Fรผr dieses Buch, 320 Seiten dick und Nummer 7 der โLeipziger Beitrรคge zur Wagner-Forschungโ, hat sich Peter Uhrbach richtig viel Arbeit gemacht. Man sieht ihn regelrecht vor sich, wie er alte Leipziger Zeitungen durchforstet, Texte dechiffriert und alles ordentlich in den Computer hรคmmert, so dass wir heute wieder lesen kรถnnen, was Leipziger Musikkritiker vor 150 Jahren zu Wagner schrieben.
โDie Tagespresse des 19. Jahrhunderts war fรผr die Bรผrger die wichtigste und aktuellste Informationsquelleโ, schreibt Uhrbach im Vorwort unterm Titel โRichard Wagner in der Leipziger Presseโ. โFรผr die Wagner-Forschung stellt sie eine einzigartige und bisher wenig genutzte Fundgrube dar.โ
Was ja stimmt. Aber nur zum Teil. Denn so einfach ist das mit der Tagespresse ja nicht. Wirklich vielfรคltig wurde sie erst in den 1890er Jahren. 1892 wurden die โLeipziger Neuesten Nachrichtenโ gegrรผndet, 1893 die โLeipziger Volkszeitungโ. Womit Leipzig erst zu diesem Zeitpunkt wirklich drei konkurrierende Tageszeitungen hatte โ und damit das, was man eine Presselandschaft nennen kann. Das war so ungefรคhr der Zeitpunkt, als Leipzig die 300.000-Einwohner-Marke รผberschritt.
Vorher hatte Leipzig nur eine Tageszeitung โ das 1807 gegrรผndete Tageblatt. Es ist dann auch die einzige Tageszeitung fรผr die Wagner-Zeit, die Uhrbach zitieren kann und auch emsig zitiert. Hier schrieben Kritiker wie Dr. Oscar Paul, Carl Kipke oder Bernhard Seuberlich. Und man merkt schon, dass sie sich irgendwann auf Wagner eingeschrieben hatten. Da fehlt dann etwas. Wo blieb der Streit? Vor allem auch, weil dieser Streit fortwรคhrend zitiert wird.
Das liest sich wie in heutigen Zeiten: Eine regelrechte Bewegung hat sich entwickelt, die sich auch richtig stolz selbst als Wagnerianer bezeichnet, und permanent ist sie in Abwehrschlachten gegen irgendwelche nie genannten Kritiker und ihre Argumente.
Diese Kritiker werden auch am Ende, nach Wagners rauschhaft inszeniertem Begrรคbnis 1883, nicht sichtbar. Was einen schon zum Denken bringt. Wie sich das รคhnelt. Eine ganze Bewegung bezieht ihr Selbstverstรคndnis aus der fortwรคhrenden Verteidigung gegen nie wirklich erwรคhnte Kritiker irgendwo da drauรen, auรerhalb der eigenen Welt.
Kann Uhrbach das wenigstens ein bisschen aufbrechen? Nicht wirklich. Denn als Ergรคnzung zieht er die damals in Leipzig erscheinenden musikalischen Zeitungen hinzu โ die Allgemeine Musikalische Zeitung (AMZ), das โMusikalische Wochenblattโ und die โNeue Leipziger Zeitschrift fรผr Musikโ.
Das Problem: Es sind oft dieselben Autoren, die auch hier schreiben. Und sie stehen fรผr ein Leipziger Publikum, das sich eigentlich seit den 1850er Jahren auf Wagner eingeschworen hat und nichts auf den โMeisterโ kommen lรคsst. Regelrecht enthusiastisch wird die gemeinsame Fahrt zur Grundsteinlegung fรผr das Festspielhaus in Bayreuth beschrieben. Erst flieรt jede Menge Bier, dann jede Menge Regen.
Es ist eine der lebendigsten Stellen im Buch. Man wartet ja die ganze Zeit drauf. Wenn schon so wortgewaltig immer wieder betont wird, wie zukunftsweisend die Musik Wagners ist und wie kleinlich alle Angriffe auf seine Art des Komponierens, dann wartet man die ganze Zeit auf den Knall. Oder wenigstens das Auftauchen der Walkรผren.
Ritt der Walkรผren in einer Inszenierung der Metropolitan Opera.
Aber sie kommen nicht. Am Ende kommt kurz mal der Meister nach Leipzig, ist aber schon krรคnklich und muss die Jubelfeier vorzeitig verlassen. Da ist Leipzig lรคngst eine Wagner-Hochburg, hat zwei mehr oder weniger emsige Wagner-Vereine. Im Opernhaus hat Angelo Neumann den ganzen Ring inszeniert und richtig Eindruck gemacht. Selbst bei tropischen Temperaturen hรคlt das Leipziger Publikum vier Stunden im Neuen Theater aus, um โDie Walkรผreโ zu erleben. Was Oscar Paul, der langgediente Musik-Rezensent des โLeipziger Tageblattsโ entsprechend euphorisch wรผrdigt.
Dieses Publikum ist stolz auf sich selbst. Es geht mit Wagners Schรถpfungen um wie mit einem Heiligen Gral. Was sogar eifrig analysiert wird. Man erfรคhrt zwar nicht wirklich, was andere an Wagner und seinen โdeutschenโ Festspielen kritisieren, aber man bekommt einen Teil der Argumentation mit, wenn es um die Schaffung einer โdeutschen Opernkunstโ geht, um die von Wagner neu zusammengesetzten alten Mythen und die gefeierten Gefรผhle: hehr, stolz, heldenmรผtig.
Es ist das bรผrgerlich biedere spรคte 19. Jahrhundert. Haben die Leipziger diese Texte damals tatsรคchlich gelesen? Was haben sie bei diesem eifrigen Verteilen von Noten eigentlich empfunden? Gerade dann, wenn sie nicht dabei waren und selbst erlebt haben, wie Herr X.und Frau Y. gesungen haben?
Man erfรคhrt nichts รผber die Kostรผme, die Chรถre, die Kulissen. Selbst dann nicht, wenn der fleiรige Bรผhnenmaler gelobt wird. Manchmal lassen die Kritiker ihren Unmut zumindest durchschimmern, wenn ihnen die endlosen gesungenen Dialoge Wagners (in denen ja nun wirklich nichts passiert) nicht weit genug eingekรผrzt waren, wenn zu viele der ganzen Ankรผndigungsgesรคnge ungekรผrzt dargeboten wurden, dann merkte man das schon mal etwas ingrimmig an, um gleich hernach das frenetisch applaudierende Publikum zu schildern und seinen Stolz darรผber auszubreiten, wie wagnerverstรคndig das Leipziger Opernpublikum doch ist.
Wie gesagt: Ich habe die ganze Zeit auf die Walkรผren gewartet oder irgendwelche anderen schwertschwingenden Gestalten, die in diese heiligen Hallen einfallen.
Aber: Wenn die Leipziger tatsรคchlich nur das, was hier zu lesen ist, รผber Wagner zu lesen bekamen, dann gab es in Leipzig keinen Wagner-Streit. Dann waren Wagner und seine Landsleute in Leipzig von Anfang an ein Herz und eine Seele. Dann wurden auch seine Jugendwerke bewundert und fรผr verheiรungsvoll befunden.
Und den รrger einzelner Schauspielbesucher bekamen immer nur die Kรผnstler ab, so wie die Sรคngerin Ida Buck 1854, die von einem anonymen Leserbriefschreiber im โLeipziger Tageblattโ regelrecht beleidigt wurde, worauf sie den Auftritt in der nรคchsten โLohengrinโ-Auffรผhrung schlichtweg verweigerte. Womit diese dann ins Wasser fiel, denn Ida Buck โ fรผr die dann Julius Eduard Hartmann eine umfangreiche Verteidigung schrieb โ war nicht ersetzbar.
Hartmann wird sehr deutlich: โNichts ist gut genug fรผr einen Herrn der heimischen Allerweltskritik; die Ausdrรผcke, welche halblaut bei jeder Opernvorstellung durch die Mรคnner der sogenannten Haute-volรฉe schwirren, bewegen sich alsdann nicht in den Schranken von Albertiโs Complimenturbuch.โ
Vielleicht hat man die Zeitung damals wegen solcher Stellen gelesen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hat man sich beim โLeipziger Tageblattโ mit dem Abdruck โempรถrter Leserzuschriftenโ hernach lieber zurรผckgehalten. In den Musikzeitschriften sowieso. Dort behandelte man das Leserpublikum sowieso wie ein eingeweihtes Vรถlkchen, das nur darauf wartete, dass der allseits bekannte Rezensent ein paar Tage nach der Premiere (oder der dritten oder fรผnften Vorstellung) seine Noten fรผr Sรคnger, Orchester und Intendant verteilte. รber Personen, die zwar nun nach รผber 100 Jahren wieder namentlich gewรผrdigt werden.
Aber man vermisst natรผrlich ihre Bilder und kurze Lebenslรคufe. Der so scharf attackierte Theaterdirektor von 1854, Bernhard Rudolf Wirsing, findet sich zum Glรผck im zweiten Band โMusikstadt in Bildernโ aus dem Lehmstedt Verlag, genauso wie das Bild Carl Riedels, der sich spรคter sehr fรผr Wagner engagierte, und โ ein echter Hingucker โ der Sรคnger Eugen Gura, der den Hans Sachs in den โNรผrnberger Meistersingernโ sang. Natรผrlich Angelo Neumann nicht zu vergessen, der Wagner in Leipzig in voller Breite auf die Bรผhne brachte. Man kann die beiden Bรผcher also nebeneinander legen.
Und man vermisst dennoch die Walkรผren. Oder irgendeinen Unhold, der sich aus den Kulissen traut. Er wird immer nur angedeutet in seinen gar schrecklichen Angriffen auf die Wagner-Welt. Aber er kommt nicht. Er kommt auch nicht zu Wort. Es ist wie in Wagners Bรผhnendramen selbst. Man wartet die ganze Zeit darauf, dass sie sich da oben schrecklich prรผgeln โ und dann stehen sie doch nur singend und vorwurfsvoll in der Gegend herum.
Und dabei freut man sich eigentlich auf die Lektรผre, weil Uhrbach, der sich auch eifrig im Leipziger Wagner-Verband engagiert, ja auch ankรผndigt, man fรคnde in den Texten schon erstaunlich moderne Tรถne. Ganz so, als hรคtten Oscar Paul und Kollegen schon eine moderne Wagner-Rezeption vorweggenommen. Aber davon findet man nichts. Was schade ist. Was aber auch zeigt, warum dieser Wagner mit seinen scheinbar so deutschen Mythen in der wilhelminischen รra so eine Furore machte und zum Star der gut zahlenden Haute-volรฉe wurde, die sich in diesen heroischen Gesรคngen augenscheinlich selbst wiederfand.
Es steckt jede Menge von diesem kulturbรผrgerlichen Selbstbild in den Texten. Etwa, wenn Oscar Paul 1882 รผber Otto Schelper schreibt (den man als Charakterdarsteller auch in โMusikstadt in Bildernโ findet): โHerr Schelper als โWotanโ war musikalisch wie auch bezรผglich des Spiels, in welchem er lebhaft an die vortreffliche Darstellungsweise des Herrn Scaria erinnerte, sehr gut, und wenn ihm im letzten Aufzuge in der Abschiedsscene einiges miรlang, so wollen wir dies gern der Rรผhrung zuschreiben, die sich vielleicht seiner bemรคchtigt hatte.โ
Bei solchen Kritikern gingen die Sรคnger dann wohl mit berechtigtem Bangen auf die Bรผhne: Gibt es am nรคchsten Tag ein โvortrefflichโ oder โ wie es Herrn Wiegand an diesem Abend geschah โ nur ein โzur Zufriedenheit durchgefรผhrtโ? Obwohl der Beifall hinterher โein ungewรถhnlicherโ war?
Aber wer jetzt an sein Schulzeugnis denkt, merkt schon: Einen Eindruck davon, was da am 26. Juni 1882 รผber die Bรผhne gegangen ist, bekommt man nicht so richtig. Was schade ist. Immerhin war es eine โWalkรผreโ-Auffรผhrung. Nur den Stimmen der einzelnen Walkรผren fehlte es โmehr oder weniger an der nรถtigen Kraftโ. Lag das vielleicht an der Akustik? Hat das Orchester den Gesang der Walkรผren zugeschmettert? Immerhin scheint auch dem Orchester einiges nicht gelungen zu sein, weil es so heiร war, dass sogar die Instrumente in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Man taucht mit Uhrbach ein in eine Welt, die lรคngst vergangen schien. Selbst Theodor Fontane schrieb schon ganz anders, auch wesentlich ironischer รผber die selbstgefรคllige Wรผrde des (Berliner) Kulturbรผrgertums, von Alfred Kerr und Zeitgenossen ganz zu schweigen.
Aber irgendwie hat sich das in der Wagner-Welt alles bewahrt. Wie in einer Zeitkapsel. Das machen diese enthusiastischen Besprechungen der Wagner-Zeit nur zu deutlich. Man hat die ganze Zeit das Gefรผhl fortwรคhrender Triumphumzรผge. Da hรคtte es ja 1883 beim Tode des Meisters ein Leichtes sein sollen, Geld fรผr ein Wagner-Denkmal in Leipzig zu sammeln und das Denkmal binnen weniger Jahre hinzustellen. Was aber bekanntlich รผber 100 Jahre nicht gelang. Und 2013 auch nur deshalb gelang, weil die heutigen Leipziger gelernt haben, ihren โSohn der Stadtโโ mit einer gehรถrigen Prise Augenzwinkern zu nehmen.
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