Für FreikäuferAm Ende blättert man noch einmal vor und liest den Untertitel des Buches: „Brecht-Stücke im Spiegel der Leipziger Presse“. Die Leipziger Presse zwischen 1923 und 1932, als Leipzig mehrere aufmerksamkeiterregende Brecht-Uraufführungen und -Inszenierungen erlebte, war noch breit gefächert. Drei, vier große Tageszeitungen kann Peter Uhrbach immer wieder rundum zitieren, wenn es darum geht, die Resonanz der Brecht-Stücke in der damaligen Kritik sichtbar zu machen.
Man begegnet alten Bekannten, die mit eigenen Bänden schon im Lehmstedt Verlag vertreten sind – dem unvergleichlichen Hans Natonek, der für die „Neue Leipziger Zeitung“ (NLZ) das Feuilleton betreute und die Brecht-Stücke rezensierte, und Heinrich Wiegand, der für die damalige LVZ schrieb, die natürlich nicht im Peterssteinweg zu Hause war, sondern in der Tauchaer Straße, was ihm so schöne Sätze ermöglichte wie: „Nachdem die Presse vom Peterssteinweg in einer beispiellosen unsachlichen und verständnislosen Weise das Stück und den Generalmusikdirektor Brecher der kommunistischen Propaganda bezichtigt hat, soll heute in der Stadtverordnetensitzung ein Antrag auf sofortige Absetzung verhandelt werden.“
Die „Presse im Peterssteinweg“ waren die damaligen „Leipziger Neuesten Nachrichten“, die konservativste unter Leipzigs Tageszeitungen.
Und das Stück, dessen Absetzung die LNN unterstützte, war Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, uraufgeführt am 9. März 1930 im Neuen Theater am Augustusplatz, das auch damals schon das Leipziger Opernhaus war. Und „Mahagonny“ wurde ja selbst von Brecht und Weill als Oper bezeichnet. Was möglicherweise ihr Denkfehler war. Und was praktisch alle Kritiker so sahen – auch der linke Kritiker Wiegand und der liberale Kritiker Natonek. Sie hatten ja den direkten Vergleich: Im Dezember 1928 wurde im Alten Theater (am heutigen Goerdelering) schon „Die Dreigroschenoper“ aufgeführt – aber von einem Schauspielensemble. Dieses Brecht/Weill-Stück wurde auch im damaligen Leipzig ein Erfolg, obwohl die Kritiker im gut zahlenden Publikum durchaus Verunsicherung sehen konnten. Die aufgefrischte Bettleroper des John Gay schien ja direkt von den ebenso anrüchigen Verhältnissen der Weimarer Republik zu erzählen.
Was aber selbst der Kritiker der LNN akzeptabel fand, weil künstlerisch bewältigt. Den Skandal gab es erst 1930. Eigentlich schon den zweiten. Den ersten hatte es schon 1923 gegeben mit dem zweiten in Leipzig erlebbaren Brecht-Stück, das erste – „Trommeln in der Nacht“ (1923) – war sogar ein respektabler Erfolg geworden. Da erwarteten auch die Kritiker etwas. Und waren dann vom „Baal“ enttäuscht. Das Publikum freilich reagierte empört und die Stadtverordnetenversammlung beriet tatsächlich über die Absetzung des Stückes. Ein Vorgang, den selbst OBM Karl Rothe verstörend fand. Aber der auch schon vorzeichnete, was sieben Jahre später passieren sollte.
Peter Uhrbach versucht sich jeder Wertung zu enthalten, erklärt auch zu Beginn des Buches recht ausführlich, warum er die Texte der Zeit für sich sprechen lassen möchte. Was durchaus ein gewinnbringender Ansatz sein würde, wenn man sich einen idealen Leser vorstellt, der alle drei (mit dem „Leipziger Tageblatt“ zeitweilig vier) Leipziger Tageszeitungen parallel gelesen hätte. Für Uhrbach ist es eine Art Rekonstruktion – ohne nachträgliche Wertung und Rahmensetzung, wie er betont: das, was die Leipziger damals über die Brecht-Inszenierungen tatsächlich erfuhren. Oder auch nicht.
Denn natürlich zeigen die in diesem Buch versammelten Kritiken auch, was die Zeitgenossen wohl nicht erfuhren. Es stand auch damals nicht alles in der Zeitung. Und schon gar nicht in den Leipziger Zeitungen. Gerade in der Uraufführung von „Mahagonny“ müssen Kritiker fast aller namhaften deutschen Zeitungen gesessen haben – allen voran die Berliner, die das Geschehen in Leipzig zunehmend aufmerksamer beobachteten, weil sich hier die Regisseure einiges trauten, was man sich sonst nur in Berlin traute. An den Leipziger Theatern wurde mutig inszeniert, was von jungen, experimentierfreudigen Autoren und Komponisten produziert wurde. Nicht nur Brecht und Krenek, die immer wieder genannt werden. Manche Brecht-Inszenierung wurde dann trotzdem zur Enttäuschung, weil die Kritiker mehr erwartet hatten. Man merkt schon, dass sie natürlich mit ihren Erfahrungen zum klassischen Theater an die neuen Stücke herangingen.
Dass Brecht ganz bewusst die alten Erzählformen zerstörte und das Publikum eben nicht „unterhalten“ und einlullen wollte, sondern zum Nachdenken bringen, das setzte sich auch bei den liberalen Kritikern erst so langsam als Betrachtungsweise durch. Das Wort „Verfremdungseffekt“, mit dem man Brechts Theaterschaffen heute ganz selbstverständlich in Beziehung setzt, fällt im ganzen Buch nicht ein einziges Mal.
So schafft Uhrbach eigentlich etwas völlig anderes, als er wollte: Er zeigt einen Lerneffekt. Er zeigt, wie die Kritiker lernten, mit neuen Inszenierungsmethoden umzugehen. Er sieht sie aber auch zuschauen, wie auch Bert Brecht noch lernt, das schmächtige Bürschlein, das 1923 ganz verstört vor den Vorgang tritt und nicht versteht, warum die eine Saalhälfte johlt und klatscht und die andere empört ist. Mit den Augen der Kritiker hat man ja zugesehen – und durchaus das Gefühl, dass die „Baal“-Inszenierung nicht wirklich gut war. „Baal“ ist schwer. Es ist ein Stück, das gern „versumpft“ und das gern als Niedergang des Künstlers interpretiert wird, weniger als Spiegelbild eines modernen Menschentypus, der auch das Leben nur konsumiert und die Frauen behandelt wie Wegwerfware.
Schwer tat sich die Kritik auch mit „Leben Eduards II.“ und „Mann ist Mann“ (beide 1928). Erwartungen und Gesehenes schienen nicht zusammenzupassen. Ist „Mann ist Mann“ tatsächlich nur ein Ulk über die Soldatwerdung eines unbescholtenen Menschen, der sich gegen die Einvernahme nicht wehren kann? Auch Regisseure mussten erst lernen, Brecht „verfremdet“ zu inszenieren, auch lustvoll und mit dem Blick für die unterlaufende Wirkung. Denn Brecht ist immer Hintersinn, er meint immer mehr als das, was zu sehen ist. Nicht die Handlung ist wichtig, sondern die Verwirrung des Zuschauers, der sich durchaus wiederfinden darf in diesen skurrilen Welten. Auch in „Mahagonny“, das augenscheinlich mit einer Opernbesetzung einfach nicht funktioniert. In Leipzig wurde das Stück in letzter Zeit immer als Schauspiel gegeben – gute Schauspieler können auch Weill-Songs singen. Aber gute Opernsänger haben selten das schauspielerische Repertoire guter Schauspieler.
Aber den Skandal gab es 1930 nicht, weil die Inszenierung schlecht war. Dieser Skandal war inszeniert. Und das deutet Uhrbach nur an, weil es auch die Kritiker nur andeuten und die LNN (die „Presse im Peterssteinweg“) sich den Skandal dann zu eigen machte und die Absetzung forderte – und zwar mit einem Vokabular, das man in den Kritiken der LNN in den Jahren zuvor so nicht gefunden hat. Man sieht also noch etwas: Einen auffällig schnellen Prozess, wie aus einer abwägenden Zeitungskritik, die die konservative Sichtweise nicht leugnete, auf einmal eine politische Polemik wird, die es nicht dulden will, dass so ein Stück überhaupt gezeigt werden darf.
Was Hans Natonek dann dazu bringt, einen ambitionierten Artikel über echte Skandale und Skandalinszenierungen zu schreiben. Denn so frustriert gerade konservative Blätter über „Mahagonny“ waren (das heute in der Rückschau so wirkt, als habe Brecht die „Goldenen Zwanziger“ mit böser Schärfe porträtiert und auf ihr Ende hin zugespitzt), der Skandal war ein inszenierter. Es waren – so ist es zumindest in den entsprechenden Lehmstedt-Bänden nachzulesen – NSDAP-Mitglieder, die schon von Anfang an in der Aufführung pfiffen und randalierten. Von einem Dutzend kann man lesen. Das kommt einem doch erstaunlich heutig vor, wo andere Leute auf diese Weise „Volkes“ Stimmung zum Ausdruck bringen. Wer die Trillerpfeife hat, ist das Volk, oder?
Oder es sind einfach die alten Methoden, die heute wieder zur Anwendung kommen.
Bis hin zu all dem Gerede, dass man ja ideologiefrei sei, aber diese „Linken“ – also in diesem Fall der Herr Brecht – die schöne hohe deutsche Kunst in den Dreck zögen. Wozu Uhrbach diesmal nicht nur die drei Leipziger Tageszeitungen zitiert, sondern auch einen der heftigsten Antisemiten in der damaligen Zeitungslandschaft, Alfred Heuß, den Chefredakteur der „Zeitschrift für Musik“, die unter Heuß „zu einem reaktionären und nationalistischen Organ“ wurde (Wikipedia). Musikalische Werke werden nicht mehr unparteiisch analysiert, sondern mit „Killerphrasen“ verbal vernichtet.
Wikipedia zitiert dazu Oliver Hilmes, der schon 2000 beschrieb, wie das funktioniert: „Der Geist, der die Artikel des Monatsblattes zunehmend prägt und besonders an den Rezensionen zeitgenössischer Werke abzulesen ist, beruht nicht auf differenzierter Analyse, sondern greift weitverbreitete Vorurteile auf. Sogenannte ‚killer-phrases‘ täuschen vor, die Ursachen komplex empfundener gesellschaftlicher Krisen zu erkennen und zu benennen; tatsächlich tragen die massensuggestiven wirkenden Scheinargumente jedoch zu einer dogmatischen Spaltung in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ bei und richten schließlich in verhängnisvoller Weise über die Existenzberechtigung von Werken und deren Schöpfern.“
Deswegen kommt einem der abgedruckte Text von Heuß so verflixt gegenwärtig vor: Genau das ist auch der Sprachstil der neuen Rechten.
Hat das freilich 1930 irgendein größeres Publikum überhaupt wahrgenommen? Die Frage steht im Raum. Aber die lesbare Verwandlung im Ton der LNN zeigt, dass auch die konservativen Zeitungen bereit waren, die neuen, brachialen Töne zu übernehmen. Und die Zensurmentalität der aufkommenden Nazis.
Die übrigens schon früh gegen das moderne Deutschland mobil machten. Auch bei „Baal“ 1923 waren schon „völkische“ Töne zu hören, Carl Zuckmayers „Der fröhliche Weinberg“ wurde 1925 nach „völkisch-nationalistischen“ Angriffen abgesetzt, 1930 geschah das auch mit „Im Namen des Volkes“ von Bernhard Blume.
Es ist eben doch nicht so einfach, die Zeitungstexte von damals einfach unkommentiert zu übernehmen und unser heutiges Wissen über das, was geschah, auszublenden. Auch wenn die Zeitgenossen dieser Brecht-Aufführungen nicht wussten, was wir wissen. Aber sie wussten in der Regel, wer da randalierte und skandalisierte. Und sie waren vor allem Teil einer zunehmend sich radikalisierenden Gesellschaft, in der vor allem die aufkommenden Nationalsozialisten die Radikalisierung vorantrieben – und zwar vor dem Hintergrund von „Dolchstoßlegende“, „Kriegsschuldlüge“ und Versailler Vertrag, auf die Uhrbach im Vorspann eingeht, um ein bisschen die emotionale Gemengelage der Weimarer Republik zu zeichnen.
Die Leipziger gingen trotzdem ins Theater. Und zwar nicht nur die gut betuchten Bürger, von denen die LNN behauptete, sie würden mit ihrem Geld die Kulturinstitutionen erst ermöglichen. Worauf Wiegandt der „Presse im Peterssteinweg“ erst einmal erklärt, dass gerade die hunderttausenden Arbeiter mit ihren Steuergroschen diese Kultur mitfinanzierten.
Und vor allem: Die gingen auch ins Theater. Und augenscheinlich mit mehr Neugier als die empörten Bürger. Denn „Baal“ lief genauso wie „Mahagonny“ nach der Absetzung noch in eigenen Vorstellungen für das Arbeiterbildungsinstitut (ABI).
1933 sind dann, wie Uhrbach feststellt, auch die „Leipziger Nationalsozialisten am Ziel“ mit ihrem ganzen Phrasengewäsch vom „heroischen Theater“ und der „Erneuerung des Theaters von innen her“.
Aber von all ihren Dramatikern redet heute kein Mensch mehr. Während Kurt Weill und Bert Brecht heute zum Standardrepertoire engagierter Bühnen gehören und die mutigsten Regisseure sich immer wieder am „Verfremdungseffekt“ probieren, weil sie auf ein aufmerksames und mitdenkendes Publikum rechnen, nicht auf eines, das sich im Altgewohnten einlullen lässt.
Uhrbach hört leider mit dem „Sieg“ der Nazis auf. Dass viele der in diesem Buch erwähnten Personen 1933 ins Exil gingen, erfährt man nur aus den Fußnoten – verstreut unter den Texten, neben Brecht und Weill auch der „Baal“-Regisseur Alwin Kronacher, der „Mahagonny“-Dirigent Gustav Brecher, Adolf Aber (der die „Dreigroschenoper“ für die LNN rezensierte), aber auch Hans Natonek und Heinrich Wiegand.
Das gehört einfach noch erwähnt, sonst endet das Buch mit dem falschen „letzten Wort“.
Peter Uhrbach Bertolt Brechts Bühnenwerke in Leipzig 1923 bis 1932, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2017, 19,80 Euro.
Der dritte opulente Bildband zur Musikstadt Leipzig führt durchs durchwachsene 20. Jahrhundert
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