Für Freikäufer„Während der Lektüre erschrak ich“, schreibt Franziska Neubert. „Arthur Miller beschreibt präzise den ungeheuerlichen und gesellschaftlich akzeptierten Antisemitismus in der amerikanischen Mittelschicht in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in den USA.“ Franziska Neubert hat Millers Roman illustriert, der sich im Jahr 2017 so gegenwärtig liest, dass man jede Menge Grund hat zu erschrecken.

Die Büchergilde Gutenberg sucht sich immer wieder hochkarätige Illustratorinnen und Illustratoren, um solche wichtigen Bücher der Weltliteratur neu zu illustrieren. Nicht nur der Bücher wegen. Auch der Tatsache wegen, dass hochwertige Illustrationen fast völlig verschwunden sind aus der Buchwelt. Sie haben in der heutigen Schnell-und-billig-Produktion keinen Platz mehr. Und erst solche Titel der Büchergilde machen wieder sichtbar, was begabte Grafikerinnen können, wenn sie mal dürfen.

Franziska Neubert hat an der HGB in Leipzig studiert, wo genau diese praxisnahe Ausbildung für die Buchgrafik bis heute ein Schwerpunkt ist. Und ihre 20 Holzschnitte, die sie für Millers Roman hergestellt hat, zeigen, wie auch diese alte Technik wirkt, wenn sie sensibel eingesetzt wird mit Gefühl für Orte, Lichtverhältnisse, Stimmung. Denn um Stimmung geht es in Arthur Millers einzigem Roman, der 1945 erschien, von Anfang an. Menschenfeindlichkeit besteht zu 99 Prozent aus Stimmung und zu 1 Prozent aus Gewalt.

Deswegen geht es zwar auf den ersten Blick um den ganz und gar nicht versteckten Antisemitismus in den USA während des 2. Weltkriegs, der so erschreckend dem deutschen Antisemitismus ähnelt. Hier wie dort ist es ein Empfinden des vielgepriesenen Mittelstands, jener dicken, phantasielosen Schicht, die ihre Existenz immer als gefährdet begreift, weil sie immer abhängig ist – abhängig vom Goodwill anderer, meist Vorgesetzter. Man definiert sein Selbstverständnis mit lauter Angestelltentugenden: Ordnung, Fleiß, Angepasstheit, Pünktlichkeit, Dienstbereitschaft, Gesetzestreue.

Sie merken schon: das geht weit über Antisemitismus hinaus, diese zum Ismus gewordene Angst des Angepassten vor dem Fremden, Unverstandenen und Unangepassten. Eine Angst, die aus dem ewig krisenhaften Selbstverständnis dieses Mittelstands wächst. Denn alles, was ihn ausmacht, ist äußerlich. Er ist sich seiner selbst nie gewiss, denn er hat keine Sicherheit aus sich heraus. So frei wie einst Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit, der mit Stolz am Mikrofon sagte, dass er homosexuell sei und dass das gut so sei, ist er nicht. Das ist ihm unvorstellbar.

Für kleine Menschen wie Lawrence Newman, den Büroangestellten, den Miller zum Helden seiner Geschichte gemacht hat, ist nichts gut so. Er ist ein kleiner Mensch voller Unsicherheiten, Ängste und Zweifel. Und das weiß Miller beklemmend zu schildern, weil er regelrecht hineinschlüpft in diesen kleinen, zum Aufpasser bestimmten Mann, der immerfort Angst hat, etwas falsch zu machen, dem Vorgesetzen zu missfallen, ein falsches Bild abzugeben oder gar – das kommt im Lauf der Geschichte – für „einen von denen“ gehalten zu werden. Jene werden erst gar nicht genannt. Erst später wird Miller konkret. Aber der Kunstgriff ist es, der so wichtig ist, denn er zeigt, dass „die da“ immer nur eine Projektion sind. Es ist eigentlich egal, wer „die da“ sind: Juden, Homosexuelle, Grüne, Linke, Demokraten, Ausländer, Unangepasste aller Art … alles Schubkästen und Schablonen, in die der kleine Mann seine Vermutungen hineinprojiziert, Phantasiebilder, Verschwörungsgeschichten, Stereotype, die er irgendwo aufgeschnappt hat.

Wobei ja das Aufschnappen heute durch Facebook and friends systematisiert wurde: Der toughe Unternehmer Mark Zuckerberg aus dem Silicon Valley hat tatsächlich die gigantischste Gerüchteküche der Geschichte konstruiert. Und er scheint es bis heute nicht begriffen zu haben. Obwohl er Informatik und Psychologie studiert hat. Hat er in Psychologie gepennt? Oder hat er sich dort einfach nur die Rezepte gemerkt, wie man Menschen verführt, beeinflusst und an der Nase herumführt?

Sein „Netzwerk“ bildet fast brillant ab, wie man mit Gerüchten, Deutungsmustern und Steuerung von Meinungen das erzeugt, was Miller für die späten 1940er Jahre schildert: die Veränderungen von Stimmungslagen und Atmosphären in Filterblasen. Denn Filterblasen gab es auch damals schon. Gerade der vielgepriesene amerikanische Mittelstand war schon immer eine Gesellschaft in der Filterblase: Man las die gleichen Zeitungen, hörte die selben Radioprediger, selbst die Wohnsiedlungen mit den uniformen Eigenheimen erzählen von dieser Mentalität der Filterblase, der genormten Muster und dem Willen, unbedingt „dazugehören“ zu wollen. Man sah die Verwirklichung im Leben nicht darin, als Mensch mit sich selbst ins Reine zu kommen und durch Persönlichkeit Erfolg zu haben, sondern durch größtmögliche Anpassung. Was man dann Karriere nannte. Nach außen hin sichtbar durch den dämlichsten aller Sparkassen-Sprüche: Mein Haus, mein Auto, mein Boot, meine Frau … Das Bild prägt die Werbung bis heute.

Unsere Gesellschaft ist eine, die den angepassten Mittelstand zum Maß aller Politik erhoben hat. Und das hat Folgen. Denn diese Art Mensch lebt ein Leben lang unter Druck, hat Angst vor dem Chef, vor dem Kollegen, der den Arbeitsplatz streitig machen könnte, vor Veränderungen sowieso. Denn dieses Lebensmodell ist fragil gebaut. Mit Selbstbestimmung und Veränderung kann dieser kleine, fügsame Mensch nicht umgehen. Man darf sich zu Recht an Kafkas Romane erinnert fühlen. Denn Kafka schildert eigentlich nichts anderes als den Zustand dieses kleinen, von der Laune anderer völlig abhängigen Angestellten, der die Strukturen der Macht nicht durchschaut und auch nicht begreifen kann, womit er sich den Unwillen des hohen Gerichts eingehandelt hat.

Dieser kleine K. hat sich doch immer an alle Anweisungen gehalten. Und im realen Leben fordert er doch nichts anderes ständig ein, als dass sich alle jederzeit penibel an Recht und Ordnung zu halten haben. Wenn in Leipzigs Bürgerumfragen das Thema „Sicherheit“ immer wieder als die größte Sorge der Bürger erscheint, dann ist das der Hilferuf dieser kleinen, verschüchterten Angestellten, die meinen, ein Leben in Sicherheit verdient zu haben, wenn sie sich nur immer anständig verhalten haben.

Aber neben die Bürgerumfragen gehört nun einmal auch der „Sachsen-Monitor“. Und der zeigt, dass eben diese kleinen, braven Leute, die so penetrant Sicherheit und Ordnung einfordern, selber voller Aggression stecken. Nur dass sich diese Aggressionen nun weniger gegen die nicht mehr wirklich greifbaren Juden richten, sondern das Fremde und Unfassbare in Ausländer, „Extremisten“ und Moslems hineininterpretieren.

Millers kleiner Held demonstriert es regelrecht, wie er sich fürchtet davor, anderen Menschen tatsächlich nahe zu kommen. In seinem Kopf funktionieren alle die unterschwelligen Vorurteile, die er irgendwie aufgeschnappt hat, die latent da sind, auch wenn in seiner Firma nicht offiziell darüber gesprochen wird. Das funktioniert anders – mit Andeutungen, Unterstellungen, kleinen Prüfungen, mit denen die wirklich hartgesottenen Menschenfeinde um sich herum die Stimmung beeinflussen. Denn sie kennen diese Scheu nicht. Sie wissen, wie fügsam gerade die Angepassten und Braven reagieren, wenn man ihnen ein Mohrrübchen hinhält: Nicht wahr, du gehörst doch zu uns?!

So werden die Mitläufer gemacht, die „schweigende Mehrheit“. Alle diese Leute, die sich nach nichts mehr sehnen, als „dazuzugehören“. Egal wozu. So wie Lawrence, der sich doch in seiner Straße nur wie zu Hause fühlen will, akzeptiert und jederzeit freundlich begrüßt von „all den netten Leuten da“. Einer homogenen Gesellschaft, in der alle dieselben Wertmaßstäbe haben, dieselben Vorstellungen vom „richtigen Leben“ und davon, wer dazugehört – und wer nicht.

Und er hätte schon gern mitgetan, als es beginnt, sich gegen Finkelstein, den Zeitungsverkäufer an der Ecke, zusammenzubrauen. Aber da weiß man schon, dass Newman eigentlich nicht das Zeug dazu hat. Dass er – ganz ähnlich wie Kafkas K. – voller Selbstzweifel ist, seiner eigenen Rolle unsicher, obwohl er weiß, dass er eigentlich die „richtige“ Geburtsurkunde hat. Aber die Kehrseite all der Mutmaßungen ist natürlich immer auch, dass sie sich auch gegen die richten, die so gern dazugehören möchten. Es ist das beliebteste Rezept aller Diktaturen und Geheimdienste, solche Zweifel zu schüren, die auch die, die „dazugehören“ in Besorgnis stürzt, dass sie vielleicht doch schon ein bisschen abweichen, ein bisschen anders sind, ein bisschen so wie „die da“.

Das macht Proselyten, Mitläufer und Manipulierbare – in großer Zahl. Deswegen sind die Gerüchteküchen so effektiv. Sie sorgen dafür, dass sich das rassistische Gemunkel verstärkt und breitmacht – samt der induzierten Erwartung, es brauche jetzt eine starke Gemeinschaft, eine straffe Nation, eine starke Hand. Es sind die Schwachen und Unsicheren, die sich nach der Diktatur sehnen. Und die alle ihre Hemmungen abstellen, wenn es um „Aktion“ geht.

Was eigentlich die größte Angst ist, die man mit diesem kleinen, auch in seiner Liebe so unsicheren Newman aussteht: dass er tatsächlich immer weitertreibt und am Ende tatsächlich mitmacht in der „Christlichen Front“ und zum Täter wird. Scheinbar steht die Alternative genau so, wie es seine geliebte Gertrud sagt: Entweder macht man mit und biedert sich der „Front“ an – oder man zieht weg.

Man ahnt die moderne Panik der Eigenheimbesitzer. Haus verkaufen und wegziehen oder sich den Großmäulern anschließen, die im „homogenen“ Kiez Stimmung machen? Ist das die Frage?

Nur: Dieser Lawrence hat längst selbst erlebt, wie es sich anfühlt, als einer von den anderen betrachtet zu werden. Die Brille ist Schuld. Sie gab seinem Aussehen so etwas von „denen da“. Und wer seine Mitmenschen kennt, der weiß, wie viele sich nur nach Äußerlichkeiten richten, wie schnell sie ihr Urteil fertig haben. Und wie sich ihr Verhalten dann auf einmal ändert – auf einmal reden sie nicht mehr mit einem, reagieren distanziert, wechseln die Straßenseite. Dann tauchen die ersten Schmierereien auf, die ersten entleerten Mülleimer auf dem Rasen … Und niemand hat etwas gesehen oder bemerkt.

So beginnt das.

Und wie endet es? Für Lawrence ein bisschen anders als befürchtet. Man staunt. Aber man hat mit ihm erlebt, wie es sich anfühlt, wenn sich solche Entwicklungen zusammenbrauen und Misstrauen und Mutmaßen in einer Gesellschaft Fuß fassen, wenn die Prediger des Zorns immer mehr Gehör finden und immer mehr Menschen sich wegducken und die Straßen denen überlassen, die tatsächlich gewalttätig werden.

Antisemitismus ist nur eine Spielart dieser gefühligen Ausgrenzung. Das weiß man nach dem Lesen dieser Geschichte, die seit 1955 auch auf Deutsch vorliegt. Und die so gegenwärtig wirkt wie Kafkas Gregor Samsa in „Die Verwandlung“. Auch so eine Geschichte, deren Bedeutung man besser erkennt, wenn man weiß, wie Lawrence Newman sich fühlt, als er merkt, dass er für „einen von denen“ gehalten wird und nichts daran ändern kann.

Arthur Miller Fokus, mit Holzschnitten von Franziska Neubert, Edition Büchergilde, Frankfurt 2017, 28 Euro.

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