2017 war ein besonderes Jahr – gleich im doppelten Sinn, was dieses Buch betrifft. Denn der Sax Verlag feierte sein 25-jähriges Jubiläum, was schon etwas heißen will für die sächsische Verlagslandschaft. Und praktisch von Anfang an ist auch der Leipziger Geschichtsverein dort mit seinen Veröffentlichungen zu Hause. Und 2017 konnte auch noch der 150. Jahrestag der Gründung des ersten Leipziger Geschichtsvereins gewürdigt werden.
Das tat der 1990 neu gegründete Leipziger Geschichtsverein mit dieser reich bebilderten Publikation, in der Thomas Krzenck – selbst Mitglied im Vorstand des Vereins – alles zusammengetragen hat, was über die nun schon erstaunlich lange Geschichte des Vereins herauszubekommen war. Auch wenn es Löcher gab, die sich in den Archivalien niederschlugen – die Gleichschaltung in der Nazi-Zeit etwa, das Verbot aller Vereine nach 1945, was dann auch für die Auflösung des bürgerlich geprägten Geschichtsvereins galt. Nur die Leute, die sich mit Herzblut für die Leipziger Stadtgeschichte interessierten, die verschwanden ja nicht. Was dann zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft, später einer eigenen Fachgruppe im Kulturbund führte.
Und aus der rekrutierten sich am 17. Dezember 1990 auch wieder die Mitglieder des neu gegründeten Vereins, der sich bewusst in die Tradition des 1867 gegründeten Vereins stellte. Gesellschaften ändern sich. Städte bleiben. Und damit ihre Geschichte, auch wenn sich der Blick auf die Geschichte ändert.
Denn das 19. Jahrhundert war ja erst der Beginn der professionellen Beschäftigung mit Regional- und Stadtgeschichte. Gustav Wustmann, einige Jahre Vorsitzender des Geschichtsvereins, ist bis heute eine legendäre Gestalt. Ein Arbeitstier, der gleichzeitig auch noch die junge Stadtbibliothek leitete und das frisch aus der Taufe gehobene Ratsarchiv, in dem gleich zwei spätere Leipziger Einrichtungen ihre Wurzeln hatten – das Stadtarchiv und das Amt für Statistik und Wahlen.
Man bekommt also gleich noch ein Stück Leipziger Stadtgeschichte mit, wenn man die Mühen der frühen Jahre verfolgt. Dabei war Leipzigs Geschichtsverein nicht mal der erste seiner Art in Deutschland oder Sachsen. In anderen Städten entdeckten die selbstbewusster werdenden Bürger ebenso ihr Interesse für die Geschichte der eigenen Stadt. Im Vereinswesen des 19. Jahrhundert steckt der eigentliche Emanzipierungsprozess des Bürgertums. Man versammelte sich und trieb gemeinsam Dinge voran, die man für wichtig hielt. So entstand das Leipziger Bildermuseum. So entstand im Lauf der ersten Jahrzehnte auch die stadtgeschichtliche Sammlung, die bald eigene Räume brauchte und sie erst in der Burgstraße, später im Johannishospital fand, bevor sich die Leipziger ein neues Rathaus bauten und das alte – tja, das hätten sie beinah abgerissen. Und es waren auch die Mitglieder des Geschichtsvereins und die geschichtsbewussten Oberbürgermeister, die dann den Weg bereiteten dafür, das Alte Rathaus zum Dauersitz des Stadtgeschichtlichen Museums zu machen.
Bis heute lebt der Verein in enger Symbiose mit dem Stadtmuseum und seinen Mitarbeitern. Eine befruchtende Arbeit, wie das jährlich erscheinende „Jahrbuch der Leipziger Stadtgeschichte“ beweist, das ebenfalls im Sax Verlag erscheint, genauso wie die „Schriften des Leipziger Geschichtsvereins“, die meistens ein einzelnes Forschungsthema herausgreifen. Selbst Gustav Wustmann wäre neidisch geworden beim Blick auf so eine emsige und vor allem regelmäßige Publikationstätigkeit. Das braucht einen professionell arbeitenden Verlag genauso wie emsige Autoren, die ihre versprochenen Artikel fürs Jahrbuch tatsächlich pünktlich abliefern. Und das tun sie. Es sind – um es einmal vorsichtig zu beschreiben – alles Leute, die von ihrer Begeisterung nicht lassen können. Manche auf Spezialgebieten unterwegs, andere anerkannte Koryphäen der Leipziger und sächsischen Geschichte, die parallel auch an den großen Publikationen zur Stadtgeschichte mitarbeiten. Oder mitarbeiteten, um den früh verstorbenen Detlef Döring zu nennen.
Am Ende beklagt Thomas Krzenck ein wenig, wie schwer es ist, jüngere Leute für die Vereinsarbeit zu gewinnen. Ein durchaus berechtigtes Anliegen, denn die modernen Medien fressen nicht nur die Zeit der jungen Menschen, sie lenken auch ab, lassen die Aufmerksamkeit zerfasern. Und sie lassen das Interesse für die eigene Geschichte verblassen. Und das ist – auch das deutet er an – eine Gefahr. Denn die Seele einer Stadtgesellschaft ist auch das Wissen um unsere Geschichte. Es gibt noch keinen Ersatz für das, was das Bürgertum mit dem Vereinswesen entwickelt hat. Auch die viel beredeten „social media“ sind keins. Im Gegenteil, sie befeuern die Zerstreuung, die Wesens- und Interesselosigkeit.
Wirklich Gleichgesinnte trifft man nur dort, wo man sich wirklich als lebendiger Mensch begegnet, gegenübersteht und miteinander diskutiert.
Was sich auch immer wieder bis ins gesellschaftliche Leben der Stadt hinein auswirkt. Der „Tag der Stadtgeschichte“, der nun seit 2008 regelmäßig stattfindet, hat im Leipziger Geschichtsverein genauso seine Wurzeln wie es das Drängen auf eine richtige große Stadtgeschichte hatte, die zum 1.000-jährigen Jubiläum der Leipziger Ersterwähnung 2015 tatsächlich zu erscheinen begann. In dieser Dimension und der Vielzahl der beteiligten Autorinnen und Autoren ein echtes Novum.
Viele wichtige Persönlichkeiten aus der Geschichte des Vereins würdigt Krzenck mit kleinen Biografien über das ganze Buch verstreut. Viele Bilder aus dem Bestand der befreundeten Institutionen Stadtarchiv und Stadtgeschichtliches Museum bereichern den Text. Viele weitere Dokumente findet man im Anhang nebst einer komprimierten Zeitleiste.
Im Grunde endet das Buch mit Krzencks berechtigter Frage nach der Zukunft. Die 27 Jahre, in der jetzt der neue Geschichtsverein schon arbeitet (immer unter weiblicher Leitung, das lässt schon aufhorchen), sind ja angefüllt mit Arbeit und Erfolgen. Und trotzdem ist da die Sorge um das „Gedächtnis der Stadt“, das zwar mit dem Stadtgeschichtlichen Museum (das ja 1911 aus den Sammlungsbeständen des Vereins entstand) zu besichtigen ist (selbst das berühmte Stadtmodell von Johann Christoph Merzdorf hat der Verein gefunden und gerettet), aber die wirkliche „Verwurzelung in der Stadtgesellschaft“ schaffen erst Menschen, die sich wirklich für ihr Anliegen einsetzen. Und Stadtgeschichte ist ein Thema, das nicht endet. Im Gegenteil: Gerade die Jahrbücher zeigen, wie viele Themen am Wegesrand liegen und erst von aufmerksamen Forschern aufgehoben werden, die sich bücken und sagen: Das ist ja interessant …
Was sind schon 150 Jahre?
Für Leipzig sind es genau die 150 Jahre, in denen sich professionelle Forscher und „Laien“ tatsächlich erstmals ernsthaft mit der Geschichte dieser Stadt beschäftigt haben. Und die meisten von ihnen bis ins hohe Alter. Denn so etwas lässt einen nicht mehr los. Nur das Loslassen fällt (siehe Wustmann) manchmal etwas schwer.
Aber seit Frauen den Verein leiten, scheint das alles viel reibungsloser zu funktionieren.
Woran liegt das nur?
Aber auch das gehört zur Geschichtsforschung in eigener Sache, die man in diesem Buch komprimiert nachblättern kann, sehr klar gegliedert, auch mit etlichen Übersichtstabellen aufgelockert. Bis hin zur Aufzählung all der Exkursionen, die die Vereinsmitglieder schon in Frühzeiten unternahmen. Denn Geschichte ist nicht nur Archivstaub und Aktenwälzen, sondern immer auch Neugier auf real erlebbare Zeugen der Geschichte.
Deswegen gehen auch etliche Gedenktafeln in Leipzig auf das Konto des Vereins, die den Wanderern erklären, wer hier alles mal lebte, wirkte und schuf. So wird Stadt erst fassbar: Als ein Ort, an dem Menschen immerfort Geschichte schaffen. Und damit guten Stoff, um immer neue Geschichten zu erzählen.
Thomas Krzenck „… sich selbst zur Freude und Genugtuung, der Stadt Leipzig aber zur Ehre und zum Nutzen“,, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg, 16,80 Euro.
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