Man liest und liest und greift immer öfter zu seinem Gustav Schwab, „Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums“, etwas verwirrt, weil man die ganzen Sagen des griechischen Altertums zwar alle irgendwie im Kopf hat – aber alle hübsch extra: Herakles, Ariadne, Helena, den Minotauros, Ikaros, diesen gestürzten Sonnenflieger. Und es gehört tatsächlich alles zusammen. Kein Wunder, dass Thomas Fritz den Stoff nach 35 Jahren wieder angepackt hat. Es hat ihn gepackt.

Der Leipziger Schriftsteller und Hörspieldramaturg beim MDR hat seine Leser schon mit zwei Romanen fasziniert: der Gauner-Komödie „Blick und Beute“ von 2010 und dem „Selbstporträt mit Waffe“ von 2012. Um die Zeit hat er sich dann – so erzählt er mitten in diesem Buch – hingesetzt und sein Archiv aufgeräumt. Und dabei stolperte er über die ersten Skizzen für einen Dädalus-Roman, den er schon 1983 schreiben wollte. Aber dann kam das Leben dazwischen mit Ecken und Kanten und Niederlagen. Er kam nicht dazu.

Und deshalb war auch nicht Franz Fühmann der Erste, dem er sein Romanmanuskript vorsichtig zu lesen geben konnte, 1984 starb Fühmann – überraschend und viel zu früh. Auf Fühmanns Roman „Prometheus. Die Titanenschlacht“ verweist Fritz als Referenz. Das grämt ihn wirklich noch. Denn Fühmann stand für ein kritisches und auch selbstkritisches Schreiben in der DDR. Mancher sah in ihm eine Vaterfigur. Einen literarischen Ersatzvater, wie man ihn im richtigen Leben selten findet.

Der „Prometheus“ war 1974 erschienen. Aber damit war eigentlich der Rückgriff der großen DDR-Autoren auf die Antike erst eingeläutet. Denn gerade Fühman hatte ja gezeigt, wie gut sich die antiken Stoffe eigneten, die Gegenwart zu spiegeln und die Streichlust der Zensoren zu unterlaufen. Wer auf antike Stoffe zurückgriff, konnte damit rechnen, dass die Leser der Gegenwart im antiken Gewand die zensierte Gegenwart erkennen konnten. Berühmtestes Beispiel ist Christa Wolfs „Kassandra“ – just 1983 erschienen. Sage keiner, niemand hätte den Untergang der DDR – sorry, von Troja – vorausgesagt.

Und man kann zumindest ahnen, welche Ambitionen Thomas Fritz 1983 dazu trieben, den Dädalus-Stoff aufzugreifen. Nicht den tausendfach kolportierten Ikaros-Stoff, in dem nun jeder Depp von Dichter die Hybris des menschlichen Fortschrittsglaubens oder des jugendlichen Übermuts sehen kann. Wenn er will. Obwohl: Was sieht man noch, wenn man das tausendste Gejammer über den ach so sinnlosen Sturz des Ikaros gelesen hat?

Eigentlich nichts.

Nicht einmal den Schmerz des Vaters, der doch gewarnt hatte, Ikaros solle nicht so hoch fliegen, sonst schmelze das Wachs der Flügel in der Sonne …

Eine tragische Geschichte, deren Dimension sich erst erschließt, wenn man auch die Vorgeschichte von Dädalus, dem genialen Erfinder kennt, dem die alten Sagen auch den Tod seines Neffen Talos zur Last legen, der ihn schon in jungen Jahren scheinbar an Erfindergeist übertraf. Das geschah damals in Athen, wo noch ein König namens Ägeus regierte. Genau der Bursche, nach dem die Ägäis benannt ist, in die sich der König stürzte – so erzählt es die Sage – weil sein Sohn Theseus vergessen hatte, die schwarze Fahne am Schiff aufzuziehen auf der Rückkehr von Kreta, wo er den Minotauros im Labyrinth getötet hatte – mit Ariadnes Hilfe.

Wie gesagt: Da greift man immer wieder zum Schwab, weil einem diese ganzen Verbindungen zwischen lauter bekannten Sagen mit weltberühmten Heldenfiguren überhaupt nicht bewusst sind. Und es stimmt. Alles gehört zu einem einzigen großen Universum von Sagen.

Ich geb’s gern zu. Am heftigsten stutzte ich über den ersten Raub der Helena. Den hat nicht Paris begangen, sondern Theseus (zusammen mit Peirithoos), eben jener Sohn von Ägeus, der den Minotauros getötet hatte. Und dass er sich überhaupt auf den Raub der noch zwölfjährigen Helena einließ, liegt daran, dass sich seine geliebte Frau Phädra selbst getötet hatte …

Es wundert nicht, wenn Thomas Fritz dem eigentlich auch tragischen Leben des Königssohns Theseus ein eigenes Buch im Buch widmet, das mit „Das Feuer“ überschriebene Buch, in dem man Theseus Aufstieg findet, seine Ruhmestaten (die Schlacht gegen die Kentauren, den Kampf gegen die Amzonen …) und seinen wahnwitzigen Versuch, mit Peirithoos zusammen Persephone, die Gemahlin des Hades, aus der Unterwelt zu holen.

Und dann endet der berühmte Held in seinem eigenen Labyrinth. Denn das trägt jeder in seinem Kopf. Wer hätte das je besser gewusst als Dädalus, der für den König Minos extra das Labyrinth entwarf, in dem der wilde Minotauros gefangen war? Ein Gefängnis, das nicht verschlossen war, aus dem der Minotauros aber auch nicht entkommen konnte, weil er sich im Gewirr der Gänge heillos verfangen hatte.

Fritz fühlt sich richtig daheim in diesen antiken griechischen Sagen. Doch er dreht die Geschichte ein Stück weit, weg von der sonst üblichen Königsebene hin zu diesem eigenwilligen Erfinder, mit dem die Sagenerzähler sonst so wenig anfangen können, der immer irgendwo im Hintergrund bastelt, während vorn die Könige und Helden ihre bejubelten Auftritte haben – und den Erfinder einschüchtern und gefangen halten, wenn ihnen danach ist. Mit Minos begegnet uns ein veritabler Tyrann, wie wir ihn auch heute noch kennen – oft und gern manipuliert von seiner selbstsüchtigen Frau Pasiphaë.

Ach ja, die Götter nicht zu vergessen. Die alten Helden sind ja fast alle Göttersöhne. Und in ihren schicksalhaften Verstrickungen auf Erden spiegeln sich die Zwistigkeiten der Götter, die wir alle kennen: Zeus, Poseidon, manchmal mischt sich auch Athene ein. Und Ariadne, die dem schönen Theseus geholfen hat, aus dem Labyrinth zu finden, landet am Ende auf Naxos beim lüsternen Dionysos.

Stimmt alles. Steht so auch bei Schwab. Aber dort so dicht und beiläufig, dass man es glatt überliest und nicht immer gleich nachblättert und merkt, wie das alles miteinander verwoben ist. Das ist wie heute auch wieder: Die Erfinder und Weltverbesserer kennt kein Schwein. Aber jeden Kraftmeier auf der Bühne kennt man. Lauter Typen, die sich – zumindest was die Prahlerei betrifft – mit den Helden der Antike messen können. Bis hin zum König Kokalos, der Dädalus nach seiner Flucht irgendwie Asyl gewährt. Das eher eine Art Goldener Käfig ist – wie bei König Minos.

Und auch wenn Fritz seinen Haupthelden immer wieder verlässt, um die Abenteuer all derer zu erzählen, die seine Dienste so gern in Anspruch nehmen, ist dieser wortfaule, grüblerische Mann doch immer präsent. Gerade weil er sehr wohl wahrnimmt, dass seine Erfindungen auch missbraucht werden können. Die Hybris des Jahres 1983 ist der Hybris unserer Zeit sehr nah. Auch wenn es heute andere Technologien sind, die das Zusammenleben der Menschen unterminieren. Damals das riesige Konfrontationsarsenal an Atomwaffen, heute die entfesselte Datentechnologie, die die Menschen zu Zombies macht.

„Hatte uns der schäbige Dädalus nicht viel eher etwas zu sagen, der sich, wie wir in der DDR, im Reich des Minos umso auswegloser in den Schlingen seiner kreativen Willfährigkeit verfing, je verzweifelter er sich zu befreien bemühte?“, fragt Fritz. Auch sich selbst. Denn Fluchten aus dem Königreich des selbstherrlichen Minos waren ja für die meisten Kreativen nur in der Phantasie möglich. Der Eskapismus ist der Dädalus-Geschichte immanent. Und das Verblüffende ist eher, dass Thomas Fritz die Geschichte nach 30 Jahren wieder aufnehmen konnte und sie nun – mit deutlich mehr Lebens- und Schreiberfahrung – niederschreiben konnte.

Als große Parabel, dicht verwoben. Um einiges klüger. Denn – darüber schreibt er seitenweise sehr intensiv – heute weiß er, dass das Labyrinth genau so funktioniert: als das Gefangensein in den eigenen Vorstellungen (Platon lässt grüßen). Minotauros findet nicht hinaus, weil das Labyrinth in seinem Kopf steckt.

Und Dädalus kann nicht anders, als sich immer wieder schuldig zu machen und alles, was ihm lieb und teuer war, zu verlieren. Sein Leben selbst wird zum Labyrinth. Und damit auch zum Gleichnis für das Leben des Autors, einem „Dasein, das nie passte, nie das richtige war, sondern höchstens eine vorläufige Version, die man absolvierte wie eine vorgeschriebene Pflicht, damit im Anschluss das eigentliche Leben anbrechen konnte, das, das man sich mit Demut und Verzicht verdient hatte, wie eine Belohnung.“

Das dürfte manchem Beobachter der Gegenwart sehr vertraut vorkommen. Nicht nur beim Betrachten der sich so betrogen fühlenden Ostdeutschen. Dädalus bleibt ein Leben lang ein Getriebener, Fremdbestimmter, auch wenn er – in der Sage – am Ende im Reich des Königs Kokalos auf Sizilien endlich ein Leben in Ruhe führen kann. Aber erst, nachdem Kokalos den König Minos, der seinen Supererfinder zurückfordert, mit heißem Wasser zu Tode verbrüht hat. Gut erfunden? Nein. So überliefert es die Sage, auch wenn Thomas Fritz das Ende seines Helden mythisch ausweitet und ihn quasi zum Urahn der berühmtesten Erfinder der Geschichte macht.

Es ist also einerseits ein Mutmacher-Roman, in dem Fritz auch diesen einmaligen Erfinderkopf würdigt – ganz im Sinne Paul Valérys: „Angesichts des Abgrunds entwirft er eine Brücke.“

Aber gegen den Fanatismus und die Labyrinthe der Verworrenheit der Menschen kommt er nicht an, nicht gegen Eitelkeit, Gier und Bosheit. All die Dinge, die die Griechen, um sich derartige Wildheiten überhaupt erklären zu können, den Göttern zuschrieben. So wie bei Homer, wo ja die „Illias“ gleich mal mit einem heftigen Streit der Götter beginnt. Genau jener Geschichte, deren Auslöserin die oben erwähnte Helena war. Aber das ist schon die nächste Geschichte, eine, mit der Dädalus dann nichts mehr zu tun hat. Während sein Leben augenscheinlich viel mit uns zu tun hat. Und mit der Frage, wie sehr die Labyrinthe in unseren Köpfen dafür sorgen, dass wir aus unseren Höhlen nicht herausfinden.

Thomas Fritz Kinder des Labyrinths, Merlin Verlag, Gifkendorf 2018, 22,90 Euro.

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