Gülden liegt es da, als wäre das neue „Poesiealbum neu“ ein Schatz, den es zu finden gilt. Dabei ist es ein Schatz. Ein richtiger. Nicht der alptraumhafte der Nibelungen, nicht das Metall der Gier, das ganze Völker verrückt und zu Bestien macht. Und irgendwann kommt man beim Durchstreifen dieser über 80 versammelten Gedichte natürlich auf so einen Gedanken wie den: Kann es sein, dass Dichter mehr wissen über unser Menschsein?
Mehr als all die Heilspropheten, Religionslehrer, Wirtschaftsexperten und Sozialpolitiker? So viel, dass man sogar stutzt, wenn am Ende eher beiläufig auch mal Gott erwähnt wird. Als bräuchte es ihn nicht. Als sei zu einem erfüllten Leben kein Außerirdischer nötig, nur die Aufmerksamkeit, die wir uns selbst und der Welt widmen, in der wir leben.
Fast vermisst man Walter von der Vogelweide und Heinrich von Morungen in diesem Band. Denn über das Glück machten sich Dichter schon seit Vorzeiten Gedanken. Wissend, dass es ein ganz besonderer Zustand ist, den man sich nicht kaufen kann, so flüchtig, dass man meist gar nicht merkt, dass man glücklich ist. Und wenn man es merkt, ist es meistens schon vorbei.
Oder es ist etwas anderes als das, was wir greifen können. Und dennoch weiß jeder, was gemeint ist. Und strebt danach. Wissend, dass es nicht zu erhaschen ist. Ja, was denn nun? Hat der Herausgeber mit diesem Thema danebengegriffen? Nicht wirklich. Wieder einmal erweist sich die Themenwahl als punktgenau. Dichter wissen, dass man Themen nicht erzwingen kann – anders als die ganzen Narren, die in Deutschland Wettbewerbe für Journalisten ausschreiben, bei denen jeder emsige Journalist sich an den Kopf fasst: Sind diese Leute dumm? Zumindest sind sie eitel, weil sie immer gern ihr piefiges Unternehmen, ihr eh schon gesponsertes Wirkungsfeld und ihre kleinkarierte Sicht auf die Welt bejubelt sehen möchten. Deswegen kommt in diesen Wettbewerben viel Kleinkariertes, aber nichts Gescheites heraus.
Denn richtige Wettbewerbe müssen groß sein, das Größtmögliche wünschen und alle Teilnehmer zum großen Atem ermuntern. So, wie es die Lyrikgesellschaft seit 2005 tut, wenn sie zu thematischen Gedichtwettbewerben aufruft. Dann geht es wie ein Knistern durchs Land, denn erstaunlich viele Menschen im Land schreiben Gedichte. Richtige Gedichte und solche zum Wegwerfen. Rund um die Lyrikgesellschaft sammeln sich immer mehr all jene, die das Dichten wirklich ernst meinen. Und die auch verstanden haben, was Ralph Grüneberger in seinem Interview in diesem Heft zum Gedicht als solchem sagt: „Die allererste und wichtigste Funktion ist meiner Meinung nach, dass sie dem Autor etwas gibt, den Autor bereichert – ehe sie andere bereichern kann.“
Der Leipziger Dichter, der seit 2005 diese Heftreihe betreut, weiß, wovon er redet. Auch wenn er nicht ganz erklären kann, warum so wenige Menschen lesen und warum noch weniger Gedichte lesen. Dafür viele welche schreiben. Weil das nämlich möglicherweise genau die Erklärung ist. Denn Gedichte haben etwas mit Nachdenken zu tun, mit dem intensiven Formulieren von Gesehenem, Erlebtem, Gedachtem, Gefühltem. Die kleine Form zwingt zur Konzentration, zum Genausein. Wer im Gedicht ungenau ist, wird ertappt. Man merkt es beim Lesen, wenn hier einer künstelt und eigentlich nicht weiß, was er sagt, nicht wirklich drüber nachgedacht hat.
Deswegen gibt es nämlich so viele Unterwegs-Gedichte, Gedichte direkt aus der Begegnung mit der Natur, den Elementen, dem Kosmos, Gedichte, die den Sprecher oder die Sprecherin in Beziehung setzen zu allem, zum ganzen verrückten, beängstigenden, herrlichen Welt-All.
Und deswegen überrascht es nicht, dass auch im jüngst eher der Wissenschaft gewidmeten Poesiealbum-Heft „Resonanzen“ auch kein Gott vorkam. Er stört nur. Denn in Gedichten geht es immer um die direkte, unvermittelte Beziehung zum Sein. Sie werden erst richtig und lebendig, wenn einer wirklich sein Eigenes berührt, das, was es zu entdecken gilt, wenn einer sich vor sein großes weißes Blatt Papier setzt und „Glück“ darauf schreibt.
Dazu muss man allein sein. Das kann man nicht am Stammtisch ausdiskutieren und auch nicht bei der Familienfeier – da kommen nur Plattitüden bei raus.
Dichter sind den Wissenschaftlern viel näher als eigentlich alle anderen Künstler. Nur dass sie keine Thesen aufstellen und keine Experimente durchführen. Aber sie rühren an den menschlichen Wunsch, sich und seine Welt zu begreifen. Zu fassen. Und es sind ein paar starke Bilder in diesem Heft, mit denen die Autorinnen und Autoren nicht ihr Glück gefasst haben, aber ihre Beziehung zum Glück. Dichter sind intensive Beziehungskünstler. Denn was so kurz daherkommt, ist meist das Ergebnis von Stunden oder Tagen intensiver Suche – nach dem richtigen Wort, dem richtigen Satz, dem richtigen Klang. Wissend, dass man beim Schreiben nicht unbedingt glücklich ist – aber hinterher, wenn man die Sache tatsächlich genau auf den Punkt gebracht hat.
Deswegen sind gute Gedichte unsterblich: Weil dieser Ton auch die Leser erreicht. Auch Jahrhunderte später noch. Und weil in diesem Heft über 80 Dichterinnen und Dichter am Werk sind, merkt man, wie viele Beziehungen zum Leben in unserem Glück stecken. Oder unseren Glücken. Denn uns ist die Gabe gegeben, vielerlei Glück wahrzunehmen. Wofür ja bekanntlich bekannte Botenstoffe mit den Namen Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Endorphine, Oxytocin und Phenethylamin verantwortlich sind. Sie werden ausgeschüttet, wenn unser Gehirn die Botschaft bekommt, dass uns etwas aufregend Schönes passiert ist.
Ich möchte mal wetten: Zehn von den Autoren und Autorinnen dieses Bandes sind vor Freude um ihren Schreibtisch gehüpft, als das Gedicht fertig war, 30 sind jubelnd aufgesprungen, als ihnen die Lyrikgesellschaft mitteilte, dass ihr Gedicht in den güldenen Band aufgenommen wird. Und alle hatten beim Schreiben irgendwann so ein Ja-Gefühl: „Ja, das ist es!“
Was zumindest aufmerksame Autoren kennen, die sich selbst kritisch und neugierig über die Schulter schauen, weil man ja vorher nie weiß, was am Ende dabei rauskommt.
Die Verbrauchsdichter schreiben immer nur auf, was eh schon alle tausendmal gedacht und gesagt haben.
Die richtigen Dichter riskieren die Überraschung – und wissen auch, dass es in glücklichen Stunden immer eine Überraschung gibt, dass sie über sich selbst etwas erfahren, was sie vorher nicht wussten. Gedichte sind – wenn sie gut sind – immer eine überraschende Begegnung mit sich selbst: „Oha, das hätte ich jetzt aber nicht gedacht!“ Also ein ganz menschliches „Heureka!“. Da darf kein verschwitzer römischer Soldat im Weg stehen, das muss zu Papier.
Und wenn es richtig gut ist, haben auch die Leser beim Lesen lauter kleine Heureka-Momente.
Deswegen verblüfft es vielleicht nicht, dass so wenige Menschen Gedichte lesen.
Die meisten Menschen sind leider nicht neugierig. Nicht einmal auf sich selbst. Deswegen lenken sie sich lieber ab, sobald es geht. Nur ja nicht nachdenken über das alles. Über das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Oder über das Glück. Und über das, was wir hinterher als Glück empfinden. Denn wenn wir mittendrin stecken im Glück, sind wir meistens viel zu beschäftigt. Oder abgelenkt. Nicht ahnend, dass in diesen Momenten unsere eigene ganz besondere Beziehung zum Leben steckt. Gerade weil sich hier so viele Gedanken darüber machen, merkt man, wie sehr gerade das Glücklichsein von uns erzählt, von uns als ganz spezieller Person.
Und Sie ahnen es: Haus, Auto, Boot tauchen nur am Rande als Persiflage auf. Man kann nicht mal mehr Witze darüber reißen, was für dumme und leere Ziele sich so viele Menschen im Leben setzen und dabei zu Zombies werden.
Statt sich auf das einzulassen, was schon die alten Griechen begriffen haben: die intensive Freude am Lebendigsein, die man in vielen dieser Gedichte als reines Glücksgefühl miterleben kann. Wir brauchen nicht wirklich viel als Mensch, um glücklich zu sein. Und das meiste hat mit Aufmerksamkeit, Neugier und Gelassenheit zu tun. So gesehen: Eigentlich das richtige Heft zur Zeit, auch wenn sich angefragte Sponsoren wieder verweigerten, etwas für die Druckkosten zu spenden. Siehe oben: Es sind die eingeengten Narreteien der Spender, die man gern gepriesen sehen will. Man liest ja in diesen Entscheidungsetagen keine Gedichte. Und das Glück beziffert man dort in Euro.
Nein, nicht die Dichter liegen falsch. Aber es geht ihnen wie so oft: Die, die ihre Medizin am dringendsten brauchen, die hören nicht zu.
Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik (Hrsg) „Poesiealbum neu, Vom Glück“, Edition kunst & dichtung, Leipzig 2018, 6,50 Euro.
Zuhör-Tipp:
Die Lyrikgesellschaft feiert die Heft-Premiere zur Buchmesse: „Von Glück und Glücksklee“. – Gedichte zu den Themen Glück und Pflanzen, von Ralph Grüneberger, dem Herausgeber der Zeitschrift „Poesiealbum neu“ zusammengestellt, sind am Samstag, 17. März, um 18 Uhr im Gohliser Schlösschen (Menckestr. 23) zu hören.
Vergeben wird an dem Abend auch zum 2. Mal der „Poesiealbum neu-Preis“ für das beste Gedicht des Jahrgangs 2017. Der Eintritt ist frei.
Ein ganzes Poesiealbum für Liebhaber von Wald, Wiese und Sauerampfer
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