Sind Kinder in Schweden besonders frech? Oder sind schwedische Mütter nur viel gelassener als – sagen wir mal – durchschnittliche deutsche Mütter? Gottchen, wie das schon klingt! Nach Mutterverdienstkreuz geradezu. Stocksteif bis in den letzten Konsonanten. Es ist schon schlimm, was die Wertkonservativen immer mit unserer Sprache anrichten. Aber zurück zu Lars. Bestimmt heißt der kleine Frechdachs im richtigen Leben Lars. Oder Ulf, wie sein Erzähler-Papa.

Denn Ulf Stark – der 2017 starb – gehörte zu den bekanntesten und erfolgreichsten Kinderbuchautoren in Schweden. Und Charlotte Ramel ist dort eine der beliebtesten Illustratorinnen. Vielleicht, weil ihre gezeichneten Kinder besonders frech wirken. Richtige kleine eigenwillige Personen, die sichtlich schon ihre heimlichen Gedanken haben. Mama muss ja nicht alles wissen, was Knirps so denkt. Und Knirps denkt sich so manches in Bezug auf das kleine schreiende Wesen, das eben noch in Mamas Bauch war und nun im Bettchen liegt und futtert, spuckt, kackt und – manchmal lächelt. Ein Lächeln, bei dem man ganz froh wird.

So wie in der Leipziger Straßenbahn, wo ein lächelndes Baby genügt, allen ringsum sitzenden über 60-Jährigen die seit Jahren versteinerten Griesgramfalten zu lockern – und dann lächeln die Alten auch mal wieder und sind glücklich wie die Hühner.

Natürlich kommt die Leipziger Straßenbahn in diesem Buch nicht vor. Es geht nur um diesen Burschen, der vielleicht Ulf heißt, vielleicht auch Benny. Ist auch egal. Auf einmal ist da ein kleines zuzelndes Wesen, mit dem er sich beschäftigen kann, auf das er auch mal aufpassen darf und zeigen darf, was er alles kann. Man muss ja diese kleinen Neuankömmlinge begeistern. Denn der große Bruder kann ja schon auf einem Bein stehen und Fußball spielen und …

Man ahnt schon, was passiert. Beinahe zumindest.

Das Geschrei ist natürlich groß. Denn welches Baby lässt sich schon gern unerschrocken mit einem großen runden Dingsbums beschießen? Da ist Klein-Benny in Not und muss sich was einfallen lassen. Denn so sieht eigentlich Aufpassen auf das kleine Schwesterchen nicht aus. Es ist, wie man sieht, eine kleine Lerngeschichte. Für kleine Jungen, die noch nicht wissen, dass man mit dem kleinen Schwesterchen nicht so rabaukig umgehen kann wie mit Ole und Finn auf dem Tobeplatz. Was tun?

Guter Rat ist teuer.

Wasser will die Kleine nicht. Trommeln mag sie nicht. Das dicke Spielzeugpostauto schon eher. Vielleicht wegen der leuchtenden gelben Farbe. Vielleicht auch, weil sie merkt, dass sich da wirklich einer ernsthaft mit ihr beschäftigt und sich Mühe gibt. So viel Mühe, dass der große Bruder bald merkt, wie anstrengend das ist, so ein kleines Dings zu beschäftigen. Und müde wird und ihr dann auch noch den großen Daumen spendiert. Denn an dem nuckelt die Kleine am liebsten.

Es ist so ein richtiges Buch für Geschwisterkinder, die von dem kleinen Neuankömmling ja in der Regel alle erst einmal richtig irritiert sind. Es hat ja auch etwas Magisches, wenn Mama aus der Klinik so ein kleines neues schmatzendes Wesen mitbringt, das auf einmal einen richtigen Platz in der kleinen Familie ausfüllt und einen anguckt mit Augen wie große Kullerbälle. Es steckt eigentlich eine der ersten richtigen Begegnungen drin, die Kinder mit einem neuen Erdenwesen haben. Da muss Ulf Stark gar nicht viel erzählen. Die Situation entfaltet sich von allein. Den Rest besorgen die frechen Kinderbilder von Charlotte Ramel, die zeigen, dass auch diese kleinen Wesen schon eigensinnige Geschöpfe mit einem unverwechselbaren Charakter sind. Vielleicht einander ähnlich – so über die komplette Jahrgangsstufe betrachtet. Im Konkreten aber doch auf sich selbst gestellt – oder dazu herausgefordert. Denn die Mama setzt ja viel Vertrauen in ihren großen Jungen und lässt ihn auch mit dem Schwesterchen allein. Nimmt er die Verantwortung wahr? Macht er etwas Sinnvolles daraus?

Die kleine Geschichte erinnert einen auch daran, wie wichtig Geschwisterkinder sind, mit denen man Vertrauen lernen kann. Für die man sich einfach verantwortlich fühlt, so, wie es etwas größere Menschen ja immer für die kleineren fühlen sollten. Denn erst so werden wir ja eine große Gesellschaft, in der sich die Älteren um die Jüngeren kümmern und alle füreinander da sind. Ein Verhalten, das bekanntlich in den skandinavischen Ländern deutlich stärker ausgeprägt ist als hierzulande, wo die Geiz-ist-Geil-Fahnenträger die Macht übernommen haben und die Hoheit über die Worte. So dass wir immer mehr verlernen, worum es eigentlich in unserem Leben geht und dass man sich dafür anstrengen darf. Darf, nicht muss. Denn jeder, der sich wie dieser kleine große Bruder benimmt, merkt ja, wie reich man dadurch wird und wie gut belohntes Vertrauen tut. Das lässt sich nicht mit PS, nicht mit Geld und nicht mit Macht ersetzen.

Im Gegenteil. Füreinander da sein ist ja der Verzicht auf diese pompöse Rolle des „Ich weiß alles besser“. Man muss sich ein bisschen bemühen, muss auch von den Kleinsten was lernen, um sie besser zu verstehen. Und man merkt, dass sich alles immer verändert, weil alle verschiedene Bedürfnisse, Vorlieben und Ängstlichkeiten haben. Deswegen ist ja nicht nur eine Familie so ein kleines sensibles Labor der Gefühle, des Lernens und Interagierens, sondern auch jede andere Menschengruppe, in die großer Bruder und kleine Schwester später kommen.

So klein diese Geschichte scheint – es steckt so viel drin. Und das Erstaunlichste: Das meiste lernen alle von diesem kleinen schreienden Ding, das die meiste Zeit schläft.

Vielleicht ist es ja in der großen Welt genauso: Wir glotzen die ganze Zeit auf die polternden alten Trottel. Aber wirklich lernen könnten wir was, wenn wir auf die kleinen Wesen achten würden, die wir eigentlich beschützen müssen. Auch vor den großen, lauten Trotteln.

Ulf Stark, Charlotte Ramel Meine kleine Schwester, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2018, 13 Euro.

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