Nein, Philosophie ist es gerade nicht, was Julius Fischer seit 2003 in Leipzig studiert hat, sondern Geschichte und Literaturwissenschaften. Und trotzdem ist dies hier ein philosophisches Buch geworden. Auch wenn das eine Menge Leute heute so locker auf der Zunge tragen, wenn sie bei der kleinsten Überforderung verzweifelt ausrufen: „Ich hasse ...!“ Dies und das. Gern auch Menschen. Aber wie kommt Julius Fischer dazu?

Wer seine Bühnenauftritte in drei Lesebühnen und seine bisherigen Veröffentlichungen kennt, weiß, dass das bei Julius Fischer eigentlich mal mit launigen Geschichten begann, in denen er sich selbst auf den Arm nahm. Das ist der Szene nicht ganz fremd, denn sie lebt nicht nur von der Aufmerksamkeit auf der Bühne (die meist die naive Peggy mit ihren Reimereien bekommt), sondern auch vom Aufmerksamsein im Alltag.

Denn wer mehrmals in der Woche auf der Bühne steht, der braucht Stoff, echten, lebendigen Stoff aus dem richtigen Leben. Das findet zwar für alle statt. Aber die meisten gucken nicht mehr hin. Sie sind so gefangen in ihrer Lebensblase, dass sie gar nicht mehr wirklich wahrnehmen, was in ihrer Umgebung passiert.

Manche sind ja so pfiffig, dass sie dann abends in die Lesebühne gehen. Da erfahren sie es dann. Launig, witzig, pointiert, manchmal auch etwas bissig. Wer so lange dabei ist wie Julius Fischer, der weiß: Eigentlich lachen die Leute vor allem dann, wenn sie sich wiedererkennen. Und Bekanntes unter die Nase geschmiert bekommen.

Er erzählt das im Buch auch anhand von Witzen. Richtige Witze funktionieren auf der Bühne nicht. Die meisten Leute verstehen die Pointen nicht. Deswegen dominiert in Deutschland ja auch nicht das Kabarett, sondern die Comedy. Sie geht davon aus, dass das Publikum gesagt bekommen muss, wann eine Stelle witzig ist. Meistens sind es Stellen, an denen die Leute merken, dass sie selbst gemeint sein könnten. Dann wird gelacht.

Aber das ist die Bühne.

Was macht man aber mit lauter Texten, die sich seit dem letzten für Furore sorgenden Sammelband angesammelt haben? Und Julius Fischer hat ja Furore gemacht, auch wenn er sich in seinen Texten gern kleiner macht, als er ist. An den Rummel um „Die schönsten Wanderwege der Wanderhure“ erinnern sich die Freunde von Voland & Quist noch heute. Obwohl sich natürlich der Autor selbst am meisten wunderte, wie sensibel ein Verlag für historische Romane schon auf die fröhliche Anspielung auf einen beliebten Reihentitel reagiert.

Wahrscheinlich ohne das Buch gelesen zu haben. Oder doch. Denn Fischer hat halt keine Wanderhuren begleitet, sondern einen seiner fast literaturwissenschaftlichen Texte über die Verkäuflichkeit von Literatur geschrieben und die Kunst, mit Büchern richtig viel Geld zu verdienen. Was eigentlich auch der rote Faden in diesem neuen Buch ist, das eben nicht aus 30 neuen Texten aus Fischers Bühnenleben besteht.

Irgendwie haben ihm alle seine Freunde abgeraten, es noch einmal so zu machen. Und der Verlag hat gedrängelt. Es war dann Kollege Marc-Uwe Kling, wie Fischer im Abspann verrät, der ihn dazu brachte, aus den 30 Geschichten eine einzige zu machen. Der Held war ja eh immer derselbe: Julius Fischer, leidend unter einer Mitwelt, die ihm immer wieder nur gehörig auf den Keks geht. Denn wer eigentlich nicht wirklich abschalten kann, immer sensibel ist für alles, was um ihn herum geschieht, und deshalb auch die Störungen nicht wegschalten kann, der verzweifelt natürlich in unserer Welt, wie sie heute ist.

Denn es ist eine Welt von Egomanen, Lautsprechern, Introvertierten, Handybesitzern, Kopfhörerträgern, Lauttelefonierern, Oberflächlichen usw.. Das Personenensemble lernt ja jeder selbst kennen, der Julius Fischer auf dieser Reise mit dem Zug nach Köln begleitet. Ausgerechnet nach Köln – einer Stadt, die nicht nur Julius Fischer auf seiner Liste der Un-Städte stehen hat. Aber eine großspurige Agentur hat ihn eingeladen. Gut möglich, dass man dort wirklich eine Idee hat, den begabten Autor aus Leipzig groß zu lancieren.

Was Fischer natürlich erst so nach und nach erzählt. Eigentlich ist ja sein Buch ein philosophischer Zugreise-Roman, mit Rückblenden, Abschweifungen, Gedankenkreisen, also all dem, was einer auf so einer stundenlangen Fahrt mit wildfremden Leuten im Zug tatsächlich alles erlebt, wenn er seinen Kopf nicht ausschalten kann.

Und Julius Fischer kann das nicht. Es geht ihm wie Arthur Schopenhauer. Wenn man nicht weggucken, die Mitwelt nicht ausfiltern kann (wie das augenscheinlich diese ganzen anderen Leute alle können), dann hat man ein Problem. Dann wird man die ganze Zeit mit Geräuschen, Bildern und Informationen konfrontiert, die einen zutiefst frustrieren.

Er ist eigentlich genau da, wo auch Schopenhauer landete, als er intensiver über Vernunft, Verstand und die Erkenntnisfähigkeit der Menschen nachzudenken begann. Wer das erst einmal macht, wird ziemlich zwangsläufig zum Pessimisten. Wie Schopenhauer. Und wenn er nicht eine gelinde Menschenfurcht entwickelt, dann einen nicht zu zähmenden – ja, ist es wirklich Menschenhass? Auch wenn es frech auf dem Cover steht und manchmal so aussieht? In Wirklichkeit ist dieser Reisende wütend und frustriert und – wie alle gut erzogenen Kinder – gehemmt.

Dieser Julius Fischer wird einem immer vertrauter, je länger er schreibt und nachdenkt. Bis hin zu der letzten Szene in der Agentur in Köln, wo er sich aus lauter guter Erziehung nicht traut, dem smarten Burschen ihm gegenüber ins Gesicht zu sagen, was er von ihm hält. Er behält seine Wut in sich und malt sich immer nur in Gedanken aus, was er tun würde, wenn – er ein anderer wäre.

Aber Fischer ist ein Ostdeutscher. Ein echter. Einer, der darunter leidet, dass er zu einem guten Menschen erzogen wurde. Deswegen wird sein Buch so ganz beiläufig auch zu einer bildhaften Analyse dessen, was derzeit im Osten so schiefläuft. Und was Fischer natürlich auch wütend macht. Mit den verbiesterten Leuten von AfD und Pegida kann er wirklich nichts anfangen. Das ist unterste Schublade.

Aber ein alter ego hat er, auch wenn er so tut, als sei das sein Kumpel Enrico aus Dresden, arbeitslos, Dynamo-Fan und nicht ganz so flott im Kopf. Und dennoch ein witziger und schlagfertiger Gesprächspartner. Eine völlig andere Type – ja, nehmen wir nur den smarten Burschen in Köln. Oder den Kölner Taxifahrer, der nicht mal die kleinen Witze versteht. In solchen Szenen wird das komplette Missverstehen zwischen den Selbstverliebten im Westen und den Introvertierten im Osten deutlich. Diese beiden Bevölkerungshälften können sich nicht verstehen. Das ist per se unmöglich.

Weswegen die Reise natürlich ohne Vertragsabschluss ausgeht. Das richtige Buch über irre Reisen nach Sachsen wird auch diesmal wieder ein smarter Vielschreiber irgendwo aus dem Emsland oder Bayern schreiben. Denn eines wissen wir ja nun: Über Sachsen weiß man in Köln besser Bescheid als in Sachsen.

Deswegen nehmen auch Julius’ Freunde seine Äußerungen, wie sehr er sie doch alle hasst, nicht so ernst. Auch wenn er seiner Wut auf unerzogene Kinder und Eltern, rücksichtslose Kofferbesitzer, Raucher und Rentner seitenweise so richtig Luft macht. Man versteht ihn ja. Genau da landet man, wenn man zu einem rücksichtsvollen, bescheidenen Menschen erzogen wurde.

Und im Osten wurden alle dazu erzogen, auch wenn es bei einigen wirklich schiefgegangen ist. Denn wenn Bravheit das Lebensideal ist – wie geht man dann mit den ganzen Egomanen, Blendern, Aufschneidern, Lügnern und Großmäulern um? Ja, auch Trump kommt vor. Geht ja nicht anders. Über den Typen kann man sich, wenn man dazu erzogen wurde, mit anderen Menschen respektvoll umzugehen, ja nur jeden Tag neu aufregen. Der Kerl ist eine Zumutung.

Hass!

Ja so klingt das dann im Buch. Die Aufdringlichen und Vorlauten drängen sich immer wieder herein in die Gedankenwelt dieses Reisenden, der immer wieder aus Erinnerungen und Überlegungen gerissen wird und vor allem auch die ganze Zeit mit seinem Selbstbild kämpft. So sind ja Kumpel und Zeitgenossen: sie legen einen auf das Äußere fest. Und sie denken gar nicht daran, ihre ersten Vorurteile irgendwann einmal zu korrigieren.

Wie dieser Schnösel in Köln.

Man ärgert sich quasi mit. Und wird stellvertretend wütend für diesen reisenden Philosophen, der mittlerweile so geübt ist, Pointen und Aphorismen zu schreiben, dass er sie einfach in den Text streut. Selbst über das Informationszeitalter denkt er nach. Natürlich hasst er es. Warum auch nicht? Es kommt ja nichts Gescheites dabei heraus, außer dass die Informationen immer schneller durchrauschen und immer schneller vergessen sind, also auch nichts hängenbleibt. Was dann logischerweise bei vielen Leuten Gefühle des Verrücktwerdens auslöst.

Es hat sich also gelohnt, dass Marc-Uwe Kling seinen Freund dazu überredet hat, aus den 30 Geschichten eine Julius-Fischer-verreist-Geschichte zu machen. Eine, in der dieser eigentlich zu richtigem Hass völlig unfähige Bursche immer wieder sehr ernsthaft darüber nachdenkt, warum er mit dem schrillen und rücksichtslosen Verhalten anderer Menschen nicht wirklich klarkommt. Eigentlich ein zentrales Thema unserer Gesellschaft, aber wie bringt man das diesen schrillen Menschen bei, die nicht einmal ahnen, dass die nicht so lauten anderen Menschen mit ihrem Verhalten ein Problem haben könnten?

Eine Frage, die ungelöst bleibt. Aber jetzt bin ich selber abgeschweift. Natürlich kann und darf man das Buch auch im Zug lesen. Auch auf einer Fahrt nach Köln. Aber man tut wahrscheinlich gut daran, sich dabei ein Pfund Möhren einzupacken und vielleicht auch eine Packung Holunderbier – samt Flaschenöffner natürlich.

Julius Fischer Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2018, 16 Euro.

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