In diesem Jahr jährt sich zum 200. Mal die Ankunft von Dr. Frankenstein und seinem Geschöpf. 1818 erschien "Frankenstein or The Modern Prometheus" von Mary Shelley, der Roman, der die Angst vor den Möglichkeiten der modernen Wissenschaft verknüpfte mit alten Gothic Novels. Das Buch machte Mary Shelley berühmt - aber nicht reich. 22 Jahre später reiste sie durch dieses Deutschland, aus dem ihr Dr. Frankenstein kam. Ihre Reiseberichte liegen jetzt erstmals auf deutsch vor.

Dabei erschienen sie schon 1844 in London. Aber wie das so ist in der Literatur: Alles fixiert sich auf den einen Bestseller, der zum Ersten eine ganze Flut ähnlicher Romane führte, und der Rest des schriftstellerischen Werkes einer Autorin wird regelrecht vergessen. Interessiert auch die Literaturwissenschaft nicht, weil die Autorin lauter unpassende Sachen geschrieben hat, die nicht ins einmal formulierte Raster passen. Hätte sie doch nur noch mehr Horrorromane geschrieben …

Hat sie aber nicht.

So findet auch ihr SF-Roman von 1826 “The Last Man” kaum Resonanz. Erst die Schriftstellerin Muriel Spark sorgte Ende der 1980er Jahre dafür, dass die Autorin hinter dem Roman auch in England wieder wahrgenommen wurde, berichtet Michael Klein, der Übersetzer, im Nachwort zu diesem Buch, für das er alle Teile der beiden Reisen, die Mary Shelley 1840 und 1842 unternahm, die durch Deutschland führten, übersetzt hat. Die 1844 erschienenen “Rambles in Germany and Italy in 1840, 1842 and 1843” sind natürtlich viel dicker, denn in Italien hielt sich die Schriftstellerin noch viel länger auf, weil sie dort auch die Wintermonate verbrachte.

Aber die Tour durch Deutschland schildert sie in ihren Reisebriefen dennoch sehr genau und mit jenem feinen englischen Humor, den man im “Frankenstein” eher nicht findet. Obwohl er da auch gut hingepasst hätte. Denn Frankenstein lebt ja von der Burgen-Romantik der Zeit. Das Genre der Schauer-Geschichte blühte in England genauso wie in Deutschland. Und in England sorgte mit Walter Scott ein Autor dafür, dass das Genre des alten Ritterromans mit dem des modernen Abenteuerromans verschmolz. Auf ihrer zweiten Deutschlandreise hat Mary Shelley sogar Scotts Roman “The Heart of Midlothian” dabei, ebenfalls 1818 erschienen, parallel zu “Frankenstein”. Sie erwähnt es auf der Fahrt nach Dresden. Zuvor hat sie Berlin besucht und besichtigt. Und davor war sie in Leipzig, “tief im Herzen dieses mächtigen Landes”.

Sie kam mit der Kutsche nach Leipzig, nachdem sie und ihre Begleiter in Bad Kissingen gekurt hatten. Über Erfurt und Weimar (wo sie die Häuser und Särge der “Klassiker” besichtigt hatte) kam sie Ende Juli 1942 nach Leipzig. “Der Park in Weimar war eine Oase in der Wüste”, schreibt sie. Denn diese von Wäldern und Rainen leer geräumten Feldlandschaften, durch die sie kam, kannte sie von England nicht. Dazu kam, dass 1842 ein richtig heißer und regenloser Sommer war – die Landschaften waren nicht grün, sondern grau. Durch die Elbe bei Dresden konnte man aufrecht gehend waten.

Und Leipzig? Was hat die Schriftstellerin in diesem Jahr, in dem sie sich erstmals überhaupt so eine große Reise leisten konnte, nach Leipzig getrieben?

Der Bahnanschluss. Denn in den Landschaften am Rhein, in Hessen und Franken, wo sie zuvor unterwegs war, waren tatsächlich die Flußdampfer die schnellste Möglichkeit zu reisen, an Land waren es die Kutschen, die man sich mieten konnte und mit denen es oft über Stock und Stein ging. Als Engländerin sehnte sie sich geradezu danach, endlich wieder mit einem Zug fahren zu können. Und die nächsten Bahnhöfe gab es in Leipzig. Vom 1840 eröffneten Magdeburger Bahnhof fuhr sie mit ihrer kleinen Reisegesellschaft ab Richtung Berlin (einmal umsteigen unterwegs vom sächsischen Zug in den preußischen), um dann von Berlin mit der Bahn nach Dresden weiterzufahren. In Leipzig übernachtete sie im “Hotel de Saxe”. Das stand in der Klostergasse 9 und die Reisende war des Lobes voll, nachdem sie unterwegs einige wirklich unzumutbare Herbergen erlebt hatte. In Leipzig erlebte sie dafür eine für die Zeit moderne Hotellerie.

Und die Stadt?

Davon eigentlich kein Wort. Was sie auf der Fahrt von Weimar nach Leipzig wirklich interessierte, waren die großen Schlachten, die (aus ihrer Perspektive) noch nicht so lange zurücklagen und deren Schlachtfelder sie unterwegs passierte – die Friedrichs II. von Preußen und die Schlacht bei Lützen, wo sie lobende Worte für König Gustav Adolf von Schweden findet.

Und an Leipzig interessiert sie eigentlich nur die große Schlacht, die Napoleon zum Rückzug zwang. Die Kutsche kommt ja über den Ranstädter Steinweg in die Stadt und stolz zeigt ihr der Kutscher den Ort, wo die verfrühte Brückensprengung 25.000 Franzosen den Abzug abschnitt und den Marschall Poniatowski beim Versuch, die Elster zu durchschwimmen, das Leben kostete. Was Mary Shelley so recht nicht einleuchten will, denn die Elster, die sie sieht, ist ein Rinnsal. Wir erinnern uns an den heißen und regenlosen Sommer (dessen Auwirkungen sie in Dresden noch viel stärker spüren wird). Im Oktober 1815 war es ganz das Gegenteil: Da hatte es schon wochenlang geregnet und sämtliche Leipziger Flüsse führten Hochwasser – selbst die Mühlpleiße bei Dölitz war unpassierbar für die österreichischen Truppen.

Mary Shelley: “Es sieht aus, als würde ein guter Jäger über den schmalen Strom hinwegspringen können, der das Schicksal des Reiches entschied.”

Wetter macht Geschichte.

“Morgen vertrauen wir uns der Eisenbahn an”, schreibt Mary Shelley unter dem 22. Juli, “gesegnet sei der Mann, der sie erfand. Besonders in diesen öden, monotonen Ebenen muss jeder Reisende ihm dankbar sein.”

Auch der Übersetzer ist ihr dankbar, denn mit solchen Kommentaren wird der Text lebendig, kann man sich regelrecht hineinversetzen in diese Zeit, in der der reisenden Engländerin das deutsche Phlegma regelrecht auf den Keks geht. Hier ist alles noch im alten Pferdetrott. Und verblüfft schildert die Reisende den Zugpassagier, der sich verzweifelt aus dem Fenster lehnt und dem Lokführer zuruft, er solle langsamer fahren – von regelrechter Panik besessen bei diesen schrecklich schnellen 30, 40 km/h.

Gerade in der kurzen Reise von 1840 und in den ersten Teilen der zweiten Reise erinnert sich Shelley daran, wie sie noch 20 Jahre früher durch diese Gegenden reiste und damals tatsächlich auf wilden und ungebahnten Routen unterwegs war. Inzwischen sind tatsächlich auch in diesem trübseligen Deutschland die ersten Hotels entstanden, die auf die Bedürfnisse reisender Engländer Rücksicht nehmen. Flußdampfer und die ersten Eisenbahnen schaffen auch die Grundlage für den aufkommenden Tourismus. Und gerade die großen Städte werden mehrsprachig, in den Hotels kann man sich teils auf Französisch, neuerdings aber auch auf Englisch verständlich machen (außer in Kissingen, wo selbst die Ärzte seltame Ansichten über die Kurverpflegung haben).

Mary Shelley kann also aus eigener Erfahrung beschreiben, wie sich die Zeiten allein schon zwischen 1816 und 1842 gewandelt haben. Sie beschreibt es aufmerksam – und mit nie versiegendem englischem Humor. Immerhin reist sie durch ein Land, das ihr aus englischer Perspektive tatsächlich noch fürchterlich rückständig und phlegmatisch vorkommen muss. Da erstaunt es eher, dass diese Reisebriefe so spät den Weg ins Deutsche gefunden haben. Zeitgenössische Kupferstiche ergänzen den Text und zeigen in hübscher Beschaulichkeit, was Mary Shelley so ähnlich auch gesehen haben muss.

Einen neuen Schauerroman hat sie auf der Reise nicht geschrieben. Im Gegenteil: Sie hatte mit ihren eigenen Schatten zu kämpfen, denn die Menschen, mit denen sie 1816 das Abenteuer um “Frankenstein” erlebt hatte, lebten alle nicht mehr. Lord Byron war 1824 in Griechenland gestorben, ihr Ehemann Percy Bysshe Shelley war 1822 im Mittelmeer ertrunken. Die beiden Deutschlandreisen unternahm Mary mit ihrem Sohn Percy Florence.

Und natürlich enden beide Reisen in diesem Band in dem Moment, in dem die kleine Reisegesellschaft Richtung Italien aufbricht. Aber die deutschen Reisebriefe selbst sind natürlich ein Genuss. Man reist in ihnen mit einer aufmerksamen Autorin durch ein Land, das tatsächlich noch im Trott der alten Zeiten steckt, aber so langsam zu etwas wird, was auch englische Touristen interessiert, die (gerade am Rhein) zwar noch die alte Burgenromantik suchen, aber heilfroh sind, wenn die Hotels einigermaßen modernen Standard haben. Und vor allem ein Bahnhof da ist, wo man sich ein Ticket für die schnelle Weiterreise kaufen kann.

Mary Shelley “Streifzüge durch Deutschland”, Morio Verlag, Heidelberg 2018, 19,95 Euro

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