Für FreikäuferLeipzig ist Buchstadt. Straßennamen erzählen bis heute von der großen Geschichte der Verleger und Buchhändler. Auch wenn die Tauchnitzstraße eher an den falschen Tauchnitz erinnert. Auch wenn er trotzdem richtig ist: Karl Tauchnitz war der Onkel des viel berühmteren Bernhard Tauchnitz. Und der Neffe lernte natürlich bei ihm sein Handwerk, das ihn später zum reichsten Verleger der Buchstadt Leipzig machen sollte.

Dass über ihn bislang eher weniger geschrieben wurde liegt daran, dass es gerade den Tauchnitz Verlag 1943 besonders heftig erwischte. Praktisch das ganze Betriebsarchiv ging verloren. Und zu Recht wundert sich Jochen von Osterroth, ein ferner Nachfahre des berühmten Verlegers, im Vorwort zu diesem Buch darüber, dass den vier Leipziger Autoren, die es verfasst haben, trotzdem eine profunde Verlagsgeschichte gelungen ist. Vielleicht nicht das, was der Titel vermuten lässt: eine richtige Biografie zu Bernhard von Tauchnitz. Dazu ist dann doch zu viel verloren gegangen im Lauf der Geschichte, auch nach 1990 noch, als mit den Archiven der eiligst verramschten Leipziger Unternehmen recht skrupellos umgegangen wurde. Woran ein damaliger Fund Gunther Böhnkes erinnert, bekannter Kabarettist, aber von Haus aus Anglist: Ihm gelang es damals noch, einen Briefwechsel von Bernhard Tauchnitz mit seinem berühmtesten Autor, mit Charles Dickens ausfindig zu machen. Die Originale sind mittlerweile verschwunden.

Ganz ähnlich ist es mit den Beständen des Bibliografischen Institutes, in denen damals auch noch Spuren des Tauchnitz Verlages gefunden werden konnten.

Die Zeit der Treuhand-Arbeit wird einmal als großer Verramsch und ein gewaltiger Verlust an Archivbeständen in die Geschichte eingehen. Und Generationen von Forschern werden verzweifeln und die damals Verantwortlichen verfluchen. Denn das war alles bekannt. Und trotzdem wurde entkernt, verkauft, entsorgt, geschreddert, was das Zeug hielt. Mit dieser Entkernung der Leipziger Wirtschaftsgeschichte ging ebenfalls Identität verloren, und zwar nicht nur die zur DDR-Phase, die in der Rückschau immer weiter zusammenschmilzt. Sondern eben auch zur großen Geschichte der Buchstadt, die 1943 im Bombenhagel unterging.

Da war zwar die große Zeit des Tauchnitz Verlages schon lange vorbei. Aber die immer neuen Versuche, den weltberühmten Verlag im Westen neu aufzustellen, erzählen auch davon, was für eine starke Marke Bernhard Tauchnitz ab 1841 aufgebaut hatte, als er die „Collection of British Authors“ gründete, die später zur „Collection of British and American Authors“ wurde und über 5.300 Bände erreichte. Ein kulturgeschichtliches Phänomen, das sich tief eingegraben hat – gerade ins literarische Gedächtnis der Briten. Denn Büchern aus der Tauchnitz-Collection begegneten sie zwischen 1842 und 1939 überall, wohin sie reisten. In Kairo, Rom oder Paris waren die Bände beim Buchhändler oder am Reisekiosk zu finden. Und namhafte Autoren veröffentlichten nicht nur bei Tauchnitz, sondern spielten auch mit dem Topos in ihren Büchern.

Denn die Tauchnitz-Bände waren eine Legende. Gestartet hatte Bernhard Tauchnitz die Reihe noch vor der Einführung der ersten Urheberrechte in Europa. Diskutiert wurde schon lange darüber. Denn bis dahin galt es als üblich, dass Bücher im Ausland einfach nachgedruckt wurden, ohne den Autor oder dessen Heimverlag auch nur zu fragen, geschweige denn zu bezahlen. Aber Bernhard Tauchnitz – der im Buch selbst immer wieder als englischer Gentleman und Anglophiler beschrieben wird – machte es anders, startete sogar einen Aufruf in England, wo er um die Mitarbeit der namhaften Autoren warb und ihnen auch durchaus ansehnliche Vergütungen zahlte. Vielleicht schon im Vorblick auf die absehbaren Copyright-Regelungen. Aber so schuf er Vertrauen und schaffte sich beste Verbindungen zu englischen Verlegern, Autoren und Autorinnen. Und er publizierte die wichtigsten Titel von der Insel (aber auch aus den USA und aus den anderen Teilen des British Empire) fast zeitgleich mit den Originalen in England. Stets mit dem eingedruckten Hinweis, dass die Tauchnitz-Bände nicht nach England eingeführt werden durften.

Sie waren nur für den Verkauf außerhalb Großbritanniens gedacht, retteten dort aber gerade englischsprachigen Reisenden oft genug den Aufenthalt. Denn wenn sonst schon nichts los war am Urlaubsort in der Schweiz oder an der französischen Mittelmeerküste, dann fand sich garantiert irgendwo ein Kiosk, an dem es die neuesten Tauchnitz-Bände gab. Und wer England liebte, der baute sich damals richtige Tauchnitz-Bibliotheken auf – von denen einige bis heute überlebt haben. Wer etwas auf sich hielt, ließ sich die preiswerten Taschenbücher hochwertig einbinden.

Und da die Engländer damals quasi den modernen Tourismus erfanden, trafen sie überall, wohin sie kamen, auf das Tauchnitz-Phänomen. Die Bände waren nicht nur aktuell und gut gedruckt, sie waren auch noch preiswerter als daheim im Original. Und weil sie nicht auf die Insel verbracht werden durften, wurden selbst noble Engländerinnen zu Bücherschmugglerinnen. Und andere – so erzählen die vielen Legenden – entsorgten die Bände bei der Heimfahrt im Ärmelkanal.

Dass die Tauchnitz-Collection so einen Erfolg hatte, hat aber auch damit zu tun, dass das neue bürgerliche Zeitalter nicht nur reiselustiger war, sondern auch weltoffener. Es ist dieses alte Zeitalter, das später Stefan Zweig besichtigen würde, mit tiefstem Bedauern, denn mit dem 1. Weltkrieg wurde dieses Zeitalter in Klump und Asche geschossen. Der Tauchnitz-Erfolg gleich mit. Denn der lebte auch von der weitverbreiteten Anglophilie in Europa, die im 19. Jahrhundert die Liebe zur französischen Kultur abgelöst hatte. Jetzt war das kapitalistische Musterland England Vorbild – und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell. Auch in Sachsen und Preußen. Noch 1912 galt es für die Intellektuellen diesseits und jenseits des Ärmelkanals als ausgeschlossen, dass Engländer und Deutsche sich jemals im Krieg gegenüberstehen würden. Gut möglich, dass gerade die Tauchnitz-Collection erheblich dazu beigetragen hatte.

Die Bibliothek war ein Leuchtturm. Und die Bücher verkauften sich so gut, dass Bernhard Tauchnitz zu den reichsten Unternehmern in Sachsen aufstieg. Zeichen seines Erfolgs war auch der Erwerb des Gutes und Schlosses Kleinzschocher, das für einige Jahre zum Treffpunkt der Leipziger Elite wurde. Und zu einem Ort, an dem Bernhard Tauchnitz englische Lebensart zelebrieren konnte. Auch das Schloss wurde von Weltkriegsbomben zerstört.

Aber da hatte der Verlag längst einige heftige Krisen erlebt, von denen der 1. Weltkrieg (der sofort alle Kontakte nach England kappte) nur die erste war. 1934 verkauften die Erben den Verlag ganz und gar. Da war mit dem Albatross Verlag längst eine ernst zu nehmende Konkurrenz auf dem Markt. 1972 wurde der Tauchnitz Verlag endgültig aus den Registern gelöscht. Und eigentlich hätte man annehmen können, dass auch die Erinnerung so schnell verblasst, wie sie an hundert andere Leipziger Verlage verblasst ist, die 1943/1945 ihr Ende erlebten.

Aber dem ist nicht so. Selbst in sächsischen Bibliotheken, Sammlungen, Antiquariaten tauchen die Tauchnitz-Bände immer wieder auf. Und auch die vier Leipziger Forscher, die sich jetzt so tief in die Verlagsgeschichte gekniet haben, sind bekennende Sammler dieser Bändchen. Und im englischen Sprachraum ist das Tauchnitz-Phänomen genauso wenig vergessen. Die große Monographie über die Tauchnitz-Collection erschien dort. Und die Bibliothek selbst erzählt ja schon Bände über diese einmalige Buchreihe. Einmalig in ihrem Erfolg – Versuche der Nachahmung gab es jede Menge.

Und tatsächlich stellen die vier in ihren Beiträgen beiläufig auch fest, dass es durchaus noch mehr Forschungsbedarf gibt. Und vielleicht auch Erzählbedarf. Denn wirklich etwas ausführlicher kommt erst einmal nur die Beziehung von Tauchnitz zu Dickens zur Sprache. Da hat der Böhnke-Fund von 1990 gewaltig geholfen. Dass aber auch der englische Premierminister Disraeli und Königin Victoria bei Tauchnitz veröffentlichten, erfährt man eher beiläufig. Da wird die Neugier erst so richtig geschürt. Und eigentlich muss es noch viel mehr geben – wenn schon nicht im schreddersüchtigen Sachsen, dann drüben auf der Insel in den Nachlässen all der berühmten Autoren, die mit Bernhard Tauchnitz und seinen Nachfolgern korrespondierten.

Für Leipzig ist das Buch eine wichtige Bereicherung zur Geschichte der Verlags- und Buchstadt. Jetzt hat der Verlag, dessen Gebäude in der Dresdner Straße verschwunden ist, wieder ein paar Konturen bekommen, ein Gesicht und eine Seele, die jedem sehr vertraut vorkommt, der auch in diversen anderen Publikationen aus dem Sax-Verlag den weltoffenen Geist der Buchstadt im 19. Jahrhundert kennengelernt hat. Einer Zeit, als auch das Großbürgertum der Stadt und vor allem die großen Verleger stolz darauf waren, die Welt zu kennen, bereist zu sein und sich mit Gleichgesinnten in aller Welt fortwährend im Austausch zu befinden.

Da müsste also noch was zu finden sein. Die vier Autoren jedenfalls wollen weitersammeln. Und wer die große Tauchnitz-Geschichte noch nicht kennt, findet sie hier erstmals so umfassend wie möglich erzählt.

Melanie Mienert, Thomas Keiderling, Stefan Welz, Dietmar Böhnke Baron der englischen Bücher, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2017, 28 Euro.

Friedrich Arnold Brockhaus, das Lexikon und der clevere Kampf gegen die deutschen Zensoren

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