Für FreikäuferDie Zeichnungen, die Jaques Callot 1633 anfertigte und von denen eine den Umschlag von Wilsons „Der Dreißigjährige Krieg“ schmückt, hätte Callot so auch 40 Jahre vorher in den habsburgischen Kriegen mit den Türken, später den Uskoken, Ungarn, Siebenbürgern oder Böhmen zeichnen können. Tatsächlich hat er sie gezeichnet, als die französischen Truppen in Lothringen einfielen, das damals noch zum Heiligen Römischen Reich gehörte.

Richelieu war es, der mit dem Einfall in Lothringen dessen Einverleibung ins französische Staatsgebiet erzwingen wollte. Diesen Konflikt trennen die meisten Historiker meistens von den Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges, genauso wie sie die Ereignisse in der Schweiz, in Norditalien und auch den Spanisch-Niederländischen Krieg davon trennen, obwohl alles mehr oder weniger gleichzeitig geschah.

Und es geschah nicht gleichzeitig, weil die Leute auf einmal alle meinten, um ihre Religion kämpfen zu müssen. Das war nur das Mäntelchen, das jeder Feldherr mit seiner Propaganda in den Wind hielt.

Die Kapitel, in denen Wilson die beharrlichen Versuche der Habsburger schildert, ihr Hausland wieder komplett zu rekatholisieren, lesen sich wie die größte Dummheit der Weltgeschichte. Und sie haben in ihrer Sturheit auch deutschlandweit genau so gewirkt. Denn eine Auswirkung der Reformation war eben doch, dass nicht nur Fürsten zunehmend die Überzeugung gewannen, dass Religion eine Sache der persönlichen Wahl war und Menschen ihren Glauben so leben durften, wie ihnen das plausibel erschien. Ohne dass es Luther wahrscheinlich wollte, hatte er den Anstoß gegeben zur Ausbildung dessen, was wir heute Individualität nennen.

Dumm nur: Die ganze Zeit von 1555 bis 1618 wird in den Geschichtsbüchern meistens weggelassen. Die Schüler werden in den Dreißigjährigen Krieg hineingekippt ohne die simpelsten Grundkenntnisse dessen, was sich da wirtschaftlich in ganz Europa verändert hatte. Die Niederländer bezogen ihren Stolz ja nicht daraus, dass sie brave feudale Untertanen waren, sondern weil sie sich in dieser Zeit längst zur ersten kapitalistischen Marktwirtschaft Europas entwickelt hatten. Obwohl sie den teuren und kräftezehrenden Krieg gegen die Spanier führten, konnten sie gleichzeitig mit der Westindischen Companie den Portugiesen ihr Kolonialreich in Asien abjagen und sie mit der Westindischen Companie in Amerika unter Druck bringen.

Die Engländer brauchten etwas länger. Der Englische Bürgerkrieg begann aber 1642 noch mitten im Dreißigjährigen Krieg. Was dazu führte, dass die Engländer sich zwangsläufig aus den Händeln des Dreißigjährigen Krieges zurückzogen, wo sie sowieso unglücklich agiert hatten. Das erinnert irgendwie auch an die Gegenwart: Über das, was da im Herzen Europas geschah, waren sie meist herzlich schlecht informiert und reagierten meist auch völlig unsinnig.

Aber selbst an der Militärentwicklung zeigt Wilson, wie die neuen Produktionsmethoden sich mit neuen Militärtechnologien ergänzten. Man hat es nicht mehr mit den feudalen Heeren zu tun, in denen Ritter Gefolgsdienste leisteten und ihrem Fürsten entsprechend Fußvolk zu stellen hatten. In Italien hatte sich längst die Form des modernen Berufssoldatenheeres entwickelt. Denn für die neuen Waffen (vor allem die Schusswaffen) brauchte man Profis, die dafür ausgebildet waren und mitten im Gefecht auch weiter funktionierten, wenn die frisch ausgehobenen Milizen schon in Panik das Schlachtfeld räumten.

Und diese Heere mussten bezahlt werden. Wilson nennt nicht nur zu jedem Feldzug und jeder Schlacht die beteiligten Heeresmassen, sondern auch die Kosten für die Feldherren. Kosten, die z. B. den Habsburgern schon 1618 über den Kopf gewachsen waren. Eigentlich war das alte Feudalsystem gar nicht in der Lage, solche (für die Zeit) riesigen Heere von 20.000 oder gar 40.000 Mann auch nur einen Sommer lang zu bezahlen. Ein Problem, das sämtliche beteiligten Fürsten, Könige und Kaiser hatten. Spanien erlebte in dieser Zeit mehrfach die staatliche Insolvenz. Trotz der riesigen Silberimporte aus Amerika. Dänemark musste aus dem Krieg aussteigen, als die königliche Kasse leer war.

Und die Habsburger gingen früh dazu über, ihren Generälen die volle Gewalt über die Finanzierung ihrer Heere in die Hand zu geben. Wallenstein ist nur das berühmteste Beispiel dieser Form des begabten Söldnerführers. Es entwickelte sich ein regelrechtes Kontributionssystem, in dem die von den Heeren besetzten Gebiete auch für deren Unterhalt aufkommen mussten. Und die „protestantische“ Seite reagierte genauso. Den Grafen Peter Ernst von Mansfeld schildert Wilson als exemplarisches Beispiel eines solchen Condottiere, der teilweise auf eigene Faust Krieg zu führen schien, um die Existenz seines Heeres zu sichern. Oft ist nicht einmal klar, für wen er noch kämpfte. Denn ein geschlossenes „protestantisches“ Lager gab es nicht.

Schon im Jülich-Klevischen Erbfolgestreit 1608 bis 1614 hatten sich protestantische Fürsten um diese kleinen Besitztümer im Westen des Reiches geprügelt. Und spätestens als sich der pfälzische Kurfürst Friedrich V. von den Böhmen zum König krönen ließ, war das Schisma da, wurde auch deutlich, dass es in allen kommenden Konflikten immer auch um die Frage ging: Ist dieses Reich in dieser Form noch zu bewahren oder fliegt es auseinander, weil es von nationalen Einzelinteressen zersprengt wird?

Oder gar zur Beute äußerer Mächte wurde, die ihre Chance gekommen sahen, sich Filetstücke unter den Nagel zu reißen (Dänemark, Frankreich, Schweden).

Es war also eindeutig auch schon ein Vorbote kommender nationalstaatlicher Kriege. Und genau diese Dimension verhinderte, dass es schon 1630 oder 1632 zum Ende des Krieges kam, vielleicht mit bitteren Einbußen für die „protestantische“ Seite, aber mit der Wiederherstellung eines Friedens, der dem Augsburger Frieden geähnelt hätte (und der schon in vielem den Frieden von 1648 vorwegnahm).

Aber erst 1630 waren die Schweden so richtig eingestiegen und hatten ihre Expansionsgelüste als Rettung der protestantischen Seite verkauft (obwohl gerade die protestantischen Fürsten von Brandenburg und Sachsen den „schwedischen Löwen“ lieber jenseits der Ostsee gesehen hätten). Es ist also auch in dieser Dimension schon ein moderner, kapitalistischer Krieg, in dem das Kreditwesen blühte und ganz simple wirtschaftliche Einflusssphären (die Ostsee) oder logistische Brückenköpfe (die Nord- und Ostseehäfen) eine Rolle spielten.

Die grausamen Bilder des Krieges verbergen die Tatsache, dass viele Fürsten und Condottieri tatsächlich schon so handelten wie moderne Unternehmer (gerade Wallenstein) oder moderne Nationalstaaten, die auch bereit sind, Krieg zu führen um Rohstoffe, Einflusssphären, wirtschaftlich reiche Regionen (Lothringen, Flandern, Böhmen). Es ergibt sich also an der Oberfläche der Eindruck, es noch mit einem aus dem Ruder gelaufenen feudalen Konflikt zu tun zu haben, in dem es scheinbar um die Interpretation von Kaisertum, Glaubensfreiheit und „deutscher Libertät“ ging, in Wirklichkeit aber ging es schon um handfeste nationale Wirtschaftsinteressen, die die nächsten Jahrhunderte bestimmen würden.

Denn auch das wird ja deutlich, wenn Wilson ausführlich auf die spanische Zwickmühle zu sprechen kommt. Denn Spanien war zu dieser Zeit die mächtigste global agierende Macht. Und es versuchte, diese Macht mit allen Mitteln gegen die neuen Konkurrenten zu verteidigen – die Engländer, die Niederländer, die Franzosen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg lag diese Macht im Grunde in Scherben.

Den Westfälischen Frieden würdigt Wilson als Grundlage moderner, diplomatischer Friedenslösungen, die es ermöglichen, dass Akteure mit völlig unterschiedlicher Machtfülle auf Augenhöhe verhandeln und dabei echte diplomatische Kompromisse finden.

Aber gerade der Schutzmachtstatus, der Frankreich und Schweden dabei zufiel, macht deutlich, dass man es auch hier schon mit der modernen Variante von Hegemonialmächten zu tun hat. Sie garantieren ein Gleichgewicht der Interessen, weil sie so ihren Einfluss auf die Streithähne sichern können. Auch das ist erstaunlich gegenwärtig. Ist der Westfälische Frieden also wirklich das Vorbild, das Wilson beschreibt? Gerade weil er so gern mit dem Wiener Kongress verglichen wird, der ja bekanntlich genauso europäische Interessenssphären absteckte.

Man hätte schon noch gern erfahren, woher diese immer wieder neu aus dem Boden gestampften Armeen eigentlich ihre Waffen, Pferde und Uniformen bezogen. Denn viel mehr als über die Rolle der thüringischen Büchsenmacher erfährt man leider nicht. Obwohl man eine Ahnung bekommt davon, was für militärische Industrien damals (mit den noch rudimentären Werkstätten) entstanden sein müssen.

Unser heutiges Bild von diesem Krieg ist durch Bücher wie „Der abenteuerliche Simplizissimus“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und durch die beeindruckende (Klage-)Lyrik des Barock geprägt. Aber gerade dadurch wird er zu einem scheinbar rein religiösen Phänomen, was er eigentlich nicht war. Zu einer Art Fatum oder gar unfassbarer Tragödie. Was er für die betroffenen Menschen ganz bestimmt war.

Aber der Krieg zeigt auch, wie stark von der Propaganda genutzte Frames wirken, wie sie für die Menschen zu Interpretationsmustern werden, die geradezu irrationale Verhaltensweisen mit sich bringen. Bis hinein in die Interpretation der Historiker, die hier eine Tragödie ausmalen, als wären Menschen tatsächlich nur Getriebene undurchschaubarer Mächte oder gar religiöser Mystifikationen.

Da übersieht man dann gern, wie sich in diesem blutigen 17. Jahrhundert ein ganzes neues Zeitalter emanzipiert und die Weichen gestellt werden für eine Zeit, in der wirtschaftliche Interessen bestimmen, welche Kriege wo für welchen Preis geführt werden. Die Söldner, die damals zum Einsatz kamen, fühlten sich noch keiner Nation zugehörig. Aber das Zeitalter der Nationen kündigte sich an. Und zwar blutig, genauso blutig, wie künftig alle nationalen Kriege werden sollten, in denen dann freilich nicht mehr bezahlte Söldner verheizt wurden, sondern die viel geliebten „Landeskinder“. Denn mit nationalem Furor lassen sich die gutgläubigen Völker noch viel leichter in Kriege treiben als mit religiöser Aufwiegelei.

Nur: Wie man Kriege verhindert, das hat man auch trotz Osnabrück und Münster nicht wirklich gelernt. Warum sollte man auch, wenn Krieg einzig eine Frage des Gewinnes ist und die Kriegsmaschinerie selbst hungrig auf Umsatz und Profite ist?

Es ist genau das, was die Dichter und Zeichner dieser blutigen Zeit nicht wirklich greifen konnten: Wie Menschen für eine unbegreifliche Sache zu Kanonenfutter und Schlachtmaterial werden konnten. Und sich das auch gefallen ließen wie die Schafe. Und man wird das komische Gefühl nicht los, dass sich daran überhaupt nichts geändert hat. Dass sich die Menschen für Bodenschätze und Absatzmärkte nach wie vor kritiklos abschlachten lassen, wenn nur Heilige Worte auf dem Kriegspaket kleben: Kampf gegen den Terrorismus, Frieden, Freiheit, Demokratie, Koalition der Willigen usw. Obwohl es immer wieder nur um blanke Profitinteressen geht und die unheimliche Macht des Großen Geldes, die man nicht sieht, wenn vorne mit heiligen Sprechblasen eine Weihrauchkulisse geschaffen wird.

Peter Wilson Der Dreißigjährige Krieg, Theiss Verlag, WBG, Darmstadt 2017, 49,95 Euro.

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