Für FreikäuferSchon im Programm des Einbuch Verlages fielen diese Bücher auf, weil sie authentisch aus dem Leben (junger) Menschen erzählen. Dem richtigen Leben, dem, in dem es Mobbing gibt, Alkoholismus, überforderte Eltern, Stress, Armut, ADHS oder – wie in Friederike Wendtlands Buch: Magersucht, Drogen und Selbstverletzung. Das Besondere: Die jungen Autorinnen erzählen selbst über ihr Leben.
Und dazu gehört jede Menge Mut. Nicht nur für den Schritt an die Öffentlichkeit, sondern vor allem dafür, sich den eigenen Dämonen zu stellen. Und das sind keine jagdbaren TV- oder Kinofilm-Dämonen. Diese Dämonen wohnen in uns. Sie sind die Ängste, Nöte, Zwänge, die uns zu Handlungen treiben, die uns nicht guttun. Unsere Gesellschaft ist voll davon. Denn viele dieser Nöte korrespondieren mit den falschen Vor-Bildern einer Gesellschaft, in der es eigentlich nicht um den Menschen geht, sondern um das Verkaufen, falsche Schönheitsideale und etwas noch viel Schlimmeres, was trotzdem immer wieder lobhudelnde Texte in großen Medien bekommt: die „Perfektionierung“ des menschlichen Körpers. Vor allem des weiblichen.
Und natürlich sind Kinder und Jugendliche dafür anfällig. Gerade dann, wenn sie mit ihrem Gefühlsleben sowieso im Umbruch sind. Jeder weiß, was für ein Chaos diese Zeit ist, in der der Kopf voller Träume, Befürchtungen und Zweifel ist. In der man eigentlich mehr Halt und Zuspruch braucht und gleichzeitig um mehr Distanz und Souveränität kämpft. Da reicht manchmal eine falsche Anregung, ein kleiner Schritt in die falsche Richtung, und man gerät in ein Drama, wie es Friederike Wendtlandt hier erzählt. Sie nennt ihre Protagonistin Emma – auch wenn das Buch trotzdem autobiografisch ist. Und dass es die heute 22-Jährige schreiben kann hat damit zu tun, dass sie in der Zeit, als ihr das passierte, immer auch Tagebuch geschrieben hat.
So gelingt ihr etwas, was man in Büchern zu solchen Themen eher selten findet: eine unbarmherzige Innensicht verbunden mit den Erläuterungen der jungen Frau, die das alles überlebt hat und in Teilen auch einordnen kann. Auch wenn nicht alles erklärbar ist. Denn eigentlich hatte Emma eine gute und geborgene Kindheit, war gut in der Schule und ihre Eltern bemühten sich, ein ordentliches Familienleben zu meistern. Dass das so heil nicht war, erfährt der Leser auch. Aber eher auf die ratlose Art, so wie das bei vielen Paaren ist, wo die Frau versucht, ja jeden Streit zu vermeiden und die Harmonie in der Familie zu bewahren, und der Mann in seiner Strenge oft übers Ziel hinausschießt, weil er glaubt, sonst seine Rolle nicht auszufüllen.
Eine Situation, in der sich Heranwachsende oft überfordert und unverstanden fühlen, weil etwas Wichtiges fehlt. Nur ist Emma wirklich ein kluges Mädchen. Und erzählen kann sie auch. Und spätestens als sie ihren Vater weinend am Steuer des Autos zeigt, weil er den Absturz seiner Tochter nicht wirklich versteht und verkraftet und sich trotzdem schuldig daran fühlt, merkt man, dass so ein Drama immer das Drama aller Beteiligten ist. Eltern, denen es genauso geht, werden sich bestimmt manchmal wiedererkennen – auch wenn das nichts am Betroffensein ändert.
Denn Friederike alias Emma lässt nichts aus. Man merkt, dass sie wirklich wissen will, warum ausgerechnet ihr das passierte und wie das Thema Magersucht ausgerechnet sie in den Griff bekommen konnte, wo sie doch schon bei der ersten Begegnung mit dem Thema wusste, dass das eine Falle war, in die man nicht tappen darf. Und doch ist es ihr passiert, wird aus Neugier Abhängigkeit und ein rebellischer Geist muss verzweifelt zuschauen, wie er sich selbst immer mehr in der Denkfalle verfängt und das Körpergewicht und das (Nicht-)Essen auf einmal zum dominierenden Thema werden. Wie aus einem Ausprobieren tatsächlich eine Krankheit wird, die Emma die nächsten vier Jahre im Griff haben wird und sie immer weiter an den Rand der Selbstaufgabe bringt.
Das geht unter die Haut, weil man ihr zusehen kann dabei, wie sie kämpft und leidet und an den Niederlagen immer mehr verzweifelt. Irgendwann werden Besuche in der Notaufnahme und Klinikaufenthalte zum Normalzustand, schmilzt die Hoffnung, aus dem Kreislauf auszubrechen, immer mehr. Denn die Verzweiflung sitzt im Kopf. Und auch die vielen professionellen Helferinnen und Helfer, denen man begegnet, sind sichtlich oft genug entmutigt. Denn wenn sich Emmas Sehnsucht nach Kontrolle über ihr Leben und ihren Körper immer wieder mit Magersucht und Selbstverletzung koppeln, ist der Weg regelrecht mit Dornen gepflastert, aus diesen Zwängen herauszukommen und einen Weg zu einem anderen, nicht-verletzenden Selbstbild zu kommen.
Erst recht, weil Emma klug ist, ein Mädchen, das augenscheinlich problemlos ihr Leben meistert, Menschen beeindruckt, Hockey spielt. Und früh schon scheint es ihr zu gelingen, den Zwängen zu entkommen, wieder Tritt zu fassen – umso heftiger sind auch für den Leser die Rückfälle, die immer schmerzlicher werden. Auch immer finsterer. Das Buch ist nicht nur eine sensible Nacherzählung des Erlebten. Es ist auch gespickt mit Gedichten und Tagebucheinträgen, die von Emmas Stimmungslage erzählen, von ihrer Verzweiflung und Ausweglosigkeit, die sie in langen Phasen nur ihrem Tagebuch anvertraut. Da scheint niemand zu sein, dem sie sich wirklich anvertrauen kann. Aber das stimmt nicht ganz. Auch wenn es lange braucht, bis Emma zu den ersten Menschen, die sich die ganze Zeit um sie sorgen, Vertrauen aufbaut.
Ihre Eltern sind es nicht. Im Gegenteil. Gerade Emmas Suche nach einer richtigen Autonomie macht deutlich, dass ihre Eltern damit nicht wirklich umgehen können – und doch irgendwie froh sind, dass ausgerechnet ihre Tochter diesen Part übernimmt. Denn anders als sie hat Emma gelernt, über Kümmernisse, Wünsche und Hoffnungen zu sprechen. Also von sich. Und sie lernt auch, sich Hilfe zu holen, über den eigenen Schatten zu springen und nicht allein ins Loch der Verzweiflung zu stürzen. Auch wenn es lange dauert und man mit ihr heulen möchte, wenn sie wieder abrutscht, gar den Drogendealern am Görlitzer Park in die Fänge gerät. Auch das so eine Geschichte, wo man erst einmal innehält und sich fragt: Wie kommen denn eigentlich die anderen Kinder und Jugendlichen in diese Szene? Sind es bei ihnen nicht ganz ähnliche Ursachen und Nöte, die sie dort das Heil suchen lassen, wo es scheinbar schnell zu haben ist?
Nur so als Frage.
Ich schätze, jungen Menschen mit einer richtigen Drogensucht wird es noch viel schwerer fallen, so ihre Lebens- und Leidensgeschichte aufzuschreiben. Emma stürzt zwar tief – aber nie verliert sie diesen kritischen, aber auch hoffenden Blick auf sich selbst. Sie weiß die ganze Zeit, dass sie aus der Spirale heraus muss, und sie weiß auch, dass ihr viele Menschen geduldig dabei helfen.
Aber was dann wirklich der rettende Ausweg ist, das muss sich erst herauskristallisieren. So wie eigentlich jeder junge Mensch den Weg zur eigenen Autonomie finden muss – oft genug gegen falsche Erwartungen, falsche Forderungen und Leit-Bilder. Am Ende läuft das Mädchen Marathon – und hat gleichzeitig einen Marathon der Torturen hinter sich, bei dem sie oft genug am Aufgeben war. Und man wird das Gefühl nicht los, dass viele junge Menschen solche Kämpfe ausstehen müssen. Und zwar gerade die klugen und sensiblen, denen Autonomie in ihrem Leben besonders wichtig ist. Diese so schwer errungene Autonomie, die uns so nehmen lässt, wie wir sind – und trotzdem eigensinnig bleiben lässt. Gegen die meist unausgesprochenen Erwartungen der Menschen um uns. Denn oft ist das Unausgesprochene viel prägender und bedrückender als das, was wirklich geäußert wird. Auch wenn es in Emmas Fall wirklich Worte zu sein scheinen, die am Anfang stehen, Worte, die ihr Vater vielleicht nicht so gemeint hat – und die doch eine unheilvolle Kette in Gang setzten.
Eigentlich ist das Buch auch ein Appell an mehr Achtsamkeit in unserem Umgang miteinander. Und natürlich auch ein Versuch zu zeigen, wie leicht ein junger Mensch in diese gefährlichen Mühlen gerät – und wie viel Ermutigung und Hilfe gebraucht wird, ihm beim Verlassen dieser Abgründe zu helfen. Und es ist eine Ermutigung, dass es trotzdem geht. Dass sich der dornenreiche Weg lohnt, eine andere, weil lebendige Autonomie zu gewinnen und das eigene Leben dann wirklich anzupacken mit beiden Händen. Darum geht es ja eigentlich.
Aber man ist ja seitenweise mit dabei, mitten in der Verzweiflung und dem Verlorensein. Das ist intensiv erzählt, für Distanz ist da kein Platz. Aber gerade deshalb berührt es auch. Und macht die Heldin selbst in ihren traurigsten Phasen vertraut. Man versteht sie nur zu gut und möchte am liebsten selber mithelfen, sie aus dem Schlamassel zu holen. Aber sie schafft es wirklich allein. Sonst hätte sie sich ja nicht hinsetzen können und sich noch einmal mit all ihren Tagebüchern konfrontiert und daraus nun diese Lebensgeschichte gemacht. Diese Lebensanfangsgeschichte. Denn wenn man den ersten Schritt getan hat, geht es ja erst los. Man weiß, dass man startet – aber man weiß nicht, wohin man dann gelangt. So ist das Leben.
Friederike Wendlandt Leben auf Umwegen, EINBUCH Verlag, Leipzig 2018, 15,90 Euro.
Majas langer und tränenreicher Weg aus dem Missbrauchs-Trauma zu einem neuen, lebendigen Ich
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