Auch der Sutton Verlag hat zur Buchmesse ein eindrucksvolles Buch mit Fotos von „lost places“ vorgelegt. Eines, das das Thema noch einen Tick weiterdreht. Was am Fotografen liegt, der diesmal nicht aus der Gilde der Berufsfotografen stammt. Erst mit 42 Jahren, so erzählt Christian Sünderwald, habe er überhaupt erst begonnen, sich mit dem Fotografieren ernsthaft zu beschäftigen. Vorher gab’s ein Aha-Erlebnis.
Da war er mit einem Freund in ein lange schon leerstehendes Krankenhaus in Chemnitz eingestiegen. Der Freund ist Geocacher, macht sich also auf die Suche nach versteckten kleinen Protokollbüchlein, die irgendwo an abenteuerlichen Orten versteckt sind. Und leerstehende alte Gebäude sind beliebt bei diesem Sport. Aber was für Sünderwald anfangs ein kribbelndes Abenteuer war, entwickelte sich bald zur Faszination. Denn von Menschen verlassene Orte sind anders. Sie sind meistens leer geräumt. Die alte architektonische Schönheit ist wieder unverstellt zu sehen. Weil aber auch das elektrische Licht fehlt, sind die Innenräume dem ganz normalen Rhythmus des Tageslichts unterworfen. Auf einmal bekommen die Räume spannende Schatten und Lichteinfälle.
Und das war der Moment, an dem sich bei Sünderwald etwas festhakte und nicht mehr losließ. Seine Frau scheint bass erstaunt gewesen zu sein über das, was ihren sonst so braven Man da erfasst hatte. Aber sie verstand es und unterstützte ihn dann auch dabei, aus der Faszination eine ernsthafte Beschäftigung zu machen.
Was nicht einfach war. Denn was die meisten Leute, die mit einem Knipsgerät herumlaufen, meist nicht mal merken, fiel Sünderwald bald auf und machte ihn kribbelig: Die kleinen Kameras, mit denen er versuchte, das abzulichten, was er sah, waren überhaupt nicht in der Lage, mit diesen faszinierenden Lichtverhältnissen umzugehen. Zumindest nicht, wenn man die Kameras mit Automatik betrieb und sich darauf verließ, dass die Leute im Werk schon wissen müssten, wie man Kameras einstellen muss, damit sie automatisch gute Bilder machen.
Machen sie aber nicht. Gerade da, wo es um komplexe Bildausleuchtungen geht, braucht es das Grundlagenwissen des Fotografen um Blenden und Belichtungszeiten. Dinge, in die sich Sünderwald einarbeitete. So lange, bis ihm gelang, was er wollte. Nämlich das Fotografierte mit dem in Deckung zu bringen, was er sah. Und was nicht jeder sieht. Das merkte er spätestens, als er seine ersten gelungenen Aufnahmen ausstellte – das Publikum reagierte geteilt. Die einen zuckten mit den Schultern und sahen nichts Besonders. Und die anderen waren hellauf begeistert.
Und das nicht nur, weil die Schwarzweiß-Aufnahmen den „morbiden Charme“ der verlassenen Gebäude zeigten. Das war gar nicht so sehr Sünderwalds Ziel. Viel präsenter sind die architektonischen Details und die durch das Licht betonte Raumwirkung der alten Gebäude, die alle von einer reichen Bautradition erzählen, der jetzt der Abriss droht. Denn sie stehen alle irgendwo in Mitteldeutschland, oft etwas abseits, aber seit zumeist 20, 25 Jahren ist das Leben in ihnen verklungen, gibt es auch keine Zweit- und Drittnutzung mehr. Sie stehen in einer Region, die viele Einwohner verloren hat, wo aber auch die betuchten Investoren fehlen, die sich die leerstehenden Schlösser, Villen und alten Gasthäuser schnappen und im alten Glanz wieder herrichten. Und die Gebäude erzählen so ziemlich alle von vergangenem Glanz, von Reichtum, der vor 120 Jahren in Sachsen und Thüringen zu Hause war, von rauschenden Festen und dem Eindruckschinden der damaligen Fabrikbesitzer.
Es ist ein Land, dem irgendwie die Füllung abhanden gekommen ist. Und vor allem jene Gruppe der kulturvollen Reichen, die solche Kleinode zu schätzen wissen und sie mit viel Geld aus ihrem Dornröschenschlag erwecken. Und viele dieser einst opulent ausgestatteten Räume sind noch intakt. Sünderwald zeigt nicht unbedingt den Verfall, sondern das Bewahrenswerte, das jetzt verloren zu gehen droht. Die Adressen schreibt er nicht dazu, wohl wissend, wie viele Vandalen in der Welt leben, denen nichts mehr Spaß macht, als auch noch die letzten dieser Gebäude zu zerstören. Menschen, denen es nicht weh ums Herz wird, wenn wieder ein Kleinod verschwindet – und damit ein Stück kultureller Identität. Leute, die zwar von „Leitkultur“ schwadronieren, wenn sie über Migranten reden. Aber nie auch nur einen Finger dafür krümmen, die geschaffenen Kultur im eigenen Land zu bewahren und zu retten.
Die auch mit den Bauepochen und Baustilen nichts anfangen können. Und die auch nicht spüren, wie viel Geschichte so ein Ort atmet. Sünderwalds Bilder brauchen keine große Erklärung. Sie wirken alle so, dass man eigentlich mit dem Fotografen selbst mitten in diesen stillen Orten steht, die ja nicht nur des blendenden Kunstlichtes entkleidet sind, sondern tatsächlich so still, wie von Menschen bevölkerte Gebäude sonst nie sind. Wie fotografiert man so eine Stille?
Sünderwald ist es gelungen. Seine Bilder zeigen sein Gefühl für Raumtiefe und Lichteinfall – sogar seine Scheu, manche dieser durchaus gealterten Treppen zu betreten. Man schaut in fast fürstliche Foyers und Vestibüle, in Treppenhäuser, die wie Eingänge in Museen, Mausoleen oder Bankkontore wirken. Es ist vor allem die beeindruckende Handwerkskunst des späten 19. Jahrhunderts, die in den Blick gerät – die meisterhafte Arbeit von Paneel- und Treppenbauern, von Kaminbauern und Deckengestaltern. Die Räume zeugen von all den Neo-Stilen der Zeit und vom Wunsch der Bauherren, schon im Raum ihr Repräsentationsbedürfnis zu zeigen – Gediegenheit plus Luxus. Bis in die Kamingitter und Terrassentüren hinein. Stünden alle diese Gebäude in Leipzig, es hätte sich wohl schon längst einer gefunden, der hier den noblen Sitz einer Anwaltskanzlei oder eines Immobilienverwalters untergebracht hätte.
Aber sie stehen in der Oberlausitz, am Südharz, im Thüringer Wald, bei Chemnitz, Riesa und Döbeln. An vielen der Orte sichtlich längst viel zu groß. Zeugen einer Zeit, als dort viel mehr Menschen lebten und die Fabrikschlote rauchten. Zeugnisse einer Zeit, als Sachsen die Fabrik Deutschlands war, in der Unternehmer den Erfolg ihres Unternehmens auch zeigen wollten. So wie zuvor die Adligen auf ihren Rittergütern und kleinen Schlössern bei Meißen, Dessau oder Eisenach.
Man merkt schon, dass Sünderwald nach seinen ersten fotografischen Erfolgen auch jede Menge Unterstützung bekam von Leuten, die die versteckten Kleinode in der Region kennen. Vielleicht auch Tippgeber, die hoffen, dass der leerstehende Schatz so doch noch die Aufmerksamkeit von Menschen findet, die Geld und Freude haben bei der Rettung dieser gebauten Schätze, die im westlichen Landesteil längst schon gekauft und saniert wären. So gesehen ist der Osten auch noch heute eine unentdeckte Landschaft, wo es Orte zu finden gibt, nach denen man anderswo vergeblich sucht.
Einige der fotografierten Orte sind natürlich schon so vom Wetter gezeichnet, dass sie wohl keine Chance mehr auf Rettung haben. Aber das gehört wohl dazu, zu dieser ganz speziellen Sünderwald-Sicht auf diese Gebäude mit ihrer lichtdurchfluteten Stille. Dadurch wird die Vergänglichkeit stärker betont, kommt eigentlich auch das Ticken der Zeit mit ins Bild. Denn was man sieht, wird man bald so nicht mehr sehen können. Nur die Fotos werden bleiben, Fotos, die sichtbar machen, was man eigentlich zuletzt als Kind gesehen hat, wenn man an Sonnentagen fast allein war in einem Haus und dem Sonnenlicht zusah, wie es durch den Raum wanderte. Damals, als wir alle noch viel Zeit hatten. Und nicht von Panik erfasst wurden, wenn mal nichts passierte.
Denn erst wenn nichts passiert, sieht man, wie doch etwas passiert. Ganz still. Auch das hat Sünderwald eingefangen in seinen Fotografien.
Christian Sünderwald Verlassene Orte in Mitteldeutschland, Sutton Verlag, Erfurt 2018, 29,99 Euro.
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