Nach Bernd Gรถbels groรem Erinnerungsbuch "Verschiedenes Hell" ist auch das hier ein richtig dickes Lebensbuch aus dem Mitteldeutschen Verlag, geschrieben von einem, den die Leipziger als umtriebigen Kenner der Baugeschichte, des Waldstraรenviertels und der Westvorstadt kennen: Bernd Sikora. Mitgrรผnder von Pro Leipzig und Neue Ufer. Wenn einer 77 wird, ist die รffentlichkeit oft รผberrascht. Und natรผrlich hat er was zu erzรคhlen. Das Lebensdrama beginnt im Erzgebirge.
Dort grรผรt heute der viel beachtete Glรผckaufturm auf der Abraumhalde des ehemaligen Deutschlandschachtes in Oelsnitz und lรคdt zum Erklettern ein. Von oben sieht man weit ins Land โ bis nach Leipzig, wenn die Sicht klar ist. Den Turm hat Bernd Sikora entworfen. Es ist ein Stรผck seiner Versรถhnung mit der Stadt seiner Kindheit. Gleich mit Beginn des Buches hebt er ab und betrachtet die Landschaft seiner Kindheitstage von oben โ auch mit alten Schreckensgefรผhlen. Denn 1944 erlebte er hier eine der groรen Luftschlachten des 2.Weltkrieges mit, an die sich diesseits der Grenze kaum jemand erinnert โ und dennoch erreichten die Auslรคufer des Infernos auch die Hรคnge bei Oberwiesenthal, wo der Vierjรคhrige zur Kur war und dann erlebte, wie hilflos man sich fรผhlt, wenn Militรคrmaschienen รผber einem Auftauchen und Schรผsse รผber die kleinen Menschen unten am Hang peitschen.
Das Trauma begleitet den Autor durch sein Leben und den Leser bis ans Ende des Buches, wo Sikora erzรคhlt, wie er sich den uralten รngsten stellte und den Grund fรผr sein tief vergrabenes Kindheitserlebnis findet. Sein 630 Seiten dickes Buch ist eine intensive Spurenforschung. Denn die Balance, die er im Titel anspricht, begleitete sein ganzes Leben. Im Grunde schildert er exemplarisch, dass nichts und niemand den politischen Einvernahmen und Zugriffen des 20. Jahrhunderts entkommen konnte. Schon gar nicht, wenn er wie Sikora aus einer alten Oelsnitzer Kaufmannsfamilie stammt, die gleich nach dem Krieg in die Enteignungsmachenschaften der neuen Machthaber geriet. Wie diese vorgingen und fรผr Sikoras Vater ein regelrechtes Lebensdrama auslรถsten, konnte er erst spรคt rekonstruieren, als ihm die Akten zu den alten Vorgรคngen endlich zur Verfรผgung standen. Akten, die auch belegten, wie die Familie systematisch um ihren Besitz gebracht wurde. Was sicher noch zu einem Happyend gefรผhrt hรคtte, hรคtte es nach 1990 tatsรคchlich so etwas wie eine reibungslose Rรผckรผbertragung an die Enteigneten gegeben.
Doch auch die neuen Verwaltungen bekleckerten sich da nicht mit Ruhm. Und so fรผllen auch nervenaufreibende Kรคmpfe um das verlorene Erbe der Familie die Seiten, die eigentlich von einem Burschen erzรคhlen, der frรผh fรผr sich beschlossen hat, dass er sich nicht anpassen will โ auch dann nicht, als er nach der Flucht der Eltern in den Westen praktisch allein zurรผckbleibt im Osten und nun einen Weg sucht, seine kรผnstlerischen Ambitionen zu verwirklichen, ohne sich den Forderungen eines zunehmend autoritรคren Staates zu beugen.
Dass er ein guter Beobachter ist, merkt der Leser gleich mit den ersten Geschichten, in denen er ihn mitnimmt in die eigentlich schรถne Kindheit โ die aber noch am Kriegsende รผberschattet wird von einer Mordnacht an einem Teil seiner Familie. Die Welt, die Sikora hier noch schildern kann, wird er 70 Jahre spรคter nur noch in wenigen Resten vorfinden. Nicht nur die einstigen Besitztรผmer der Familie sind vom Erdboden verschwunden, auch der Kohlebergbau, der hier einst fรผr Leben und Arbeit sorgte, ist lรคngst eingestellt. Noch in den 1950er Jahren fuhren die Zรผge mit Steinkohle auch Richtung Leipzig. Und kurz zuvor hatte Adolf Hennecke im tiefen Untergrund seine Rekordschicht gefahren, die Legende fรผr die fleiรigen Arbeiter in der DDR war geboren. Wรคhrend gleich daneben jeder Unternehmergeist abgeschafft und beseitigt wurde. Gerade weil das Beispiel seiner Familie so anschaulich ist, merkt man, warum die DDR den Bach runtergehen musste und die Ulbrichts und Honeckers jeden Kredit verspielten.
Als die Familie in Oelsnitz nach und nach ihre Existenzgrundlage verlor, fand Sikora in Leipzig seinen Weg โ erst als Architekturstudent an der HTWK, spรคter, als sich das Thema Architektur mit der industriellen Fertigteilbauweise in der DDR erledigte, als Student an der HGB bei Wolfgang Mattheuer. Man merkt schon frรผh, dass dieser Bernd Sikora vor groรen Namen keine Angst hatte. Das Schรถne am Buch: Es gibt (was auch bei solchen Biografien selten ist) am Ende des Buches auch ein Personenverzeichnis, in dem all die Menschen auftauchen, die in seinem Berufsleben vor allem eine Rolle spielten โ von Evelyn Richter, der berรผhmten Leipziger Fotografin, รผber Kurt Masur bis Christa Wolf, von Irina Pauls (deren Tanztheater am Schauspiel Leipzig mit obskuren Begrรผndungen geschlossen wurde) bis zu Peter Guth, dem Journalisten und Feuilletonisten, mit dem er ein halbes Leben teilte.
Und man erlebt mit Bernd Sikora jenen Typus des Unangepassten im Osten, der mit aufmerksamem Blick jedes Zeichen von Verรคnderung und Entspannung beobachtet, der die Kafka-Konferenz genauso zur Kenntnis nimmt, wie er 1968 voller Neugier nach Prag reist, wo Alexander Dubcek einen Sozialismus mit menschlichem Angesicht ausprobieren will. Kein Wunder, dass das seinen Blick fรผr die Missstรคnde in seiner zunehmend heruntergewirtschafteten Heimatstadt Leipzig schรคrft, wo die alte, wertvolle Grรผnderzeitsubstanz dem Verrotten preisgegeben ist, weil die Baukapazitรคten nach Berlin abgezogen wurden und die maรgeblichen Planer nur noch flรคchenhaften Abriss sehen, um riesige Plattenbauquartiere hochzuziehen.
Ihm blutet das Herz. Und mit Norbert Vogel und Peter Guth zusammen konzipierte er 1973 ein Buch, das die ganze Tragรถdie des Leipziger Raumes in Foto und Text zeigen sollte. Doch dem Buch โLeipziger Landschaftenโ erging es wie praktisch allen wichtigen Buchtiteln in der DDR: Staatliche Stellen mischten sich ein, zensierten, lieรen entschรคrfen, sorgten immer wieder dafรผr, dass die Verรถffentlichung verschoben wurde, so dass es erst 1986 im Greifenverlag erschien. Und dann immer noch eine Sensation war.
Und noch heute ist. Der Lehmstedt Verlag hat Norbert Vogels Fotos im vergangenen Jahr noch einmal verรถffentlicht. Sie sprechen fรผr sich. Was Bernd Sikora in seinem Erinnerungsbuch anschaulich erzรคhlt โ von den dreckschรคumenden Flรผssen รผber die Ascheregen aus den Schloten der Brikettfabriken bis hin zu den zerstรถrten Kulturlandschaften im Sรผden โ die Fotos zeigen es. Und das Frappierende fรผr Sikora: Davon wollten die neuen Herren im Sรผden auch nach der Wende nichts wissen. Vergrรคtzt reagiergten sie auf eine ratternde und bedrohliche Inszenierung des Raubbaus im Tanzheater von Irina Pauls.
Wahrscheinlich nicht, weil die geschundenen Landschaften sich in ein Freizeitparadies verwandeln sollten, sondern weil man anders geplant hatte โ der Sรผden sollte zum neuen Leipziger Industrierevier werden. Aber der Norden wurde es, weil Industrie nun einmal direkte Anbindungen an Autobahn, Flughafen, Eisenbahn braucht.
Einige der neuen Aufsteiger kommen bei Sikora nicht besser weg als ihre genauso tricksenden und tรคuschenden Vorgรคnger in Vor-Wende-Zeiten. Da gingen auch schnell mal Auftrรคge und Einkommen durch die Lappen. โUnter Wรถlfenโ รผberschreibt er denn eines der letzten, zuweilen sarkastischen Kapitel. Aber es ist kein fatalistisches Buch geworden, eher eine sehr kritische, manchmal bissige Bilanz fรผr ein Leben, das nie eine Chance hatte, einfach ruhig geradeaus zu flieรen. Wer sich nicht untreu werden wollte in diesen Zeiten, der lernte auch Nein zu sagen, sich neu zu orientieren und die leichteren Wege zu meiden. Nur dass sich Sikora nicht in eine Nische zurรผckzog, sondern immer wieder versuchte, sich einzumischen. Selbst dann noch, als der wild gewordene Plattenbau in der DDR die alten Innenstรคdte zu zerstรถren drohte โ da machte er Vorschlรคge fรผr eine stadtvertrรคgliche Lรผckenbebauung und startete eine Aktion, die bis heute an Leipziger Hausgiebeln zu sehen ist: eine farbenfrohe Giebelbemalung. Selbst das misstrauisch beรคugt. Die vielen beรคngstigenden Begegnungen mit den Grauen Mรคnnern lรคsst Sikora nicht weg.
Am Ende fragt man sich eher, warum die DDR-Bรผrger das alles so lange ertragen haben. Die Stimmung kippte โ so schildert es auch Sikora โ schon in den spรคten 1970er Jahren. Spรคtestens ab dem Zeitpunkt, als nach der Biermann-Affรคre der Exodus der Kรผnstler begann. Die Ratlosigkeit der Nomenklatura schildert er dann am Beispiel zweier SED-Funktionรคre, die durchaus gewillt waren, die Realitรคt wenigstens zur Kenntnis zu nehmen โ dem Kulturfunktionรคr Dietmar Keller und dem Mitarbeiter der Leipziger Bezirksleitung Roland Wรถtzel, der dann am 9. Oktober zu den sechs Unterschreibern des Appells gehรถrte, der zu einem friedlichen Verlauf der Demonstration aufrief. Und der damit den Stillhaltekodex der lรคngst erstarrten Partei verlieร.
Das alles taucht eher beilรคufig auf. Denn eigentlich geht es Sikora ja um sein eigenes Leben, das er versucht, mit dem Buch mรถglichst bildhaft und stimmig zu erzรคhlen. Man erlebt viele persรถnliche Tragรถdien mit, aber auch all seine Trรคume von einem unangepassten, selbstbestimmten Leben. Bis hin zum Kongress des Kรผnstlerverbandes 1988, der im Grunde schon die offizielle Aufkรผndigung der Kรผnstler fรผr ihre Gefolgschaftstreue zur Staatspartei war. Nur taucht das auch heute selten in historischen Arbeiten auf.
Genauso, wie selten benannt wird, dass es auch und gerade die Sorge der Menschen um ihre Heimat war, die sie 1989 auf die Straรe trieb. Etwas, was Sikora besonders plastisch beschreiben kann, weil er gegen die Bausรผnden der DDR-Planer schon frรผh opponierte und 1990 sofort mit dabei war, als es um die Schaffung der ersten Sanierungsgebiete in Leipzig ging โ allen voran das Waldstraรenviertel, bis heute Sikoras Lebensmittelpunkt. Und natรผrlich ein Ort, an dem er sagen kann, dass er mitgeholfen hat, so etwas Unersetzliches zu retten. Wenn auch mit Blessuren, vor und nach der Wende.
Wer seine Homepage www.miriquidimedia.de besucht, sieht dann auch, wie intensiv er sich in seinen Bรผchern mit Leipziger Architektur und sรคchsischen Landschaften beschรคftigt. Einige der Bรผcher hat auch die L-IZ schon besprochen. Die Links finden Sie unterm Text.
Veranstaltungstipp:
Sein Buch โBalanceakteโ stellt Bernd Sikora am 31.Januar um 18 Uhr in der Alten Nikolaischule in der Richard-Wagner-Aula vor. Die Kulturstiftung Leipzig und der Mitteldeutsche Verlag laden dazu ein.
Bernd Sikora โBalanceakte. Ein Leben zwischen Kunst, Architektur und Politikโ, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2018, 30 Euro
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