Für FreikäuferBei etlichen Büchern von Voland & Quist, die in den letzten Monaten erschienen, hat man das verwirrende Gefühl: Jetzt werden sie wirklich erwachsen, all diese jungen Wilden, die seit Jahren Berliner und andere Lesebühnen unsicher machen. Jetzt haben sie Kinder bekommen und kleine Patchworkfamilien gegründet. Und jetzt kommen die dicken Romane, in denen sie über den Sinn des Lebens nachdenken.
Nun also auch Sebastian Lehmann, 1982 in Freiburg geboren, irgendwann nach Berlin gespült, Mitglied der Lesebühne Lesedüne und Autor mehrerer Kurzgeschichtenbände. Und nun eine Geschichte über Paul, den ewigen Doktoranden, der schon seit Jahren feststeckt und nicht weiterkommt mit seiner Dissertation über „Konzeptionen der Liebe in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur“. Man landet mitten in einem zumindest aus Pauls Sicht frustrierenden Germanistikalltag, in den er irgendwie hineingeraten ist, weil ihm etwas Besseres nicht einfiel. Dennoch fiel er seinem Professor, dem legendären Prof. Emrald, auf, der dem eigenen Tun selbst schon lange nur noch mit Zynismus begegnet. Paul war ihm auch deshalb aufgefallen, weil er das Studium nicht nur als Punktesammeln betrieb, sondern irgendwie doch so etwas wie Neugier mitbrachte auf diese alten, viel analysierten Männer wie Walser, Bernhard, Frisch, die irgendwie für einen Großteil der Germanistenzunft die deutschsprachige Nachkriegsliteratur verkörpern. Mit all ihren Kopfwelten, mit denen sie das Verwirrtsein des Ichs in der Welt ausloten.
Frisch ist schon hart. „Homo Faber“ und „Gantenbein“ haben Generationen von jungen Leuten in Verwirrung gestürzt. Walser hat sich zwar längst desavouiert. Aber er sitzt noch immer – angestaubt – auf dem Thron der Bewunderung. Und eigentlich ist es eher dieser widerborstige Thomas Bernhard, bei dem Paul Ferber versucht, einen neuen Ansatz zu finden, wie Liebe in dieser widerspenstigen Literatur entziffert werden könnte.
Vielleicht hätte er doch lieber andere Autoren lesen sollen.
Jene, die seit der geistig knochentrockenen Kohl-Ära freundlichst in die Verliese der professoralen Verachtung verbannt wurden, weil sie gegen diese verkopfte deutsche Nachkriegsliteratur aufbegehrten und wider den Stachel der professoralen Theorie löckten – um nur Böll, Andersch, Lenz oder Dürenmatt zu nennen. Wer das alles gelesen hat, weiß, dass das genau den Riss beschreibt, der durch die deutsche Literaturgeschichtsschreibung geht: Hier die jungen, sehr Lebendigen, die versuchten, neue Erzählformen für ein zutiefst in Lügen und Verleugnungen gefangenes Land zu finden.
Und da die Ablenker, die Meister des ziselierten Bedeutsammachens, das noch heute an vielen Lehrstühlen als Maß der Dinge gehandelt wird. Da kann man schon blöde werden im Kopf, weil dieses Kreisen um das eigene Ego natürlich keine Antwort bringt. Paul steckt tief in dieser Ratlosigkeit. Sein Studium hat ihm da genauso wenig geholfen wie sein Dissertationsthema oder die langen, rumreichen Gespräche mit Emrald, der selbst eine ziemlich verkorkste Geschichte zu erzählen weiß. Die taucht dann – aus seiner Perspektive geschrieben – auch mitten im Buch noch auf. Denn das „parallele Leben“, wie es im Titel steht, hat natürlich auch damit zu tun, wie das kleine Figurenensemble so einer Geschichte bei allen Berührungen und Gesprächen dennoch nebeneinanderher lebt. Jeder hat nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch seine eigene Perspektive – auch auf Paul, dessen Ziellosigkeit den Leser schon arg zermürben kann. Denn das kennt man irgendwie aus den Romanen der Herren Walser und Bernhard und Frisch.
Es ist gerade so, als wollte Lehmann diese Herren in ihrer Art, Helden zu basteln, karikieren. Oder ihre Art Helden persiflieren, die einen schon nerven, wenn sie anfangen, ihre unergründliche Einmaligkeit zu erkunden. Die meisten dieser zur Empathie und Begeisterung unfähigen Nicht-Helden ihres eigenen Lebens sind eher getrieben und fortgespült, als dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen und gestalten.
Bevor wir aber zu sehr über diese Chamäleons schimpfen: Die Satire hat auch einen bitteren Kern. Denn die Welt, in der Paul irgendwie einen roten Faden sucht, befördert genauso diese Wurzellosigkeit. Es spielt keine Rolle mehr, was einer kann oder will oder träumt. Anerkennung findet, wer die Regeln einhält, eifrig Punkte sammelt im Studium, sich aber ansonsten nicht wirklich zu sehr auf Dinge einlässt. Denn das ist nur Ballast. Wir sind in einer Welt gelandet, in der die Selbstoptimierung für die bestmögliche Vermarktung das A und O ist. Emrald hält darüber ein paar sehr zynische Vorträge. Und er hat Recht. Die Welt, in der man Karriere macht und irgendwann auf einem unkündbaren Pöstchen landet, ist eine Welt der Selbstoptimierer, der Stromlinienförmigen, der Menschen ohne Eigenschaften, um auch noch einen anderen Autor zu erwähnen, der über diesen völlig interesselosen Bewohner der neuen Zeit schon schrieb, als diese neue Zeit aufgrund genau dieser Interesselosigkeit in die dümmste Diktatur aller Zeiten marschierte.
Diktaturen leben vom angepassten, interesselosen Menschen, der seine Leere dann mit Propaganda, Phrasen und Gehorsam füllt.
Es ist dieses leise Pochen im Hinterkopf, das einen die ganze Zeit irgendwie an Musil erinnert, das einen das Buch dann doch weiterlesen lässt, obwohl Pauls Ausreden, Ausflüchte und Unentschiedenheit einem immer mehr auf den Keks gehen. Denn man kann ja zuschauen dabei, wie er dabei ist, alles zu zerstören, was wirklich wichtig ist im Leben – seine Partnerschaft mit Johanna, die ihm selbst beim Skypen nach New York mit einer Ernsthaftigkeit begegnet, wie man sie eigentlich nur bei wirklich klugen und nachdenklichen Frauen findet. Er hat einen Schatz und setzt ihn aufs Spiel, indem er Lea nachfliegt, die er in Leipzig kennengelernt hat. Bei einem tristen Seminar über Nachkriegsliteratur.
Das ist die Ebene des realen parallelen Lebens, mit dem Paul sein Verhalten am Ende auch noch versucht irgendwie zu erklären, als die Sache auffliegt. Aber damit kann Johanna natürlich nichts anfangen. Und Paul eigentlich auch nicht, denn er hat sich in seinem Leben bislang nie wirklich entscheiden müssen. Alles begegnete ihm, fiel ihm zu. Sich entscheiden aber heißt auch, dass man sich auch für ein Leben und für Menschen entscheiden muss. Und da ist man bei einem Thema, das sich in aller Stille durch den Roman zieht: Wo landet man eigentlich als Mensch, wenn man nicht mehr bereit (oder fähig) ist, sich für Dinge zu begeistern? Erkennbar zu werden, weil man sich tief in eine Sache hineinkniet und Begeisterung dafür aufbringt? Also eigentlich erst zu einem fassbaren Menschen mit Eigenschaften wird, zu denen man steht, ohne ständig so herumeiern zu müssen wie Paul?
Das ist ganz eindeutig ein Problem der jüngeren Generationen, die hineingewachsen sind in diese Welt der Selbstvermarktung, in der Charakter und Erkennbarkeit eigentlich nicht gewollt sind. Wer Charakter zeigt, macht sich angreifbar und riskiert, für das, was er fühlt und denkt, auch einstehen und kämpfen zu müssen. Was eben nicht nur die Berufskarriere betrifft, sondern auch das ganz persönliche Leben. Denn dass die Beziehung zu Lea nun so etwas wie eine Obsession ist, der Paul nicht entkommen kann, ist nicht zu sehen. Er lässt sich treiben, versucht irgendwie die Balance zu halten und verstrickt sich in lauter Lügen, ohne dass fassbar wird, was er wirklich will – nicht in der Beziehung zu Lea, nicht in der Beziehung zu Johanna.
Am Ende lässt Sebastian Lehmann seinen Helden so unmotiviert aus der Geschichte verschwinden, wie er die ganze Zeit darin herumgegeistert ist. Es ist ein beiläufiger, aber sehr ernst gemeinter Sarkasmus, der da auflodert und der nicht nur Pauls miserable Rolle mit den Bernhard-Worten „The performance was terrible.“ summiert.
Die letzten Worte im Buch gehören sowieso Lea, die zwar etappenweise genauso ratlos und umhergetrieben ist, aber die Entscheidungen, die sie trifft, dann doch ernst meint. Sie gehört auch gar nicht in diese amputierte Nachkriegsliteratur. Ihr Lieblingsautor ist Kafka, dieser andere Bursche – neben Musil – der sich intensiv damit beschäftigt hat, was aus einem Menschen wird, wenn die Gesellschaft von ihm nichts als Anpassung, Interesse- und Eigenschaftslosigkeit verlangt.
Wir leben nicht in einer Walser-Welt, sondern in einer Kafka-Welt. Und während die deutschen Nachkriegs-Koryphäen versuchten, das kleine, egoistische Karrieremenschlein positiv zu schreiben, lässt Lehmann dieses Menschlein, das nicht bereit ist, sich zu einem Leben zu bekennen, mit Ansage scheitern. Es ist mehrfach Thema im Buch – sowohl Lea wie auch Johanna und selbst Emrald sprechen es an: Was gibt dem Leben eigentlich einen Sinn?
Die Antwort liegt nicht im Himmel und auch nicht in faden Interpretationen von Liebeskonstruktionen in Nachkriegsliteraturen, sondern genau in solchen Momenten, in denen man tatsächlich die Dinge tut, die einem wichtig sind. Man wird erst selbst Gestalt, indem man den Augenblick ergreift. Sonst passiert einem wohl eher das, was Paul passiert: Indem er sich nicht entscheidet, lebt er selbst neben der Spur, parallel zum eigenen Leben. Immerfort Beobachter seines eigenen Tuns, unfähig, das Treibenlassen zu beenden.
Und mal ehrlich: Wie vielen geht es heute ständig so, die glauben, so am besten durchzukommen durch ein Leben, das immer mehr fremdbestimmt ist, immer weniger greifbar? Unglücklich mitten im Alleshaben und ratlos über das, was ihnen geschieht. Paul glaubt, dass Leben daraus besteht, dass er Entscheidungen auf sich zukommen lässt, dass er selbst keine trifft. Und so wird das ein Buch auch über das falsche Gefühl von Kontrolle, das unsere Gesellschaft so dünnhäutig macht. Denn die Angst vor der Katastrophe (die auch Paul kennt) lähmt und führt dazu, dass man sie tatsächlich erst herbeiführt. Ist ja nicht so, dass unser Gehirn uns nur Blödsinn klarmacht, wenn es ab und zu warnt vor den Folgen unseres Unterlassens. Nur traut sich der Mensch ohne Eigenschaften nicht, aus den falschen Routinen auszusteigen. Die Katastrophe ist eingebaut in unsere Marktkompatibilität und Selbstoptimierung. Das taucht als stille Erkenntnis so am Rande mit auf.
Da fallen einem dann die vielen Aussteiger-Romane von Voland & Quist ein, Geschichten von Lehmanns Altersgenossen, die ihr Unbehagen mit einer leeroptimierten Gegenwart in eisige Aussteigererzählungen gepackt haben. Paul ist das Gegenteil: einer, der nicht den Mumm hat, auszusteigen. Und so landet er im Prinzip in einer Walserschen und Bernhardschen Literatenhölle, aus der er auch in der letzten – vergeigten – Szene nicht entkommt.
Sebastian Lehmann “Parallel Leben”, Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2017, 19 Euro
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