Die drei so trรผbe dreinblickenden Herren in der U-Bahn kennen viele Liebhaber der exzellenten Doku-Fotografie schon aus Bildbรคnden, die im Leipziger Lehmstedt Verlag erschienen. Dort hat der Berliner Fotograf Harald Hauswald lรคngst seinen verdienten Platz gefunden mit seinen eindrucksvollen Berlin-Fotografien der spรคten DDR-Zeit. Und viele von ihnen erschienen schon 1987 in diesem hรถchst subversiven Buch, das er gemeinsam mit dem Dichter Lutz Rathenow gemacht hat.
Oder umgekehrt. Denn Rathenow war der groรe Netzwerker, der die nรถtigen Kontakte in den Westen besaร, in den ihn die Funktionstrรคger Ostberlins nur zu gern ausgebรผrgert hรคtten โ so wie Wolf Biermann 1976. Aber das wollte er nicht. Blieb da und รคrgerte die Zensoren und Verwalter, indem er alle Register zog, die einem DDR-Bรผrger zustanden, die Amtshierarchie zu nerven. Mehr als nerven war ja meist nicht mรถglich. Die DDR-Bรผrokratie zwang geradezu zur Eulenspiegelei. Alles wurde reglementiert โ Arbeitsort, Wohnort, Warenproduktion, Stรคdtebau.
Das Schlimmste an der DDR war die Hybris ihrer Funktionรคre, die glaubten, alles in ihrem Mini-Reich regeln, organisieren und bestimmen zu kรถnnen. Der irrste Glaube, dem ein Parteiapparat je anhing. Am Ende waren sie sprachlos und versuchten einen Dialog, zu dem sie 40 Jahre lang unfรคhig gewesen waren.
Denn Rathenow war einer der gar nicht wenigen, die diesen Dialog suchten. Engagierte Literatur will nichts anderes. Und kluge Regierungen nehmen so einen Dialog an.
Ich sag jetzt nicht, dass kluge Regierungen allzu hรคufig sind.
Aber Diktatoren fรผhlen sich von solchen Angeboten immer gereizt und angegriffen. Denn โdas Volkโ hat bei ihnen nicht mitzureden. Melden darf es sich, wenn es gefragt wird. Aber dann bitte mit vorab abgesegnetem Text. Deswegen kam es in der DDR immer zu Missverstรคndnissen, die keine waren, fassten die Kรผnstler (und nicht nur die) immer wieder Hoffnung, wenn der oberste Parteisekretรคr andeutete, die hohe Parteiriege wรผrde jetzt wieder mehr Freirรคume zulassen. Worauf Verlage, Schriftsteller, Filmemacher, Maler meist mit mutigen Experimenten reagierten, die ebenso regelmรครig verdammt, verboten und bestraft wurden.
Von den Verurteilungen Erich Loests und Walter Jankas in den 1950er Jahren รผber das berรผchtigte XI. Plenum der SED 1965 bis zur Ausbรผrgerung von Wolf Biermann reicht eine einzige logische Linie. Jedes Mal ging es darum, die Mutigsten zu bestrafen und die anderen wieder zum braven Angepasstsein zu bringen und einzuschรผchtern.
Doch nach der KSZE-Konferenz von Helsinki, unter deren Schlussprotokoll auch Erich Honecker seinen Erich setze, ging vieles nicht mehr so, wie es die Altstalinisten einst in Moskau gelernt hatten. Die Ausbรผrgerung Wolf Biermanns war der letzte Versuch, mit neuen Methoden einen Unbequemen zum Schweigen zu bringen.
Was hat das mit diesem Buch zu tun? Eine Menge. Denn viele beliebte Schriftsteller, Dichter, Sรคnger, Schauspieler gaben nach dieser Provokation auf. Gerade die Biermann-Affรคre zeigt, wie viel Hoffnung gerade die Sensiblen und Mutigen in der DDR in Honeckers Teilnahme an der Helsinki-Konferenz gesetzt hatten. Das Foto, wie er die Schlussakte unterzeichnete, machte Eindruck. Wenn er die dort verzeichneten Versprechen auf die Gewรคhrung normaler Menschenrechte ernst nahm, dann musste die DDR sich jetzt รถffnen und verรคndern.
Als aber die Betonkรถpfe 1976 doch wieder mit Verboten, Ignoranz und Druck reagierten, begann die Ausreisewelle in den Westen. Nicht erst im Sommer 1989. Ab 1976 ging das los. Und der Staatsapparat nutzte das, auch viele von denen ausreisen zu lassen, die ihn nervten. Rathenow hรคtten sie genauso gern drauรen gehabt wie Hauswald.
Doch beide blieben da, wollten sich durch die Ausbรผrgerung nicht mundtot machen lassen. Auch wenn sie es im Osten eigentlich waren. Rathenow hatte keine offiziellen Verรถffentlichungsmรถglichkeiten โ erst ganz am Ende bekam er die Zusage auf einen Gedichtband. Also verรถffentlichte er seine Gedichte in Westverlagen. Auch zu Piper in Mรผnchen hatte er Kontakte aufgebaut und plante fรผr 1986 einen Berlin-Band. Einen anderen Berlin-Band. Denn der 750. Geburtstag Berlins wurde ja damals in beiden Hรคlften der Stadt gefeiert.
Im Osten wurde er schon Jahre vorher vorbereitet und sollte ein triumphales Fest der sozialistischen Errungenschaften werden. Da erschienen auch etliche Prachtbildbรคnde und jubilierenden Broschรผren.
Ich weiร nicht, ob รผberhaupt eine Bibliothek den ganzen Kram aufbewahrt hat. Denn solche potemkinschen Mรคrchen รผber die Wirklichkeit haben selten Bestand. Was aber bleibt, das sind die kรผnstlerisch hochwertigen Einblicke in eine Wirklichkeit, die noch heute frappiert. Ilko-Sascha Kowalczuk geht in seinem Buchbeitrag โEin Buch und seine Geschichtenโ umfassend auf diese Vorgeschichte des Buches ein, in dem zwei Auรenseiter sich zusammenfanden, die sich von nichts und niemand einschรผchtern lassen wollten.
Die Bildbรคnde im Lehmstedt-Verlag haben ja schon gezeigt, wie intensiv Hauswalds Blick auf das Ostberlin der 1980er Jahre war โ unbeeindruckt zeigte er die kaputten, mรผden, trostlosen Rรผckseiten der ruhmreichen grรถรten DDR aller Zeiten. Aber eben nicht nur das. Denn um das Bloรstellen ging es ihm nie โ auch wenn ihm das die panischen Funktionรคre unterstellten. Er zeigt die Berliner in ihrem richtigen Leben: beim Warten in Schlangen vorm Fleischer, beim Spielen in vermรผllten Hinterhรถfen, beim Sonnenbad an der trostlosen Ecke, beim Kohlenschleppen und Kรผssen auf der Treppe zur U-Bahn. Jenes richtige, weil scheinbar vรถllig unaufgeregte Leben abseits der Aufmรคrsche und Jubelorgien. Auch wenn Hauswald auch einige der schรถnsten Bilder รผber diese deprimierenden Aufmรคrsche gelangen.
Er lebte da. Der Prenzlauer Berg war damals schon das Sehnsuchtsziel aller jungen DDR-Bewohner, die so etwas wie Anarchie und Freiheit erleben wollten. Wohl wissend, dass man in Berlin trotzdem den รberwachern nicht entkam. Nur war man im Prenzlauer Berg nicht allein, sondern fand Anschluss an die unterschiedlichsten Gruppen von Aussteigern. Und man fand, wenn man sich langsam einรผbte in diesen Kosmos, auch die alte Bruchbude zum Wohnen, die man sich zu einem Lebensraum ganz nach eigenem Gusto umgestalten konnte.
Die Bilder Hauswalds sprechen fรผr sich. Und das Besondere an diesem Buch, das im Grunde die sechste Variante des 1987 erschienenen โOstberlin โ Die andere Seite einer Stadtโ ist, ist die Tatsache, dass der Jaron-Verlag erstmals einen groรen Bildband daraus gemacht hat. Schon vorher erlebte der Band immer wieder Anpassungen an die Zeit โ 1990 etwa, als erstmals auch die Ostdeutschen die Chance hatten, dieses โKultbuchโ im Laden zu kaufen und darin jene DDR-Wirklichkeit wiederfanden, die sie in den Ost-Bildbรคnden vorher nie zu sehen bekamen.
Das Buch erreichte die Herzen seiner Leser. Auch durch die Texte Lutz Rathenow, der mit viel Einfรผhlungsvermรถgen seine Ankunft in diesem scheinbar ruppigen und trostlosen Ostberlin schildert, sein langsames Heimischwerden und sein Zuhausesein in dieser neuen Welt der Rastlosen, Unangepassten und Rebellischen. Man muss sich immer wieder vergewissern, dass der Text 1986 geschrieben wurde, so viel ruhige Distanz steckt darin. Keine Anklage, kein Wehgeschrei, nicht mal Wehmut. Nur die intensiv beobachtete Wirklichkeit eines Klein-Kosmos, dessen Vergรคnglichkeit genauso unรผbersehbar war wie seine herausfordernde Unmรถglichkeit.
Der Text schien einigen Herausgebern in spรคteren Jahren so zeitgebunden, dass er meist nur gekรผrzt erschien. Aber die Zeiten รคndern sich. Und mit ihnen unsere Sicht auf das Vergangene. Und so wie die Fotos der begnadeten Fotografen des Ostens inzwischen groรe Aufmerksamkeit bekommen, weil sie โ auf ihre Weise โ die DDR zeigen, wie sie wirklich war, so entpuppt auch dieser Text seine Qualitรคten, auch wenn er nicht nacherzรคhlt, was die Fotos sowieso zeigen. Da staunt auch Ilko-Sascha Kowalczuk und stellt am Ende eine Frage, die man sich eigentlich gar nicht stellt: Ist das Buch nun Rathenows Liebeserklรคrung an Ostberlin?
Eigentlich ist es das Gegenteil. Denn Rathenow schildert eigentlich lauter fatale, nicht auszuhaltende Zustรคnde. Aber vor allem erzรคhlt er von den Menschen, die er erlebte, und wie sie damit umgingen โ wie sie sich ihre Wรผrde, ihre Zuversicht und ihre Schnodderigkeit bewahrten, obwohl die Zustรคnde so deprimierend erschienen. Und er schildert eine Welt, die seitdem verschwunden ist, die aber irgendwo doch noch in den Kรถpfen steckt. Auch wenn Kowalczuk zu Recht bemerkt, dass es eigentlich unvorstellbar ist, dass wir so einmal gelebt haben.
Aber wir haben so gelebt.
Und nicht jeder ist damit so rebellisch und kritisch umgegangen wie Rathenow und Hauswald. Und das heiรt nun einmal auch: Das sind unsere Gespenster. Da schaut uns unsere Vergangenheit an โ gelebtes und nicht gelebtes Leben. Und nicht jeder hat diese Rathenowsche Zuversicht, wenn der leere Straรenbahnwagen auf einmal irgendwo im Dunkeln stehen bleibt: Auszusteigen und froh zu sein, dass es egal ist, welchen Weg man jetzt wรคhlt. โIch steige aus, ein wenig enttรคuscht, dass sich die Tรผren ohne Weiteres รถffnen lassen. Abstellgleis? Wendeschleife? Ein unbekanntes Land, in das ich versehentlich gelangte?โ
Klingt irgendwie sehr gegenwรคrtig. Hรถchste Zeit also, dass der ungekรผrzte Text zu den Fotos steht und beide sich auf eindrucksvolle Art wieder ergรคnzen.
Harald Hauswald; Lutz Rathenow Ost-Berlin, Jaron Verlag, Berlin 2017, 20 Euro.
Harald Hauswalds Blick auf das Ostberlin der 1980er Jahre
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