Für FreikäuferDa versagt das Gedächtnis. Diesen Klang des Erzählens, den gab es zuletzt in leinengebundenen Jugendbüchern, die man einst stapelweise verschlang und dabei eintauchte in den Sog eines Erzählens, das alte Zeiten, sagenhafte Landschaften und längst vergangene Völker wieder lebendig werden ließ samt ihren Träumen, ihren Göttern und der Unendlichkeit der Zeiten. Als Autoren noch farbig erzählten. So wie Dieter Kalka mit dieser Sehnsuchtsgeschichte aus der Sorbenzeit.

Denn eine Sehnsuchtsgeschichte ist es, die er hier erzählt, eine mehrfache Sehnsuchtsgeschichte. Eine Wurzel reicht in diese von großem Atem getragene Jugendliteratur, die besonders in den 1950er und 1960er Jahren dominierte, als gerade Autoren und Verlage in der damaligen DDR das Stichwort Völkerverständigung sehr ernst nahmen und die Jugendlichen mit spannend erzählten Romanen über Völker und Landschaften aus aller Welt beschenkten – nicht nur den berühmten Indianerromanen von Liselotte Welskopf-Henrich oder den Südamerika-Romanen von Willi Meinck. Meist waren auch Kinder und Jugendliche die Helden dieser Romane, in denen es ganz ohne Drachen, Zaubertricks, Zeitmaschinen und Einhörner zuging.

Das Wort „Realismus“ nahmen diese Autoren ernst und tauchten dabei auch tief in die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse der Zeit ein, um ihre Geschichten an möglichst authentischen Orten mit möglichst authentischen Konstellationen spielen zu lassen. Es ging nicht mal darum – wie heute selbst den dümmsten Naseweisen möglich – Staaten zu retten, Schätze zu finden oder irgendwelchen Unholden das Handwerk zu legen. Gerade weil dieser ganze (Fernseh-)Klimbim in diesen Büchern nicht auftauchte, waren sie durchatmet von einer Stille und Faszination, aus denen man eigentlich gar nicht wieder auftauchen wollte, egal, ob es einen zu den Völkern der asiatischen Steppe verschlagen hatte, in die Gluthitze Arabiens oder in die Welt der Bronzezeit. Das waren Bücher, nach denen man nur noch mehr Hunger auf weitere solcher Bücher hatte. Und weil das so war, hat man den durchgelesenen Buchstapel eiligst wieder in die Bibliothek zurückgeschleppt, um sich den nächsten Stapel zu holen. Und neuen Faszinationen zu erliegen.

Und so sind die Namen der Autoren und Buchtitel verschwunden. Aber Dieter Kalka kennt sie bestimmt alle noch. Und hat sie in seinem Buchregal stehen. Und hat sich nun hingesetzt, selbst so ein Buch zu schreiben über ein Land, das es so nicht mehr gibt. Über das man nur stolpert, wenn man daran erinnert wird, dass nicht nur Leipzig – die Heimatstadt des Liedermachers, Logopäden und Autors – einst von Slawen gegründet wurde, sondern jeder zweite heute bekannte Ort in Ostdeutschland. Bis weit ins 14. Jahrhundert hinein war die Volkssprache in Libzi Sorbisch. In vielen Familiennamen klingt das noch an.

Doch in den Geschichtsbüchern taucht es kaum auf. Es ist wie vergessen. Was auch daran liegt, dass es keine slawischen Aufzeichnungen gibt über die Zeit, bevor die Regionen östlich von Saale und Elbe in immer neuen „Slawenkreuzzügen“ erobert wurden, sich in Marken verwandelten und Burgwarde (wie Leipzig) darüber wachten, dass die eroberten Slawen friedlich blieben. Es ist wie bei allen Geschichten: Der Sieger schreibt die offiziellen Geschichtsbücher. Und seine Sicht auf die Dinge bestimmt am Ende, was „richtig“ ist. Was bei der Einverleibung der slawischen Siedlungsgebiete im Osten durch die Franken und Sachsen auch mit der jahrhundertelang verklärten Christianisierung der Slawen zu tun hat. Man wollte ja die „falschen“ Götter vertreiben.

Dass gerade das Christentum im Hochmittelalter hochaggressiv war und auch mit Feuer und Schwert „taufte“, ist bekannt. So begründete schon Karl der Große seine Feldzüge nach Osten. Aber wie empfanden diese slawischen Völker ihr Leben eigentlich, bevor die Missionare kamen? Bevor ihnen eine stark reglementierende Religion aufgezwungen wurde?

Wahrscheinlich sehr anders als wir heute. Bernhard Streck hat es ja in seinem Buch „Sterbendes Heidentum“ versucht, für die Urreligionen zu erkunden. Und ganz sicher spielte ein völlig anderes Zeitempfinden eine Rolle. Später – lange nach den Jugendbüchern – klang dieser große Atem einer Zeit ohne die strenge Hektik des Westens in den Geschichten und Gedichten Johannes Bobrowskis an. Sein „Sarmatien“ ähnelt in Ton und Farbe dem Land der Slawen, das Dieter Kalka farbenreich und mit vielen Zitaten aus der slawischen Sagen- und Liederwelt zeichnet. Es ist ein imaginiertes Land. Denn im Grunde kennen wir nicht mehr als die Namen der berühmtesten Stämme – der Obodriten, Redarier, Lusitzer, Milzener und Nisanen, die freilich erst in den Chroniken der deutschen Autoren auftauchten – wie bei Thiemar von Merseburg – wo sie natürlich als feindliche Stämme gezeichnet werden, verwickelt in allerlei Schlachten und Feldzüge, die deutsche Könige und Markgrafen anführten, um sich die Gebiete da im Osten gefügig zu machen.

Kalka lässt seine Geschichte um das Sorbenmädchen Sudička schweben – auch zeitlich. Er nimmt keine bekannten Personen auf in die Geschichte, schildert auch keine historisch verbürgten Feldzüge. Das Umfeld, das er zeichnet, könnte in die Frühzeit Karls des Großen passen, als die Sachsen noch nicht christianisiert waren und sich die Völker Skandinaviens, Norddeutschlands und des slawischen Ostens noch auf Augenhöhe begegneten, ihre Götter respektierten und miteinander Handel trieben. Tatsächlich dauerte die Eroberung der Slawengebiete über 400 Jahre, kam tatsächlich erst im 12. Jahrhundert zum Ende, zur Zeit Barbarossas – was Sabine Ebert in ihrer Romanserie „Schwert und Krone“ schildert. Auch sie mit dem Versuch, sich das Leben der Slawen vorzustellen, ihre Siedlungen, Burgen und Herrschaftsverhältnisse.

Die Geschichte um Sudička spielt einige Jahrhunderte davor, in einer Welt, die noch friedlich ist. Das Unheil aus dem Westen kündigt sich erst an. Ist noch nicht greifbar. Mythisch geht es zu in Kalkas Geschichte, manchmal betritt er ohne viel Federlesens das Reich der Märchen und Zauber. Auch einige seiner Hauptfiguren stattet er mit magischen Kräften aus – neben Sudičkas künftiger Schwiegermutter Oda auch den finsteren Bischof in Magdeburg, der die schwarzen Künste besser beherrscht als die Friedensbotschaft der Bibel. In ihm könnte ein Stück des heiligen Adalbert von Magdeburg stecken, Missionar und erster Erzbischof von Magdeburg. Aber darum geht es gar nicht. Im Grunde komprimiert Kalka dieses ganze frühe Kapitel einer verschlingenden Nachbarschaft in seiner Geschichte, die über lange Strecken tatsächlich den Atem der Sonnenzeit hat – Sudička wird zwar aus ihrem Fischerdorf irgendwo im Zeitzer Gebiet an der Snudra (Schnauder) entführt, um das Orakel des Priesters von Wolin zu erfüllen. Sie soll die Einheit der Slawenstämme herstellen, die Jednota. Sie wird selbst zum Symbol dieser Einheit und ein Zeitalter des Friedens scheint den Slawen beschieden. Aber die aggressiven Mächte im Westen lassen keine Ruhe und spätestens, als der missionierende Mönch Bosinus Unruhe in Wolin stiftet, zerspringt diese friedliche Stille in Scherben.

Und man merkt, dass Kalka den Heiligenlegenden um diese alten Missionare nicht viel abgewinnen kann. Dieser vom Märtyrertod besessene Mönch wird zum Störenfried und Vorboten all der Zerstörung, die am Ende auch über Wolin kommt, die letzte Bastion der Slawen. Auch das ein mythischer Ort, auch wenn Wolin als alter Handelsplatz auch archäologisch belegt ist – hier trafen sich die Händler und Völker. Und tatsächlich waren es dann die Wikinger, die den alten Handelsplatz zerstörten und auf der Ostseeinsel im Mündungsgebiet der Oder ihre Burg bauten. Um die sich dann wieder die Sagen um das versunkene Vineta und seinen Reichtum ranken.

Sudička ist die Königin dieses sagenhaften Ortes. Und auch der kluge Rat des in den Norden verschlagenen Ahmad, einst Feldherr der Araber, hilft nicht, die andrängende Übermacht zu bezwingen. Auch das im Grunde eine große Parabel: Wie machtlüsterne Aggression ganze Kulturen und Zivilisationen zerstört und verschwinden lässt.

Wir sind ärmer geworden, weil wir diesen Teil unserer Geschichte verloren haben. Nur mühsam kann die Forschung überhaupt rekonstruieren, was da jenseits des „limes sorabicus“ tatsächlich existierte, bevor die Eroberer kamen. Kalkas Roman ist der Versuch, eine große, klingende Geschichte davon zu erzählen und auch ein wenig vom Klang und Glanz der slawischen Welt lebendig werden zu lassen. Die übrigens auch ein wichtiger Teil der ostdeutschen Geschichte ist. Vergessen, vergraben, verdrängt – und doch irgendwie noch gar nicht so weit weg. Ein Stück ostdeutscher Identität.

Und damit ein Stück Verwurzelung – nicht so aufgeblasen kulissenhaft wie der heute zelebrierte „Nationalstolz“, der seine Theaterschwerter in die Luft reckt, aber dem sichtlich der Boden unter den Füßen fehlt. So wie die Vergewisserung, dass wir auch aus einer beeindruckenden slawischen Kultur kommen. Eine, die vielleicht wirklich voller Magie war und diesem großen Hauch der Jetztzeit, in der sich Menschen geborgen fühlen zwischen Gestern und Morgen, ohne immerfort panisch auf die Nöte der nächsten Zukunft zu starren. Auch das steckt mit drin in diesem Roman, die Sehnsucht nach einer Welt, die wieder im Jetzt ruht.

Und im Hier. Und da passt dieses Buch natürlich in die Gegenwart, eine Zeit, in der kaum noch jemand wirklich im Hier und Jetzt lebt. Alles strebt fort, weg vom Jetzt. Aber: Wohin? Da ist, wie es scheint, etwas Wesentliches verloren gegangen. Und manchmal muss man wohl 1.000 Jahre zurückgehen, um ein Stück davon wiederzufinden.

Buchpremiere für „Sudička“ ist am Donnerstag, 15. März, 20.30 Uhr in der „Mädlervilla“, Hans-Driesch-Straße 2, in Leipzig.

Dieter Kalka Sudička, Jaron Verlag, Berlin 2017, 20 Euro.

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