So muss es sein: Das neue Jahr beginnt mit Horror. Und damit ist nicht die weitverbreitete menschliche Dummheit gemeint, die gleich die erste Nacht des Jahres in Lรคrm, Staub, Dreck und Alkohol ersรคuft (was erwarten sich diese Menschen dann eigentlich vom neuen Jahr?), sondern ein kleines schwarzes รœberraschungsbuch aus dem Lychatz Verlag. Denn mit menschlichen Abgrรผnden hat sich der kleine Leipziger Verlag bislang noch nicht beschรคftigt.

Dafรผr tat es Uwe Schimunek, der bei Lychatz zwar schon Kinderbรผcher verรถffentlicht hat โ€“ einen Namen gemacht hat er sich vorher aber als Krimi-Autor in anderen Verlagen. Dieses neue Projekt geht freilich รผber die kriminelle Kurzgeschichte hinaus. Mit Co-Herausgeber Uwe Vรถhl legt Schimunek hier etwas vor, was es in dieser Form in der deutschen Buchlandschaft lange nicht gab. Denn seine Blรผtezeit erlebte das Genre der Grusel- und Horrorgeschichte im 19. Jahrhundert, damals noch eng verbunden mit der beliebten Gespenstergeschichte, der dann das elektrische Licht praktisch den Garaus gemacht hat.

Denn solche Geschichten lassen sich am besten bei Funzelschein erzรคhlen, wenn es drauรŸen richtig finster ist, der Wind die Dachschindeln klappern lรคsst, das ganze Haus knackt und die Hausbewohner sich ums Herdfeuer drรคngen und gemeinsam einer richtig schรถnen Schauergeschichte lauschen. Und die funktioniert nun einmal bei tageshell erleuchteten Wohnzimmern nicht mehr so richtig, erst recht nicht, wenn nebenher die Horroreffekte des neuesten Thrillers im Fernsehen alle Sinne bannen. Wenn man Horror so unverhรผllt vor Augen hat โ€“ wozu braucht es noch den gut erzรคhlten Grusel im Buch?

Die Verkaufszahlen fรผr das Buch werden es zeigen. Schimunek und Vรถhl haben zumeist unbekannte Autorinnen und Autoren gewonnen, die in der kurzen Form versuchen, den Schrecken in Worte zu fassen. Und dazu haben sie sich Leipzig als Spielplatz ausgesucht. Kein ganz so unbekanntes Pflaster, was die berechtigte Angst vor Mรถrdern und anderen Unholden betrifft โ€“ das hat ja Henner Kotte in etlichen Sammlungen zu echten Leipziger Kriminalfรคllen schon mehrfach gezeigt. Er ist auch mit einer schรถnen Gรคnsehautgeschichte vertreten โ€“ keine, die einem wie andere Horrorgeschichten in dem Band wirklich den kalten SchweiรŸ den Rรผcken runterlaufen lรคsst, sondern eine, mit der er eine seiner Lieblingsgeschichten thematisiert: den โ€žSeewolfโ€œ von Jack London โ€“ in diesem Fall als zwinkernden Verweis auf eine eindrucksvolle Verfilmung.

Aber ich bin mir sicher, dass er sein zerlesenes Romanexemplar im Regal stehen hat.

Einige der Geschichten in diesem Band nehmen direkten Bezug zu den alten Gruselgeschichten, die teilweise auch als Sagen noch bis ins 19. Jahrhundert hinein lebendig waren. Man nehme nur die angsteinflรถรŸenden Geschichten um die Leipziger Wassernixen. Oder die Geschichten um blutsaugende Tiere, gegen die nichts hilft, wenn man ihnen einmal begegnet โ€“ auรŸer ein ordentlicher Elektroschocker und ein Staubsauger. Es gibt die bekannten Helden der alten Schauermรคrchen, die tatsรคchlich mitten hineinlaufen in ihr Verderben. Es gibt aber auch die tatkrรคftigen Heldinnen, die sich gegen das Unheil wehren.

Es gibt kleine Spiele mit den modernen Formen des Psychothrillers. Und es gibt auch eine Variante der beklemmenden Zukunftsgeschichte, die deshalb funktioniert, weil in dieser Geschichte eine zwanghafte Logik steckt โ€“ denn was fรผr eine Welt bekommen wir, wenn ein Menschenleben nichts mehr wert ist, weil seine Organe viel wertvoller sind?

Es gibt das Drama der spรคten Rache genauso wie das Drama des Krimiautors, der glaubt, er mรผsste selbst einmal zum Mรถrder werden. Manche Geschichte endet einfach im blanken Entsetzen, weil das Schauerliche tatsรคchlich zuschlรคgt am Ende. Manch eine Geschichte aber lebt auch vom tiefen Wunsch der Autoren, dass es doch noch so einen kleinen Sieg fรผr das Gute oder das Menschliche geben mรผsse.

Man merkt, dass das Genre in den vergangenen 200 Jahren einige Bereicherung bekommen hat, was die Formen des Schreckens betrifft. Manche Spielweise mutet sehr altertรผmlich an โ€“ eher in den Kunstmรคrchen der Spรคtromantik, bei Edgar Allen Poe oder Washington Irving zu Hause โ€“ aber dann wirken diese Schattengestalten und Seelenfresser in der heutigen Leipziger Kulisse trotzdem beรคngstigend, weil sie uralte ร„ngste wieder wachrufen. Denn so tot ist das alles nicht. Wir haben ja die vergangenen 200 Jahre nicht wirklich genutzt, um die ร„ngste aus unserer Welt zu verbannen. Viele stecken in unseren eigenen Trรคumen und Wunschvorstellungen. Manche stecken auch in einer Umwelt, die uns โ€“ bei aller Freude รผber die schรถne, boomende Stadt โ€“ doch hรถchst suspekt und morbide vorkommt.

Was vielleicht auch deshalb jetzt zu so einer Geschichtensammlung anregt, weil seit zwei Jahren tatsรคchlich richtige Nachtgestalten und ungreifbare Nachtmahre auf unseren StraรŸen herumlaufen. Ein echter Gespenstertanz, der von den Abgrรผnden unserer Zeit erzรคhlt. Denn wo das eigene Leben wieder unberechenbar und voller schlimmer Erwartungen ist, feiern auch die Alptrรคume wieder Auferstehung โ€“ thematisiert in der durchaus verstรถrenden Erzรคhlung vom Butzemann, in dem die morbiden ร„ngste frรผherer Kindheiten noch immer lebendig sind.

Einige Geschichten sind richtig heftig. Wer also zu etwas verstรถrten Trรคumen neigt, sollte das Buch vielleicht besser nicht als Einschlafhilfe nutzen. Wer nach 30 Jahren Dauer-TV-Genuss freilich รผberhaupt keine eigene Vorstellungskraft mehr besitzt, dem nutzt das Bรผchlein auch nichts. Denn es lebt von etwas, was das TV mit gespenstischem Dauergrinsen lรคngst ausgesaugt und zerstรถrt hat: der Fรคhigkeit zu lebendiger Phantasie. Auch im finsteren Sinn.

Wer keine Phantasie hat, fรผrchtet sich nicht.

Aber vor Menschen, die keine Phantasie haben, darf man sich zu Recht fรผrchten. Sie sind der eigentliche Schrecken unserer Zeit. Und vielleicht auch deshalb kรถnnte der guten alten Gruselgeschichte ein neues Comeback beschieden sein.

Uwe Schimunek; Uwe Vรถhl Leipzig Morbid, Lychatz Verlag, Leipzig 2017, 9,95 Euro.

Uwe Schimuneks neuer Krimi entfรผhrt die Leser ins Leipzig des Jahres 1907

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