Es passt schon, wenn so ein Buch beim Buchverlag für die Frau landet. Dort haben Kochbücher mit Regionalbezug ja längst Tradition. Und dort ist man sich dessen schon lange bewusst, dass sich in Rezepten auch Kultur- und Sozialgeschichte spiegelt. Nu ja. Und dann kam 2008 beim MDR der Redakteur Alexander Zimmeck auf die Idee, auch so was zu machen: Rumzufahren im Drei-Land und Rezepte einzusammeln.
Das war der Beginn der Reihe „Unsere köstliche Heimat“. Das klingt wie „Unsere kleine Farm“, ist auch irgendwie so gemacht. Über 50 Sendungen gab es in den vergangenen zehn Jahren. Der MDR spricht von TV-Dokumentationen. Die Filmteams sind durch alle drei Bundesländer gereist, weniger auf einer Reiseroute, als eher punktuell. Sie haben vor allem besondere Wirtshäuser und namhafte Wirtsfamilien besucht, da und dort sind sie einer bestimmten lokalen Spezialität nachgereist. Und dann haben sie vor Ort die Geschichte so eines besonderen Rezeptes erzählt, verbunden mit der Geschichte des Gasthauses, der Wirtsfamilie oder etwa des Erbsenkönigs aus Elend.
Da und dort merkt man, dass die Geschichte ursprünglich aus den Berichterstattungen der lokalen Medien stammen, die ja manchmal besondere Gastro-Seiten auflegen und die Wirte mit ihren besonderen Gastronomieideen zu kleinen Berühmtheiten machen, die aber auch gern das Promi-Genre pflegen. Wohl das Beliebteste in den Regionalzeitungen zwischen Altmark und Erzgebirge. Das war schon seit 1991 immer ein fröhliches Pingpong-Spiel. Das, was sich die meisten Leute im Drei-Land als Heimat vorstellen, ist ein Kunstprodukt, ein mediales Konstrukt. So wie die Neuerfindung der drei Bundesländer 1990. Das hat sich auf allen Ebenen von Anfang an auch mit einer gehörigen Prise Ostalgie gemischt. Deswegen sieht das manchmal so komisch aus, so abendgrußmäßig und „Liebe Kinder, habt fein acht …“
Das Erstaunliche ist wohl eher, dass das noch niemand psychologisch untersucht hat. Denn das Wiederauflebenlassen regionaler Traditionen und Kochkünste ist das eine. Die Identität, die dabei entsteht, hat aber nichts mit der ursprünglichen Identität etwa vor der DDR-Zeit oder noch früher zu tun. Nicht einmal in Sachsen. Es gab zwar auch schon um 1900 eine Strömung, eine Art burschikose Sachsen-Mentalität zu erfinden. Aber aus den regionalen Küchen dann etwas zu schnitzen wie ein modernes Landsmannschaftsgefühl, das ist erst nach 1990 passiert, als in allen drei Bundesländern die Marketing-Strategen darangingen, eine Identität für die drei Verwaltungseinheiten zu schmieden. Da wurde aus traditionellen Küchen, die in der Regel eng mit der Landschaft, den landwirtschaftlichen Möglichkeiten und den sozialen Bedingungen zu tun hatten, dann so eine Art gekochte, gebratene und gebutterte Mentalität.
Man begegnet durchaus einigen mittlerweile international berühmten Gerichten, die in gewisser Weise etwas Besonderes sind – vom Buttermilch-Getzen aus dem Erzgebirge über das Thüringer Rostbrätl bis hin zum Baumkuchen aus Salzwedel. Selbst diese Zehn-Jahres-Tour des MDR zeigt, dass jedes Bundesland in Wirklichkeit aus lauter verschiedenen Küchen besteht – die Harzer Küche unterscheidet sich gravierend von der Altmärkischen, die Weimarer ebenso deutlich von der Sonneberger. Von Sachsen, das eigentlich ein in sich völlig zerstrittenes Mini-Königreich ist, muss man da gar nicht reden. Hier gibt’s quasi alles zwischen Oberlausitzer Stupperle, Dresdner Spargel und der Leipziger Kaffeetradition – bis hin zum Öko-Kaninchen aus der Lommatzscher Pflege.
Eigentlich müsste es ständig knistern in diesen Sendungen, weil die Kamerateams fortwährend nicht nur Dialekt- und Küchengrenzen überfahren, sondern es auch mit den unterschiedlichsten Mentalitäten zu tun bekommen. Es schreit eigentlich danach. Aber man hört nichts. Denn die Autoren dieses Bandes haben ein Kunststück fertiggebracht, das man sonst nur vom Bildschirm kennt, wo die Moderatoren im Hintergrund alles, was gezeigt wird, mit einem bedeutsamen Märchenton begleiten. Denn in Drei-Land ist immer Märchenzeit. Alle Menschen sind glücklich, arbeitsam und stolz. Sie haben sich ihre Träume erfüllt und bringen die Gäste zum Entzücken. (Außer die aus Morgenland.) Sie sind offenherzig und gastfreundlich und erzählen dem Mikrophon mit glänzenden Augen ihre Erfolgsgeschichten.
Und alles wird mit einer solchen Überzeugung vorgetragen, dass man als Bewohner dieser Landschaften nur irritiert ist, warum das mit der selbst erlebten Wirklichkeit so wenig zu tun hat.
Diesen Ton lernt man wahrscheinlich beim MDR von der Pieke auf. Das ist ein Bechstein-Grimm-Raabe-Ton, der den Blick durch das Kameraobjektiv in etwas Heimeliges verwandelt, in den Besuch in einem verwunschenen und immerglücklichen Land. Da sind die Märchenworte natürlich nicht weit. Denn so sieht man in Drei-Land die Welt: „Wie im Dornröschenschlaf liegt der thüringische Zipfel der Rhön. Während im hessischen und bayrischen (sic!) Teil des Mittelgebirges der Fremdenverkehr boomt, ist man hier meist unter sich. Was seine Vorteile hat. Die Einheimischen lieben ihre Ruhe.“
Und dabei gibt sich die Verwaltungsgemeinschaft Hohe Rhön, zu der Kaltensundheim mit dem Landgasthof „Zur Guten Quelle“ gehört, alle Mühe, den Tourismus ein bisschen anzukurbeln – denn hier leben etliche Leute, die Ferienwohnungen vermieten, davon.
Die Familie Möllerhenn aus dem Landgasthof verrät ihr Rezept für Fleischhötes mit Lauchbrüh. Fleischhötes sind mit Hackfleisch gefüllte Kartoffelklöße. Es gibt tatsächlich viele Rezepte im Buch, die sind richtig lecker und erzählen tatsächlich davon, wie in den vielen kleinen Regionen traditionell gekocht wurde. Meist zu besonderen Anlässen und Feiertagen. Denn fast alles sind Sonntagsgerichte. Gern mit viel Fleisch, das in Normale-Leute-Küchen eigentlich bis 1990 immer nur wochenends auf den Tisch kam. Fleisch hatte seinen Preis und war nicht so billig wie heutzutage.
Die Auswahlkommission der Sendung hat ein großes Faible für Fleisch – für Mutzbraten, Wildschweinspieße, Osterlamm im Römertopf, gebratene Tauben, Lammtopf und Naumburger Fleeschsuppe … Da ist man schon froh, wenn es ab und zu auch mal Holundersuppe, Pilzsuppe oder Raacher Maad (eine Art Kartoffelpuffer aus Oberwiesenthal) gibt. Man lernt auch ein paar nette Orte kennen – so wie Bauerbach, wo Schiller einst ankam auf der Flucht, oder das „Gartenhaus“ am Falkenstein im Harz, wo man – na ja – Harzer Würzfleisch im Kartoffelstroh kennenlernt.
Und natürlich wieder dieser sagenhafte MDR-Sagenton: „Am Fuß der Burg Falkenstein im Harz lebte einmal ein Riese namens Griewatsch …“ Quatsch. Den Riesen hab ich jetzt erfunden. Der Satz geht in Wirklichkeit so: „Am Fuß der Burg Falkenstein im Harz liegt das ‚Gartenhaus‘. Es wurde vor rund 400 Jahren errichtet …“ Nimm starke, bildhafte Verben, lautet der Chefspruch. Das Haus wurde nicht gebaut oder erbaut, sondern errichtet. Man spürt regelrecht die schweißtreibende Anstrengung der Zimmerleute und die Höhe des Dachfirsts. Es lebt ein starkes und kräftiges Geschlecht im Drei-Land, das nicht isst, sondern schmaust, das mit reicher Ausbeute aus den urigen Wäldern zurückkehrt und nach einem Vogelbeerpunsch erst mal satt ist. Ach nein: Es bleiben keine Wünsche offen. Nicht mal drei.
Ein Sender prägt die Sicht der Zuschauer auf ihr Land und auf sich selbst. Und auf so seltsame Mitbewohner wie die Maräne im Arendsee: „Die Maräne liebt klare, kalte und tiefe Seen. Im Arendsee findet sie ideale Lebensbedingungen.“ Den Tieren geht’s richtig gut in diesem Buch. Schweine, Schafe und Kühe werden bio gehalten, leben im Grünen und freuen sich nur allzu sehr darauf, gut durchwachsenes Fleisch zu bekommen und sich dann freudig zum Essen zubereiten zu lassen …
Hinter all den Geschichten steckt bestimmt sehr viel Arbeit, Professionalität und Aufmerksamkeit für gute Küchenzutaten. Aber irgendwo finde ich, ist es nach 28 Jahren eigentlich an der Zeit, das Märchenbuch beiseitezulegen und auch die mediale Einstellung zum Essen zu ändern. Es passiert mir eigentlich selten, dass ich beim Lesen eines Kochbuches keinen Appetit bekomme. Aber wer’s wirklich wissen will: Diesmal habe ich zwischen „deftiger Fleischeskost bis zu leckeren süßen Schlemmereien mit Sicherheit“ nichts Richtiges gefunden. Im Gegenteil. Ich hatte dasselbe Gefühl, wie ich es mittlerweile immer bekomme, wenn auf der Tafel vor der Gaststätte steht: „Deftige Hausmannskost!“
Ist eben nicht mein Sender. Vielleicht ist es auch dieser Ton des Märchenerzählers, bei dem man sich eher nach Rapunzels Salat und Goldmaries leckeren Broten sehnt, als nach … nein, bitte, nicht schon wieder Fleisch!
Unsere köstliche Heimat, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2018, 16,95 Euro.
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