Es gibt Städte, die sind ja vor allem wegen berühmter Sagen- und Märchengestalten bekannt: Hameln zum Beispiel durch den Rattenfänger, Kneitlingen durch Till Eulenspiegel oder Xanten durch einen sagenhaften Burschen namens Siegfried. Immerhin ist er eine der tragischen Hauptgestalten des Nibelungenliedes, das seit 200 Jahren als eine Art Nationalepos der Deutschen gilt.
Entstanden ist es um das Jahr 1200, der Autor kannte sich an der Donau hervorragend aus. In Xanten wohl eher weniger. Alle archäologische Suche nach der viel besungenen Königsburg blieb erfolglos. Was nicht bedeutet, dass man in Xanten nicht dem berühmten Siegfried begegnet – im SiegfriedMuseum nämlich, wo vor allem das Nibelungenlied und seine Entstehung eine Rolle spielen.
Der wackere Recke ist präsent, aber was man in Xanten findet, ist vor allem die mittelalterliche Stadt mit ihrem mächtigen Dom St. Viktor, die einst zum Herzogtum Cleve gehörte. Man durchschreitet ein prächtiges Stadttor und begegnet schnackenden Frauen aus Bronze am Brunnen, sieht die Reste der Bischofsburg und stolpert über den berühmten Vertrag von Xanten, der das Herzogtum Jülich-Cleve-Berg 1609 nicht nur in den Besitz der (noch ziemlich armen) Brandenburger brachte, aber auch einen der frühen Auslöser eines der vielen Konflikte bildete, die den 30-jährigen Krieg vorbereiteten.
Und da sich ja auch der Stadtrundgang durch Xanten einreiht in eine immer weiter wachsende Zahl genauso informativer Stadtführer aus dem Lehmstedt Verlag, bekommt man so langsam eine Ahnung, wie viel Geschichte man erfahren und begreifen kann, wenn man seine Familienurlaube nicht im Ferienressort irgendwo in Fernost verbringt, sondern in einer der vielen eindrucksvollen Städte Deutschlands.
Hier wird Geschichte greifbar, die in den üblichen Schullehrplänen nicht mal vorkommt, aber wichtig ist. Und eindrucksvoll. Auch wenn man erfährt, dass auch Xanten im 2.Weltkrieg verheert wurde und die Xantener vieles von dem, was ihnen wichtig war, hinterher originalgetreu wieder aufbauten.
Geschichte ist immer Konstruktion und Rekonstruktion. Da staunt man eher, dass sich die Frankfurter Redakteure über die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt so aufregen und bejammern, dass augenscheinlich viele Menschen eine Ur-Sehnsucht nach Heimat und Verwurzelung haben.
Das Problem in Frankfurt ist wohl eher ein anderes: In die rekonstruierte Altstadt werden keine armen Leute ziehen, die da bis 1945 mal wohnten. In Deutschlands großen Städten ist die große Bereinigung im Gang, die dafür sorgt, dass die einst lebendigen Altstädte von niemandem mehr bewohnt werden, der nicht reich ist. Die, die die größte Sehnsucht nach Heimat haben, werden aus ihrer Heimat einfach übers Geld verdrängt.
Und Xanten? Das ist zum Glück eine eher kleine Stadt. So klein, dass man ihr – anders als Trier – gar nicht zutraut, dass sie auch schon 2.000 Jahre alt ist – aber das erlebt man nicht in der Stiftsimmunität, dem alten, einst ebenfalls von Mauern und Toren umschlossenen Dombezirk, sondern erst nach einer kompletten Runde durch die überschaubare Altstadt und an der Kriemhild-Mühle vorbei, die ursprünglich mal ein Wehrturm in der Stadtmauer war.
Und dann hat man mit dem LVR-Archäologischen Park Xanten die römische Ur-Geschichte Xantens vor sich – eng verbunden mit den berühmten Legionen XVII und XVIII Augusta, die hier ihr Lager hatten und nicht durch einen Sieg berühmt wurden, sondern durch eine der berühmtesten Niederlagen der Römer: die Varusschlacht. Zwei römische Legionslager kann man auf dem riesigen Gelände bei Xanten historisch nachweisen, auf das man über die Siegfriedstraße gelangt.
Und die Rekonstruktionen der Archäologen zeigen, dass dieses Lager im Grunde eine richtige römische Stadt war. Seit Jahren gehen sie hier immer wieder an die Arbeit und legen immer neue Spuren römischen Lebens frei. Im Römermuseum mit den angrenzenden Thermen kann man vieles von dem Gefundenen besichtigen.
Man kommt zwar zu Fuß hin – aber Kristina Kogel hat den Archäologiepark bewusst ans Ende ihres Rundgangs gesetzt. Eigentlich braucht man für diese einzigartige Ausgrabungsstätte selbst einen ganzen Tag, denn auch viele Rekonstruktionen sind zu besichtigen, die einem das Leben in einem über Jahrhunderte genutzten Römerlager lebendig werden lassen – vom Amphitheater über die Römische Herberge, Wälle und Tore bis hin zu Handwerkerhäusern und Hafentempel.
Jede Menge Geschichte also an einem Tag – oder vielleicht doch lieber einem Wochenende. Denn wer nicht rast, der sieht mehr und lernt mehr. Und der schaut dann natürlich mit anderen Augen Richtung Osten über den Rhein, wo irgendwo der Teutoburger Wald lag, in dem Varus seine Legionen verlor.
Kristina Kogel Xanten an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2018, 5 Euro.
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