Es ist ein ganzes Buchgenre, das da in den letzten Jahren entstanden ist und die Leser in seinen Bann schlรคgt: Mal kommt es als โ€žLost Placesโ€œ daher, mal als โ€žVerlassene Orteโ€œ oder โ€“ wie beim Jaron Verlag โ€“ als โ€žGeisterstรคttenโ€œ. Angefangen hat es รผberall mit der Abenteuerlust von Menschen, die sich nicht nur fรผr die morbide Schรถnheit verlassener Gebรคude interessierten, sondern auch fรผr ihre Geschichte. Und der Osten war mal voller solcher Gebรคude.

Ein wahres Schatzreich fรผr begabte Fotografen, die in diesen alten Fabriken, Heilstรคtten, Krankenhรคusern, Kasernen, in Bunkern, Burgen und verlassenen Schulen das Licht einfingen, die Schรถnheit des Verfalls und den emsigen FleiรŸ der Natur, sich die verbauten Orte zurรผckzuholen. Tatsรคchlich begann diese Abenteuerlust sogar recht spรคt, denn die hohe Zeit der leer gerรคumten Baukultur war um 2000, als der Osten tatsรคchlich โ€žauf der Kippeโ€œ zu stehen schien, Kommunalverwaltungen nur noch an Abriss dachten und die Bevรถlkerung hinzuschmelzen schien, als sei das ein verhextes Land. Eines ohne Zukunft.

Und tatsรคchlich haben viele Investoren viel zu lange gewartet. Es waren oft nicht die wertlosesten Kleinode, die vernagelt und versperrt dastanden und langsam vor sich hin rotteten. Vielerorts schlimmer, als es diesen Gebรคuden in der grauen DDR-Zeit ergangen war.

Das heiรŸt: Zur neuen Abenteuerlust der Fotografen brauchte es โ€“ so seltsam das klingt โ€“ auch eine neue Aufbruchstimmung. Denn erst sie machte all jenen, die heute ganze Galerien mit eindrucksvollen Ruinenfotos aufweisen kรถnnen, bewusst, dass es diese Tummelplรคtze bald nicht mehr geben wรผrde. Die alten Fabriken verwandelten sich selbst in abgelegensten Orten auf einmal in neue Loffts oder in Seniorenheime, neue Besitzer รผbernahmen und entwickelten neue Nutzungsideen.

Das war nicht nur in Leipzig so. Das passiert รผberall im Osten. Entsprechende โ€žGeisterstรคttenโ€œ-Bรผcher hat der Jaron Verlag schon รผber Dresden und Leipzig vorgelegt. Aber so wie dort die einstigen Geisterstรคtten verschwinden und nach dem Umbau nicht mal mehr verraten, wie sehr hier einst der Zahn der Zeit nagte, so weitet sich der Blick der Schatzsucher. Und auf einmal rรผcken die lรคndlichen Rรคume ins Blickfeld, wo genauso beeindruckende Kleinode nun oft schon seit 20 Jahren leerstehen und den Atem der Vergangenheit verstrรถmen.

Oder gleich mehrerer Vergangenheiten.

Und so haben sich Arno Specht und Uwe Schimunek โ€“ unterstรผtzt von drei geรผbten FotografInnen โ€“ auf den Weg gemacht, auch in Sachsen solche Orte zu finden, die nicht einfach nur durch ihren morbiden Charme beeindrucken, sondern richtige Landes- und Lebensgeschichten zu erzรคhlen haben. Zwei davon tatsรคchlich auch in den GroรŸstรคdten โ€“ beide kurz vorm Vergessenwerden und Verschwinden. So wie der Leipziger Bahnhof in Dresden, der รคlteste noch existierende Bahnhof in Sachsen, 1839 erbaut als Endstation der ersten Ferneisenbahn Deutschlands und seitdem mehrfach umgenutzt und 2005 endgรผltig aufgegeben. Und wie das mit solchen geschichtstrรคchtigen Orten ist: Auch Zรคune und Schilde nรผtzen nicht viel โ€“ die Vandalen kommen und das Wetter schlรคgt zu. Und dann vergehen die scheinbar so robust gebauten Hรคuser genauso wie die Menschen.

Bรผcher รผber diese verlorenen Orte sind immer Bรผcher รผber Vergรคnglichkeit. Sie zeigen ohne viel Aufhebens, wie vergรคnglich menschliches Streben ist, wie schnell sich selbst die heroischen Visionen einer auf Ewigkeit gedachten Gesellschaft beginnen selbst zu zerlegen.

Etwa die beiden Wismut-Orte Kulturpalast Rabenstein in Chemnitz, einst der Traum einer Kulturstadt fรผr die Wismut-Bergleute, und das Wismut-Nachtsanatorium in Bad Schlema, wo die Bergleute sich mal ausschlafen und Kultur genieรŸen konnten, bevor es wieder in den Schacht ging, um das Uran fรผr das sowjetische Atomwaffenprogramm aus dem Berg zu holen. Andere Orte waren mal der robuste Bestandteil einer Wirtschaft, die ihre Blรผte um 1900 hatte, als Sachsen einer der beiden wichtigsten Industriestandorte Deutschlands war. Da war im Bahnbetriebswerk Eilenburg Hochbetrieb und die heute so grรผnbemooste Halle garantiert von Lรคrm und RuรŸ und Dampf erfรผllt. Heute: Stille. Die Bahn braucht die alte Halle nicht mehr. Und Moos verwandelt den Boden langsam in den Grund eines beginnenden Urwalds.

Ideen fรผr Neunutzungen platzen. Aber die Reise durch 14 solcher โ€žGeisterorteโ€œ in Sachsen zeigt auch, wie sehr den Autoren und Fotografen bewusst ist, dass morgen schon die Baufirmen kommen und die Spuren der zuweilen beklemmenden Vergangenheit tilgen. Etwa im Spezialkinderheim โ€žMartin Andersen Nexรถโ€œ in Brรคunsdorf, wo die DDR die unangepassten Kinder unterbrachte โ€“ organisiert wie ein Gefรคngnis und fรผr viele der einstigen Bewohner bis heute ein Trauma. Wofรผr das Haus mit seiner รผber Jahre alten Geschichte nichts kann. Aber die DDR hat die Zรผchtigung und Korrektion ihrer Bรผrger nicht erfunden, sondern liebend gern die Strafsysteme der vorhergegangenen Gesellschaften รผbernommen. Was all jene, die die alten Zuchthรคuser in Mahnstรคtten verwandelt haben, nur zu gut wissen.

ร„hnlich ist es mit der Heilstรคtte Carolagrรผn bei Auerbach im Vogtland โ€“ auf den ersten Blick idyllisch im Grรผnen gelegen, ein Schmuckstรผck der Grรผnderzeit wie fast alle im Band vertretenen Gebรคude โ€“ aber stellvertretend fรผr die DDR-Praxis, Menschen mit psychischen Problemen wegzusperren und aus dem gesellschaftlichen Leben zu entfernen. Diese hatten wohl wenig MuรŸe, die Schรถnheiten der Gebรคude zu genieรŸen. Vor allem auch, weil die heute sperrangelweit offen stehenden Zimmertรผren so wohl nicht der Alltag waren.

Die Fotografen sehen ja nur eine verlassene Bรผhne. Verlassene Werkhallen wie in den Lederwerken Coswig oder den Halbmond-Teppichen in Oelsnitz, einer Fabrik, die einst auch die Regierungsprotzbauten in Berlin mit orientalischen Teppichen versorgte. Orient-Feeling mitten im Osten. In kleiner Form wird das heute noch fortgefรผhrt โ€“ aber auch die Zeit der riesigen Fabriken, die einst die Industrielandschaft der DDR ausmachten, ist sichtlich vorbei. รœbrig bleiben die Hรผllen, gebaut in den Grรผnderjahren, als Sachsen zur Werkstatt des Reiches wurde. So wie die Druckmaschinen-Fabrik Swiderski in Plagwitz, die von auรŸen wie ein stolzes, rotgeklinkertes Relikt vergangener Aufbruchzeiten wirkt, inwendig aber zum Lebensraum von allerlei lichtscheuen Geschรถpfen (menschlichen zumeist) geworden ist.

Im Grunde schweben alle im Buch vertretenen Gebรคude in diesem Zwischenreich aus einstiger GrรถรŸe, stillem Verfall, tropfendem neuen Leben und der Ahnung, dass davon bald nichts mehr zu sehen sein wird. Fotos und Texte ergรคnzen sich. Und wo die Fotos ihre versonnene Sprache sprechen, lassen auch Arno Specht und Uwe Schimunek die Emotionen nicht auรŸen vor. Etliche dieser โ€žGeisterstรคttenโ€œ sind bislang nicht in den diversen Bildbรคnden zu den Baurelikten der hingeschiedenen DDR aufgetaucht. Wurden โ€žvergessenโ€œ, weil es eben eine Fรผlle solcher Gebรคude gab, die meist auch leichter erreichbar waren oder lรคngst einen zentralen Platz im รผberregionalen Gedรคchtnis hatten. Nun werden auch die Landschaften abseits der berรผhmten Pfade erkundet. Orte, in denen einst das Leben wimmelte, zu denen rappelvolle Werkszรผge und Busse fuhren.

Jetzt erinnern sie daran, dass Menschen eigentlich das Unverรคnderliche nicht aushalten. Und dass sie sich mit offenen Augen wundern kรถnnen รผber solche scheinbar von alten Geistern bewohnte Orte โ€“ darรผber, dass es sie รผberhaupt gibt. Alles flieรŸt. Und wo der stete Tropfen nicht arbeitet, sind es die Wurzeln junger Bรคume, die aus menschlichen Orten neue Urwรคlder machen. Und da man die geschilderten Orte in der Regel nicht besuchen kann, weil sie fรผr den zufรคlligen Wanderer verschlossen sind, ist dieser Band natรผrlich eine Augenwanderung fรผr alle, die solche Geschichten mรถgen. Geschichten, die anschaulich zeigen, dass alles in dieser Welt Verรคnderung ist โ€ฆ auch das, was der Mensch in Ruhe lรคsst.

Arno Specht, Uwe Schimunek Geisterstรคtten Sachsen, Jaron Verlag, Berlin 2018, 12,95.

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Warum so eilig oder Wie wird man wieder Herr seiner Zeit?

 

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