Steht sie wirklich noch da im Garten des Hauses Jenny-Marx-Straße 20? Sie steht noch da: die von Heinrich Apel geschaffene Skulptur einer jungen Frau im Kostüm ihrer Zeit: Jenny von Westphalen, Tochter des preußischen Landrats Wilhelm von Westphalen. 1968 haben die Salzwedeler ihr hier ein kleines Museum eingerichtet. Auch wenn sich Jennys große Liebe ganz woanders abspielte – im fernen Trier, wohin ihr Vater als Regierungsrat versetzt wurde.

Und natürlich sieht das Museum heute anders aus als zu DDR-Zeiten. Wer heute hinfährt, lernt eine der „starken Frauen Sachsen-Anhalts“ kennen. Und das Büchlein, das Caroline Vongries über diese starke Frau schreibt und ihre Liebe zum vier Jahre jüngeren Karl Marx, verändert natürlich den Blick auf diese Frau an der Seite des berühmten Philosophen und Ökonomen, den ein paar unbelesene Leute 1990 schon gern eiligst entsorgt hätten, weil sie glaubten, Karl Marx sei in irgendeiner Weise für die DDR und den dort praktizierten Sozialismus verantwortlich gewesen.

„Alles, was ich weiß: Ich bin kein Marxist“, zitiert Vongries diesen Ausspruch des selten und meist nur oberflächlich gelesenen Philosophen, der schon zu Lebzeiten erlebte, wie ihn andere versuchten, für sich zu requirieren und in eine Ikone zu verwandeln. Nichts war er weniger.

Eigentlich war er genau das, was seine Verächter heute noch verachten: ein Flüchtling. Die preußische Regierung hatte schon sehr genau verstanden, dass dieser Man mit dem alten Feudalgeist nichts anfangen wollte. Und zwei Mal tat er als Redakteur der Rheinischen Zeitung und der Neuen Rheinischen Zeitung der düpierten Obrigkeit richtig weh. Und so geschah ihm mehrfach, was auch den anderen klugen Köpfen des Flickenteppichreiches geschah: Er wurde ausgewiesen – aus Köln, aus Paris, aus Brüssel, aus Paris … und jedes Mal traf das auch mit voller Wucht seine Frau und seine Kinder.

Genauso, wie er spürte, wenn die preußischen Zensoren wieder einmal seine Schriften requirierten oder verboten. Denn damit nahmen sie ihm seinen Lebensunterhalt. Bis ins Alter lebten Karl und Jenny Marx in Armut. Das vergisst man beinah, wenn man heute die falschen Brandreden auf ihn hört. So können nur Menschen reden, die nie gedarbt haben, die niemals Kinder verloren, weil sie keinen Arzt bezahlen konnten, die sich aber auch nie für irgendetwas begeisterten. So wie Marx, der sich schon während seines Studiums für mehr interessierte als die trockene Juristerei. Und damit war er eins mit Jenny, die für ihre Zeit hochgebildet und hochinteressiert war. Eigentlich genau das, was ihr Vater Wilhelm gewollt hatte, als er die Kinder für die Zeit sehr offen erzog. Aber das sorgte dann dafür, dass Jenny mit den ganzen alten Konventionen nichts anfangen konnte und stattdessen den Gefährten ihrer Kindheit heiratete, der sich immer mehr dafür begeisterte herauszukriegen, warum die Welt so ungerecht war, wie sie war.

Und wie man das ändern könnte. Und die Frau an seiner Seite war eben mehr als nur die Liebe seines Lebens. Sie war seine wichtigste Kritikerin, seine Sekretärin und selbst eine aktive Autorin. Diese beiden teilten eine Idee und ein Leben. Und Caroline Vongries kann es am Ende mit Recht betonen: Die Themen, die diese beiden Menschen bewegten, sind heute wieder so aktuell wie eh und je. Ganz abgesehen davon, dass seine beiden wichtigsten Werke – „Das Manifest der kommunistischen Partei“ und „Das Kapital“ – heute zum UNESCO-Kulturerbe gehören. Denn mit seinen Schriften hat dieser Marx auch das Denken über unsere Art des Wirtschaftens verändert. Über den Kommunismus hat er eigentlich nie geschrieben, aber umso mehr über die Funktionsweise des Kapitals.

Dazu hat Marx zehntausende Bücher rezipiert, sich regelrecht verzettelt. Zu seinen Lebzeiten erschien nur der erste Band des „Kapital“. Die beiden anderen Bände erschienen posthum, zusammengestellt von seinem Freund Friedrich Engels.

Natürlich lässt sich Jennys Geschichte nicht ohne den bärtigen Burschen an ihrer Seite erzählen. Sie wurde aktiv, wenn Marx wieder einmal über Nacht des Landes verwiesen wurde. Sie ging Bettelwege, wenn das Geld nicht mehr reichte, um die kleine Familie zu ernähren. Was Vongries erzählt, ist im Grunde die Geschichte zweier Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass man sich einer Sache ganz und gar widmen muss, wenn man weiß, dass sie richtig ist. Sie erlebten alle beide, wie man dann von einer rücksichtslosen Staatsmacht zum Außenseiter gemacht wird, wie einem auch noch die Lebensgrundlage entzogen wird.

Andere hätten da längst schon aufgegeben. Und andere haben aufgegeben. Das 19. Jahrhundert ist eine Zeit fortwährender Frustrationen für Menschen, die die Welt gerechter machen wollten. Deswegen waren es auch Arbeiter, die die Aufstände anführten. Was Marx ja zu dem Glauben veranlasste, Proletarier würden die Welt in einen besseren Ort verwandeln, waren sie es doch, die unter den Verhältnissen am meisten litten.

Doch alle diese Aufstände und Revolutionen wurden niederkartätscht. Die Proletarier sind noch da – nur halt nicht in Europa, sondern in jener Welt, in die die reichen Wohlstandsgesellschaften des Westens ihre Billigproduktion ausgelagert haben. Auch daran hat sich nicht viel geändert. Es sieht nur anders aus.

Natürlich passen diese Seitenstränge nur in geraffter Form in dieses Büchlein, in dem Caroline Vongries zeigt, wie wichtig die kluge Frau an der Seite des Burschen mit den großen Gedanken und der schrecklichen Handschrift war. Wie sie auch gelitten hat – mit ihm gemeinsam – wenn wieder ein Kind starb. Selbst in Friedrich Engels sucht Jenny einen Verbündeten, der Hilfe gab, wenn es in der kleinen Familie zu schwer wurde. Am Ende erfährt man noch ganz kurz, was aus den drei klugen Töchtern wurde. Alle drei gingen auch sie politische Partnerschaften ein.

Aber was lernt man hier eigentlich kennen? Das übliche Porträt eines Revolutionärs am Schreibtisch ganz bestimmt nicht. Beide stammten aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, waren hochgebildet und teilten eine große Idee. Vielleicht die größte, die man sich als einsamer Einzelkämpfer ohne jede staatliche Unterstützung vornehmen kann: herauszufinden, welche Macht die neue Zeit antreibt und was sie mit den Menschen und der Gesellschaft anrichtet.

Jenny hielt selbst in den schlimmsten Zeiten zu ihrem Karl. Und augenscheinlich schafften die beiden auch etwas, was für die damalige Zeit höchst selten war: ihre Sorgen und Probleme immer wieder auch im offenen Gespräch zu klären. Zu Recht bedauert Vongries, dass viele Briefe aus dem persönlichen Leben gerade Jennys verloren sind. Denn natürlich interessiert man sich heute nicht nur für diesen sturen Arbeiter am Projekt Gerechtigkeit, sondern auch für das ganz persönliche Verhältnis der beiden. Denn erst da wird der Mensch sichtbar in seinen Freuden, Verletzungen, dem Mutfassen, Vertrauen und Verzeihen.

Zumindest schafft es das Büchlein, einiges davon anzudeuten.

Und man ist froh, dass Jennys Skulptur in Salzwedel noch steht und daran erinnert, dass die Befreiung des Menschen immer auch eine kluge weibliche Seite hat.

Caroline Vongries Jenny und Karl Marx, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2018, 5 Euro.

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