu erzählen gibt.
Sören Flachowsky Zeughaus für die Schwerter des Geistes, Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 69 Euro.
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