Für FreikäuferSein Rückzug vom Amt des Thomaskantors war 2015 eine große Überraschung für die meisten Leipziger: Georg Christoph Biller war seit seinem Amtsantritt 1992 fast zum Synonym des Thomanerchores geworden. Er hat nicht nur das christliche Profil des Knabenchores wieder gestärkt und ihn damit wieder zu seinen Wurzeln geführt. Er hat auch um elementare Verbesserungen gekämpft, die heute schon wie selbstverständlich wirken. Ein Mann wie ein Baum. Nun zieht er eine erste Bilanz.
Denn wenn einen die Arbeit mit so einem Chor über zwei Jahrzehnte prägt und begeistert, dann hört man nicht einfach auf. Jedenfalls nicht, wenn man nicht muss. Und Georg Christoph Biller musste. Es half nichts mehr. Seit 1999 hat er – wie er im Gespräch mit Thomas Bickelhaupt erzählt – mit Depressionen zu kämpfen. Sie haben ihm oft genug die Arbeit erschwert, immer wieder kamen auch Kuren dazwischen, in denen er wieder Kraft tankte, das Amt weiter auszuüben. Und dabei ist es ihm – gemeinsam mit der Leitung des Thomaschores – tatsächlich gelungen, die Arbeit auf höchstem Niveau fortzuführen, ohne dass auch nur ein Anlass für Gerüchte aufkam, er würde das Amt gesundheitlich nicht mehr ausfüllen.
Was natürlich auch mit dieser Mannschaft zu tun hat, die er im Lauf der Zeit um sich sammelte – bis hin zu Gotthold Schwarz, der als Stimmbildner im Thomanerchor begann, in Vakanzzeiten die Chorleitung übernahm und dann aus guten Gründen Nachfolger Billers wurde. Mit ihm wurde die Fortsetzung der Arbeit auf dem erarbeiteten Niveau gewährleistet – auch wenn das Auswahlverfahren für den neuen Thomaskantor auch aus Billers Sicht eher unklug war. Die Mühe hätte sich die Stadt durchaus sparen können. So bringt man zwar exzellente Chorleiter dazu, sich in Leipzig zu bewerben – aber das bedeutet noch nicht, dass sie auch mit den Thomanern eine Wellenlänge finden. Thomassern, wie Biller betont, der seine Erinnerungen Bickelhaupt quasi in die Feder diktierte. Der hat das Ganze dann in Buchform gebracht – ergänzt um ein Nachwort, in dem er das Leben im „Kasten“, wie die Thomaner ihr Alumnat nennen, skizziert.
Im Anhang findet man dann auch noch eine Übersicht über alle CD- und DVD-Aufnahmen, die Biller mit den Thomanern eingespielt hat, und eine Übersicht über seine Kompositionen. Denn Biller hat in vielem ganz bewusst auch wieder einen Direktbezug zum großen Vorbild Johann Sebastian Bach gesucht, der ja einst auch dafür stand, dass der hochwohllöbliche Rat der Stadt auch einen hervorragenden Komponisten für das Amt suchte. Die Herren Perückenträger wussten damals gar nicht, was sie eigentlich verlangten, wenn sie solch eine Stellenbeschreibung verfassten: Der Kantor sollte nicht nur den Knabenchor auf Höchstniveau bringen und die Kirchenmusik in allen vier Leipziger Stadtkirchen zuverlässig organisieren – und zwar jeden Sonntag und das ganze Jahr – nebenbei sollte er an der Thomasschule auch noch unterrichten. Und eigene Kompositionen erwartete man auch noch. Das war eigentlich ein Job für vier Leute.
Dass der Rat der Stadt Leipzig so seine Schwierigkeiten hat beim Wahrnehmen des eigenen, weltberühmten Knabenchores, erlebte auch Biller. Die Bestrebungen, den Chor zu verweltlichen und öfter auch in „normalen Konzertsälen“ auftreten zu lassen, bekam auch Biller mehrfach zu spüren. Legendär sind seine Kämpfe – zusammen mit den Verbündeten um Thomaspfarrer Christian Wolff – um die Schaffung eines „forum thomanum“, bei der am Anfangs (lang ist das her!) tatsächlich die Debatte um die Profilierung des Thomasgymnasiums stand, dessen Leitung das musische Profil lieber abgeschafft hätte, um sich stärker naturwissenschaftlich auszurichten.
Heute ist das „forum thomanum“ in weiten Teilen schon sichtbar. Das Alumnat wurde mit aufwendigen Investitionen der Stadt deutlich vergrößert und die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Thomaner haben sich deutlich verbessert. Mit Kindertagesstätte und Grundschule gewinnt die Idee eines von Musik und Glauben geprägten Campus immer mehr Kontur. Und mit Biller erfährt man auch, warum er das für so wichtig hält – und warum das möglicherweise auf Widerstände in einer eher kirchenfernen Obrigkeit stieß. Denn die Musik Johann Sebastian Bachs lässt sich nur so erschließen. Ein Chor, der dieses Erbe bewahrt, kommt an diesem Grundwissen und einem spirituellen Anspruch nicht vorbei.
Und es kommt noch etwas hinzu: der wichtige Aspekt des Allgemeinwissens, das im heutigen Schulen-Schnell-Press-Verfahren fast völlig unter die Räder kommt. Deswegen können so viele und auch ältere Menschen mit unserer Geschichte und Kultur so wenig anfangen. Sie kennen weder die zugrunde liegenden Geschichten noch die Gründe für die tiefe Spiritualität in Bachs Kompositionen, in denen sich auch dessen eigene, oft genug tragische Lebenserfahrungen spiegeln.
Das ist eine Parallele, die sich Georg Christoph Biller wohl eher nicht gewünscht hätte. Aber tatsächlich macht jeder Mensch genau diese Erfahrungen: Wie schnell einem das Leben Lasten auflegt, die man nur tragen kann, wenn man Hoffnung und Zuversicht immer wieder zurückerkämpft. So wie Bach. So wie Biller.
Es klingt recht souverän, wie er erzählt. Und genau so kennt man ihn: ein Mann, der mit seiner Stimme (er war ja auch gefragter Sänger) und seiner Präsenz Räume füllen kann und vor allem: Emotionen vermittelt. Wenn er sich zu Wort meldete, dann wusste man: Er glüht für die Sache. Er beißt sich durch „Trübsal und Bekümmernis“ und steht dann doch wieder vorn und fordert von den Sängern das Beste. Und nur das Beste. Man ahnt, warum Biller die Thomaner, das Publikum und seine Weggefährten immer begeistert hat: Weil er laue Kompromisse eigentlich nicht aushält. Auch da ist er Johann Sebastian Bach sehr ähnlich. Auch Biller hat seine „Wohlbestallte Kirchenmusik“ geschrieben und den etwas abwesenden Rat der Stadt aus dem Schlummer geweckt. Ohne diese Schrift hätte es das, was 2012 zum 800-jährigen Jubiläum der Gründung von St. Thomas zu sehen war, nicht gegeben.
Die Grundlagen für Qualität, die weltweit wieder ausstrahlt, legt man nur mit diesem Ringen um das Bestmögliche. Die Leipziger wissen es längst zu danken. Die Konzerte des Thomanerchores sind schon Monate voraus ausverkauft. Die Motetten sind selbst für die ungläubigen Thomasse zu einem Ankerpunkt in der Woche geworden, an dem man – mit Bach – wieder zu sich selbst kommt. Es klingt nur am Rande an. Aber diese intensive Beschäftigung mit dem Werk von Bach und die Wiederaufführung aller seiner Kantaten im Festkreis des Jahres unter Biller ist auch ein Gegenentwurf zu einer immer mehr beschleunigten, oberflächlichen und interesselosen Zeit, in der sich der Mensch verliert. Bach und Thomanerchor sind auch so etwas wie die Seele dieser Stadt. Und dass Biller 23 Jahre lang so verschmolzen schien mit dem Thomanerchor, hat natürlich auch damit zu tun, dass er selbst Thomaner war und diese Welt verinnerlicht hat. Auch aus diesen frühen Jahren erzählt er genauso wie aus seiner Kindheit im Pfarrhaus in Nebra.
Und natürlich erzählt er auch über die Zeit danach. Denn zu spaßen ist mit seiner Krankheit ja nicht. Aber er ruht nicht, meidet auch Leipzig nicht, weil ihn vieles mit der Kultur dieser Stadt verbindet. Und er komponiert und dirigiert weiter. Wer ein Werk hat, hat zu tun.
Und sein großer Traum steckt eh in einem kleinen Gedicht von Reiner Kunze, in dem der das ganz spezielle Verhältnis von Bach zum Leipziger Magistrat und zu Gott auf den Punkt gebracht hat. Tja, ist schon ein mächtig gewaltiger Maßstab, dieser Bach. In Leipzig hat man ihn am besten auf der eigenen Seite, egal was für Gründe die Bedenkenträger anführen. An Bach muss sich jeder messen, selbst die, die mit Musik eher nichts am Hut haben.Thomas Bickelhaupt; Georg Christoph Biller Die Jungs vom hohen C, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2017, 12 Euro.
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