Für FreikäuferNun ist die Musikstadt komplett. Zumindest die aus dem Lehmstedt Verlag. Gestartet 2015, jenem längst aus jeder Erinnerung getilgten Jahr, als Leipzig das 1.000. Jahr seiner Ersterwähnung feierte. Solche Feste kann Leipzig irgendwie nicht mehr so richtig. Musikstadt klappt besser. Da ist die Stadt eine Hausnummer. Deswegen war der dritte Band auch so ein kleines Problem.
Auch wenn er nur das 20. Jahrhundert zum Thema hat – von Arthur Nikisch bis „Bach über Leipzig“. „Bach über Leipzig“? Man muss erst das Bild sehen, um so ein Gefühl von Ochjemine zu bekommen: Ist das schon lange her!
So wie das 20. Jahrhundert. Das muss sich noch herumsprechen. Ich weiß. Einige Leute glauben ja immer noch, dass Kurt Biedenkopf amtierender König von Sachsen ist. Auch in Leipzig.
Auch so ein altes 20.-Jahrhundert-Gefühl ist noch da: dass die sächsischen Zeitgenossen mit der Zeit gehen. Tun sie nicht. Sie fühlen sich gestern ganz wohl. Vorgestern auch. War ja auch schön. Stellenweise. So wie damals, als Nikisch dirigierte, Hanns Eisler geboren wurde als „Sohn des bedeutenden Philosophen Rudolf Eisler“. 1898 war das. Das 20. Jahrhundert begann halt etwas früher. Auch wenn Papa Rudolf nicht ahnen konnte, was sein Strampelmax mal anrichten würde als einer jener „Komponisten des 20. Jahrhunderts, die polarisierten wie kaum eine Musikergeneration vor ihnen“, wie Tatjana Böhme-Mehner schreibt, die diesen dritten Band aus der Musikstadt-Reihe betreut hat. Band vier kommt übrigens 2101 heraus: 21. Jahrhundert. Da kann man sicher sein, dass es genauso kompakt zugeht und Autorin und Verleger über dem Berg von Bildern verzweifeln.
Denn das, was man im ersten Band stellenweise zu wenig hatte („Von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert“), gab es fürs 20. Jahrhundert beinah zu viel. Aber nur beinah. Denn seit nicht mehr gut bezahlte Maler und Kupferstecher dafür sorgen, dass alles abgebildet wird, was den Zeitgenossen wirklich als wichtig erscheint, wird alles mögliche fotografiert – nur oft das Wichtigste nicht.
Deswegen gibt es (Überraschung) Lücken im Buch, wie die betreuende Musikwissenschaftlerin feststellt. Manche Lücken sind gewollt. Denn damit das Buch noch händelbar ist, passen nur knapp 180 Geschichten hinein: jeweils mit großem, aussagekräftigem Foto und kleinem, erläuterndem Text. Der Band hätte drei Mal so dick werden können, wenn er wirklich versucht hätte, die Musikstadt im 20. Jahrhundert zu erfassen. Das war so ähnlich auch schon beim zweiten Band übers 19. Jahrhundert. Denn natürlich steht das 20. Jahrhundert auch für eine Explosion. Die Zahl der Orte, an denen Musik erlebbar wurde und professionell dargeboten wurde, explodierte, die Zahl der professionell produzierten Genres explodierte. Und die Medien, die Musik popularisierten, vermehrten sich ebenfalls. Und damit vermehrten sich auch die Stränge der diversen Großerzählungen zur Musikstadt, die vor allem von Journalisten geschrieben wurden.
Deswegen kommen erstaunlich viele Musikjournalisten drin vor.
Denn wer, wenn nicht sie, prägt den Blick dafür, was wichtig ist – und was nicht? Und oft sind die großen Zeitungen auch auf die großen Häuser und Orchester fixiert – die klassische Königsebene, die im Leipzig des 20. Jahrhunderts natürlich immer auch mit großen Namen und Ereignissen besetzt war – Nikisch, Furtwängler, Bruno Walter, Konwitschny oder Vaclav Neumann, der vom Posten des Gewandhauskapellmeisters 1968 zurücktrat – gleich nach den Prager Ereignissen. Musik ist nicht unpolitisch. In Leipzig schon gar nicht. Gerade Musik sorgte hier immer wieder für politische Furore – ob mit Brecht/Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, den Hitler-Auftritten zur Wagnerehrung, Bruno Walters erzwungenem Abschied oder den Verwicklungen der diversen Thomaskantoren in die diversen Regime. Musik wird gern auch politisch gebraucht und missbraucht.
Und sie erlangt Symbolkraft, so wie beim Protest gegen die Sprengung der Pauliner-Kirche beim Bachfest 1968 oder bei der Zerschlagung der Beat-Demo 1965 – ein Jubiläum übrigens, das das gegenwärtige Leipzig geflissentlich übersehen hat. Auch an den Jubiläen, die gefeiert werden oder nicht gefeiert, erkennt man das Verhältnis einer Stadt zu sich selbst.
Ergebnis: Es kommt sehr viel E vor in diesem Band, weniger U. Kurz darf die Renft-Band auftauchen als Beispiel für die rigide Verbotspolitik der Honecker-Regierung. Ein wenig Jazz, ein bisschen Punk. Man merkt, dass Rock und Blues nie wirklich die Themen waren, über die Leipzigs Tageszeitungen im 20. Jahrhundert ausführlich und gleichwertig berichteten. Deren Musiker wurden immer erst wahrgenommen, wenn sie landesweit berühmt wurden – wie „Die Prinzen“. Oder wenn sie eh schon gastierende Weltstars waren wie Juliette Greco, Louis Armstrong oder die Rolling Stones.
Eher haben noch Leute wie Steffen Schleiermacher oder David Timm eine Chance, die Grenzgänger zwischen Klassik und Moderne. Die natürlich auf hochkarätige Musikerkollegen und Klangkörper zurückgreifen konnten. Dafür ist Leipzig bekannt und hat sich im ganzen 20. Jahrhundert immer neu profiliert. Trotz alledem, kann man sagen. Als lebte in dieser Stadt ein widerständiger Geist, der Hochkultur auch dann fördert und verteidigt, wenn die Politiker austicken. Der auch Teures probiert, wenn die Kassen leer sind. So wie nach 1945 und nach 1990. Oder besser 1989, jener Zäsur, die auch mit Musik zu tun hatte – einem Kurt Masur, der im Stadtfunk zum friedlichen Protestieren aufrief und im Gewandhaus die großen Gespräche organisierte.
Jenem Haus, für das er selbst so gekämpft hatte – genauso, wie er dann mit anderen zusammen um die Rettung des Mendelsohn-Hauses kämpfte. Die 1990er Jahre waren auch Jahre einer Selbstvergewisserung der Musikstadt, die es so vorher nicht gab. Zwei Jahrhunderte lang hatte es als selbstverständlich gegolten, dass Leipzig in der Spitzenliga der europäischen Musikstädte mitspielt. Eine Position, die 1990 vielfach infrage gestellt war. Musikstadt ist ein sehr heutiges Label, das nach außen zeigen soll, wie sehr Musik diese Stadt prägt.
Klassische Musik vor allem. Von Profis gemachte. Und mittlerweile auch in großen Festivals verankerte – vom Bachfest bis zum A-cappella-Festival. Die 1990er Jahre waren auch kreative Jahre. Rückbesinnung auf Traditionen (man denke an Georg Christoph Billers Thomaskantorzeit) ging einher mit Mut zum Ausprobieren (Krsytallpalast-Vartieté, Erwin Stache, Wave Gotik Festival).
Es gibt einige Ausflüge an ganz und gar nicht mit Musik verbundene Orte, die sich dann doch als sehr musikalisch erweisen. Es werden aber auch viele Personen gewürdigt, die den Laden retteten und schmissen, wenn der – wie damals die Musikalische Komödie – in schwieriges Fahrwasser geriet.
Zu Recht betont die Autorin im Vorwort, dass man in diesem Band zum Teil auch selbst erlebter Geschichte begegnet. Oder dem, was einem dereinst als Geschehnis erzählt wurde, als musikalische Großerzählung, der man nicht ansieht, was vielleicht fehlt. Und bei der Rockmusik ahnt man es. Wenn man ein Thema anreißt – etwa die legendären Aufzeichnungen von „Da liegt Musike“ drin oder das Straßenmusikfest von 1989, fallen einem gleich neue Geschichten ein. Und neue Orte, denn nicht nur das Werk II hat sich ja als Ort der Musik etabliert – der Anker im Norden ja genauso. Der Bildband ist eher ein Aha-Erlebnis, das zeigt, wie viel da tatsächlich zwischen 1900 und 2000 an schlagzeilenträchtigem Musikleben in Leipzig passiert ist. Die ersten Jahrzehnte sind dabei noch etwas dünn bebildert und man merkt, auf welchen Gebieten die Musikforscher schon reichlich Material zusammengetragen haben, und auf welchen nicht. Die Welt der Klavier- und Orchestrionbauer ist längst besser beleuchtet als die der Leipziger Varietés und Cabarets.
Aber die wichtigsten Ankerpunkte sind drin, stehen auch zuweilen solitär und regen zum Weiterlesen an. Und gerade weil das so ist, hebt sich der Band auch von den beiden Vorgängerbänden ab, wird deutlich, wie sich Musik im 20. Jahrhundert auch aus gesellschaftlichen Zwängen und Normen löste und alte Schubladen sprengte. Zu viel natürlich auch für hiesige Zeitungen. Es passt eben doch nicht alles in eine Zeitung. Und was nicht drinsteht, muss man sich selbst entdecken. Selbst wenn man dann in einem Konzert des ältesten aller Leipziger Geheimtipps landet: einem mit der Losen Skiffle Gemeinschaft.
Eine musikalische Jahrhundertreise, in der es auch genug Hinweise auf berühmte Einspielungen etwa von Gewandhausorchester, Rundfunksinfonieorchester, Rundfunk-Kinderchor oder Thomanerchor gibt, die man sich einfach auf den Plattenteller legen (wenn man einen solchen noch hat) und genießen kann. Es stimmt schon: Ohne Musik ist dieses Städtchen an der Pleiße weder zu genießen noch zu beschreiben.
Tatjana Böhme-Mehner Musikstadt Leipzig in Bildern, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2017, 24,90 Euro.
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